Theater der Zeit

Vorwort

von Sandra Umathum

Erschienen in: Recherchen 28: Plädoyer für die unglückliche Liebe – Texte über Paradoxien des Theaters 1980-2005 (01/2005)

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Ich denke von meinen täglichen Verrichtungen her.
Salomo Maimon, 1789

Du sollst zu deinen täglichen Verrichtungen hin denken.
Heiner Müller, 1995

Dieses Buch war lange überfällig. Die Idee dazu ist mindestens so alt wie das Ende der Helmut Kohl-Regierung. Im Frühjahr und Sommer 1998, als Christoph Schlingensief mit seiner im Berliner Prater gegründeten Partei Chance 2000 in den deutschen Bundestagswahlkampf zog, war Carl Hegemann dessen Dramaturg und Kanzlerkandidatenberater. In der Regel hatte er einen Stapel Texte unterm Arm, sein Handy in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand. Er war ständig auf dem Sprung. Und noch bevor die meisten anderen an der Parteiarbeit Beteiligten überhaupt in Worte fassen konnten, was da alles ablief, setzte Carl bereits zu den ersten Theoretisierungsversuchen an. Nicht selten kam er ins Büro gestürmt, legte ein Buch von Tom Peters, Niklas Luhmann oder Erving Goffman auf den Tisch und sagte: »Das müsst ihr unbedingt lesen. Da steht alles drin!« Dass mit Hilfe der Theorie die Praxis einigermaßen nachvollziehbar wurde und sich gleichzeitig durch die Praxis der Blick auf die Theorie zu klären begann, war auch das Verdienst von Carl. Damals dachte ich, dass es gut wäre, seine Essays, Vorträge und Interviews in einer Publikation versammelt zu haben. Es war schließlich nicht immer ganz einfach, seinen Schnelldurchläufen durch die Geschichte der Philosophie und Soziologie zu folgen. Er war ja ständig auf dem Sprung. Das hat sich bis heute nicht geändert. Deshalb freut es mich umso mehr, dass es dieses Buch nun endlich gibt.

Zeit seines Bestehens ist das Theater der Ort und die Kunstform, an dem und in der Widersinnigkeiten und Ausweglosigkeiten des Lebens exemplarisch durchgespielt werden. Und mindestens genauso lang gehört es seinerseits zu den Erscheinungen, die nicht nur auf widersinnigen Strukturen und unüberwindlichen Aporien beruhen, sondern die gar nicht anders können, als diese fortwährend hervorzubringen. Schuld daran ist das Wesen des Theaters selbst, das der britische Theatertheoretiker Richard Southern vor ziemlich genau einem halben Jahrhundert wie folgt beschrieben hat: Wenn man das Theater - wie Peer Gynt die Zwiebel - nimmt und seine Hinzufügungen (Szenerie, Bühne, Kostüme, Maske etc.) eine nach der anderen abschält, um an dessen eigentlichen Kern zu gelangen, dann fallen am Ende zwei einzelne Stücke auseinander, in deren Innern sich nichts befindet. Diese beiden Stücke sind der Schauspieler und der Zuschauer. Wenn man sie auseinander nimmt, bleibt nichts übrig. Dann gibt es kein Theater mehr.

