Magazin
Schreiben statt Reden
Das vielschichtige Filmporträt „Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ kommt der Autorin erstaunlich nah
von Claus Löser
Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)
Assoziationen: Akteure

Als Teenagerin war Elfriede Jelinek ohne Unterlass in Wien unterwegs. Während ihre Schulkameradinnen (Freundinnen gab es aus Zeitgründen keine) sich in den Straßencafés zum Eis trafen und tratschten, hastete sie zwischen Tanz-, Sprach- und Turnkursen hin und her. Sie wechselte von Klavier- zu Orgelstunden und wieder zurück, sie fuhr, bepackt mit Streich- und Blasinstrumentenkoffern, von Bezirk zu Bezirk. Dem unerschöpflichen Ehrgeiz der Mutter war sie hilflos ausgeliefert. Die kleine Elfriede sollte allen in allem überlegen sein, sollte etwas ganz Besonderes werden; und dadurch vielleicht unantastbar. Der Heranwachsenden erschien allein die Sprache noch als Fluchtpunkt. Von vereinzelten Rezitationen zum Muttertag abgesehen, war dies ein relativ unangetasteter musischer Bereich geblieben. Deshalb suchte und fand sie hier Zuflucht. Allein dank der Sprache vermochte sie aus dem Gefängnis des Elternhauses auszubrechen, aus der herrischen Obsession der Mutter („Sie war völlig steinern...“) und der bedrückenden Abwesenheit des Vaters.
Der aktuelle Dokumentarfilm über Elfriede Jelinek ist im Grunde gar kein Dokumentarfilm – jedenfalls keiner, wie er täglich über Bildschirme und Kinoleinwände flimmert. Regisseurin Claudia Müller kommt ganz ohne vertrauliche Gesprächssituationen aus, auch ohne Expertenstimmen, Off-Kommentare oder Zwischentitel. Sogar auf die sogenannten Bauchbinden, die textlich eine Orientierungshilfe in der ungeheuren Materialfülle bieten würden, kann sie verzichten. Ihr Film ist vielmehr eine klug montierte Collage (Schnitt: Mechthild Barth), eine Kompilation, also ein Film aus bereits existierenden Filmen. Und dennoch wird damit ein hohes Maß an Nähe erreicht, schließt man als Publikum verblüffend dicht auf zu dieser Frau, die bekanntermaßen schon seit vielen Jahren keine Interviews mehr zulässt. Wie es scheint, vermochte die Regisseurin aus der Not der Abwesenheit ihrer „Heldin“ eine Tugend zu machen.
Der Film zieht seine Kraft aus unaufdringlichen Zirkelschlüssen. So besteht ein Kunstgriff in der Setzung von mehreren, sich überlagernden zeitlichen und motivischen Rahmungen. Der Versuch einer sinnhaften, streng chronologisch aufgebauten „Erzählung“ wird gar nicht erst unternommen. Zwar kommen einschneidende Topoi – wie Kindheit, Sprachfindung, Künstlerfreundschaften, beruflicher Durchbruch usw. – ebenso vor wie der berühmteste Höhepunkt ihrer „Laufbahn“: die Verleihung des Nobelpreises im Jahr 2004. Doch diese prominenten, auch anderweitig nachschlagbaren Eckpunkte werden nicht als sinnfälliges Nacheinander rekapituliert, sondern eher assoziativ angespielt. Die Raffinesse dieses Films besteht vor allem in seinem Understatement: im Vermögen, für die Zuschauer einen weiten Resonanzraum zu öffnen. Dabei wird nie der Eindruck erweckt, eine Folgerichtigkeit mit explizit ausformulierter Botschaft vermitteln zu wollen. Am Nobelpreis ist dennoch kein Vorbeikommen. Er bildet eine der unaufdringlichen Klammern innerhalb der filmischen Erzählung. Elfriede Jelinek verweigerte sich ja nicht nur der Zeremonie in Stockholm. Sie nahm die Ehrung auch zum Anlass, um sich endgültig (?) aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. In einem ihrer letzten Statements vor laufender Kamera bekannte sie: „Man sollte nicht berühmt sein. … Jetzt erkläre ich nichts mehr. Wenn ich etwas sagen will, schreibe ich.“
Bis zum Jahr 2012 hatte die Autorin vor Kameras und Mikrofonen sehr viel von sich gegeben. Ihr heterogenes Werk wurde von ihr selbst in zahlreichen Interviews kommentiert, zu wichtigen innenpolitischen Zäsuren Österreichs hat sie sich angstlos und ausführlich geäußert – und wurde dafür vom konservativen Flügel ihrer Heimat immer wieder als „Nestbeschmutzerin“ beschimpft. All dies kommt im Film vor, wiederum fast beiläufig: vom Ekel vor der Fremdenverkehrs-Industrie in der Steiermark bis hin zur katholischen, durch die eigene Mutter verkörperten Bigotterie. Latent schwingt auch immer wieder die Leugnung des Holocaust durch das konservative Establishment mit, personifiziert durch Waldheim und Haider. Jelineks jüdischer Vater entfloh davor in den Wahnsinn. Sie selbst verweigerte sich dem Konsens des Schweigens und Ignorierens, wurde dafür im Umkehrschluss von ihren populistischen Gegnern zum nationalen Feindbild schlechthin abgestempelt.
Trotz bitterer Momente zieht dieser Film keine resignativen Schlüsse, ganz im Gegenteil. Es ist zuletzt die Kunst, die zum Triumph über Repression und Häme ansetzt. //