Die Begegnung von Schauspielern und Zuschauern - die Hans-Thies Lehmann einmal etwas pathetisch als die »gemeinsam verbrachte und gemeinsam verbrauchte Lebenszeit in der gemeinsam geatmeten Luft [eines] Raums« bezeichnet hat - ist die grundlegende Bedingung allen Theaters und zugleich das Kriterium, das es von allen anderen Künsten ontologisch unterscheidet. Diese unhintergehbare Liaison zwischen denen, die spielen, und denen, die ihnen dabei zusehen, macht die Besonderheit des Theaters aus. Leider sorgt sie ebenfalls dafür, dass das Theater mitunter zu einer besonders Nerv tötenden Angelegenheit werden kann. Und zwar für alle Beteiligten. Vielleicht hat es ja mit seinen paradoxen Strukturen zu tun, dass das Theater wie kaum eine andere Kunstform die Geister scheidet. Dem Verhältnis zwischen Schauspielern und Zuschauern jedenfalls, ganz gleich, wie es sich gestaltet, sind diese scheinbar nicht auszutreiben. Entweder wird (noch immer), wie in den Hochzeiten der Illusionsbühne im bürgerlichen Zeitalter, so gespielt, »als ob sich der Vorhang nie gehoben hätte« (Denis Diderot), und bei vollem Bewusstsein seiner Anwesenheit so getan, als ob das Publikum gar nicht da wäre. Oder es wird so gespielt, als werde überhaupt nicht mehr gespielt und als sei nun ausgerechnet das Theater der Ort, an dem widerlegt werden müsse, dass ohnehin alle ständig Theater spielen. Wie man es dreht und wendet: Paradoxien sind, wie überall, auch im Theater allgegenwärtig. Das muss man aushalten. Oder so tun, als gebe es sie nicht. Allerdings wäre man dann schon wieder beim nächsten Paradox angelangt.

Carl Hegemann besitzt keine Vorliebe für Paradoxien. Dass sie sich für das konsequente Denken aber als unvermeidbar erweisen, hat er schon früh akzeptiert. Bereits während seines Philosophie- und Soziologiestudiums haben sie ihn umgetrieben - die Paradoxien der Subjektivität, des Glaubens oder des Kapitalismus. In den nunmehr über 25 Jahren, die er als Dramaturg in Frankfurt/M., Freiburg, Bochum oder zuletzt in Berlin verbracht und in denen er an Inszenierungen von einigen der wichtigsten deutschsprachigen Regisseure (u.a. von Einar Schleef, Frank Castorf, Christoph Schlingensief, Jürgen Kruse, Dimiter Gotscheff, René Pollesch) mitgewirkt hat, war das Theater für ihn immer zugleich Ort und Gegenstand der Reflexion und Auseinandersetzung. Als Institution, in der Kunst ausschließlich um ihrer selbst willen gemacht wird, hat es Carl Hegemann nie interessiert. Für ihn gewinnt das Theater seine Bedeutung erst im Kontext sozialer, politischer und ökonomischer Prozesse und Praktiken sowie vor dem Horizont zeitgenössischer medientechnologischer Umbrüche. Dass sein Name im Feuilleton gern mit Attributen, wie »theoretischer Geist« oder »Diskursstaubsauger« (wobei der Gedankenstrich bei letzterem wahlweise nach der zweiten oder dritten Silbe gesetzt werden kann) assoziiert wird, hat vor allem mit der für ihn selbstverständlichen Notwendigkeit zu tun, die wechselseitigen Bedingungen und Wirkungen von Theater und Gesellschaft auszuloten und seine theoretischen Überlegungen in die Praxis sowie umgekehrt seine praktischen Erfahrungen in die Theorie zu übersetzen.

Carl Hegemann hat also nie einfach nur am Theater gearbeitet, sondern er hat dort immer auch Feldforschung betrieben. In vielen der von ihm meist unter Zeitdruck notierten Ergebnissen und Zwischenergebnissen werden dabei (teilweise schon Mitte der achtziger Jahre) Fragestellungen diskutiert, die im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs über das Theater zum festen Repertoire gehören. Sie sind in diesem Buch zu finden, gemeinsam mit den von ihm formulierten Forschungsdesideraten, die manchmal sogar zu den programmatischen Leitlinien der jeweiligen Theater avancierten. Die vorliegende Textsammlung möchte nicht nur Carl Hegemanns Weg durch die verschiedenen Stationen seiner bisherigen Zeit am Theater nachzeichnen, sondern des Weiteren einen Einblick in sein Arbeiten und Denken ermöglichen. Deshalb wurden in diese Publikation neben Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln (zum größten Teil Auftragsarbeiten), ebenfalls Vorträge und Interviews aufgenommen, die er zu bestimmten Anlässen gehalten bzw. gegeben hat. Außerdem fiel die Entscheidung zugunsten der chronologischen Abfolge der Texte. Dass hin und wieder Redundanzen auftreten, ließ sich nicht vermeiden. Es liegt daran, dass keiner der Texte jemals geschrieben wurde, um mit den anderen in einem Buch zu erscheinen. Umso überraschender ist die Kohärenz, die bei der Anordnung all dieser Gelegenheitsarbeiten zutage getreten ist. Die Denkmodelle, die das Material strukturieren und in Beziehung setzen, bleiben immer sichtbar. Die Texte und die sich ergebenden Paradoxien sind alles andere als beliebig. Sie bilden Varianten eines Musters, das sich gegenüber den äußerst heterogenen Fragestellungen produktiv verhält und sich am Ende sogar als so etwas wie die Antizipation einer Theorie des Theaters als Theorie der (Theater-)Gesellschaft ausweist.

1979 hat Carl Hegemann im Rahmen des Volkshochschulkurses »Märchen für Erwachsene«, den er in Eschborn/Taunus nach Abschluss seiner Promotion in Philosophie leitete, selbst ein kleines Märchen geschrieben. Es handelt von Fränzchen und dessen grünem Filzstift, der die merkwürdige Eigenschaft besitzt, sich scheinbar selbstständig zu machen. Deshalb ist er häufig nicht mehr dort zu finden, wo ihn Fränzchen hingelegt und zum letzten Mal gesehen zu haben glaubt. Noch merkwürdiger allerdings ist, dass der Filzstift nach einiger Zeit oft genau dort wieder auftaucht, wo Fränzchen ihn zuvor vergeblich gesucht hat. Die Dinge, das ist eine seiner ersten wichtigen Lebenserfahrungen, können bisweilen ein undurchschaubares Eigenleben führen und nach Belieben nicht nur verschwinden, sondern auch ganz unerwartet zurückkehren.

Die Beziehung zwischen Fränzchen und seinem grünen Filzstift ist ungefähr die gleiche, die Carl zu seinen Texten ha t. Auch sie sind oft nicht dort, wo sie sein sollten. Vielleicht liegt es nur daran, dass Carl so wenig (von äußerer) Ordnung hält. Vielleicht liegt es eben aber auch an den Texten selbst, die sich möglicherweise - wie schon Fränzchen die An- und Abwesenheiten seines grünen Filzstifts erklärte - auf einen Ausflug begeben, wenn sie gerade nicht gebraucht werden, und sich erst verspätet wieder an ihrem Platz einfinden. In diesem Sinne könnte man dieses Buch auch als Strategie begreifen, dem Animismus ein Schnippchen zu schlagen. Zumindest wird es in Zukunft einige Sucherei ersparen. Mit und ohne Glauben an den Animismus hat es also eine ganze Weile gedauert, bis diese Textsammlung ihre endgültige Form angenommen hat. Einige Texte sind bis heute nicht aufgetaucht. Aber Vollständigkeit konnte ohnehin nicht das Ziel sein, bei den Textmengen, die Carl produziert hat.

Das eigentliche Thema Carl Hegemanns ist wohl die Sensibilisierung für die außermoralische Bedeutung der Lüge für unser Leben. Und auch dieses Vorwort ist letztlich nichts anderes als der Versuch, mit Hilfe von Lügen die Wahrheit zu sagen. Carl ist nämlich in erster Linie eine Nervensäge, alles versteht er in seinen Diskurs einzupassen. Bevor man sich die Ursachen und Konsequenzen der eigenen (vollzogenen und/oder unterlassenen) Handlungen auch nur im Ansatz selbst erklären kann, hat er schon zugeschlagen. Mit den Konzepten einer Welt, die er sich gemacht hat, wie sie ihm gefällt. Haus, Äffchen und Pferd, 3x3 macht 6 und 4 macht 9. Und es scheint immer aufzugehen. Das nervt am meisten. Eigentlich hat man keine Chance. Das muss man aushalten. Oder es ignorieren. Aber damit ist man schon in die nächste Falle getappt. Gibt es wirklich kein Mauseloch, durch das man sich aus der Verzweiflung retten kann?

Sandra Umathum, 7. Oktober 2005

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