Theater der Zeit

Was will das Forschungsprojekt?

Eine Einleitung

von Barbara Beyer

Erschienen in: Recherchen 113: Die Zukunft der Oper – Zwischen Hermeneutik und Performativität (06/2014)

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Das Forschungsprojekt setzt bei der Analyse eines heute dominierenden Inszenierungsstils in der Oper an. Es geht um das Gros der Inszenierungen im deutschsprachigen Raum, für die ich den gängigen Begriff des Regietheaters verwenden möchte – auch der Begriff des Regisseurs-Theaters wird heute zuweilen benutzt. Die Gemeinsamkeiten der nach außen sich unterschiedlich gebenden Inszenierungsstile legen diese Kategorisierung nahe. Ausführlich wird hierüber weiter unten die Rede sein. Die Frage ist, ob das Regietheater in seiner heutigen Form nach wie vor ein adäquater Ausdruck unserer Zeit ist. Das Regietheater, das in den siebziger Jahren mit einer radikalen Neuerung im Umgang mit den Opernpartituren begann und dabei kräftige Impulse freigesetzt hat, scheint nach einer dreißigjährigen Entwicklung erlahmt und zur Routine verflacht. Das heutige Regietheater hat mit den künstlerischen Innovationen von damals kaum mehr etwas gemeinsam.

Unsere Untersuchungen im Rahmen des Forschungsprojektes haben vor allem die Mittel der Regie und der Inszenierung im Blick und weniger Mozarts Werk Così fan tutte selbst, das im Rahmen des Projektes von drei Inszenierungsteams erarbeitet wurde. Im Fokus der Auseinandersetzung steht die gegenwärtige künstlerische Praxis im Umgang mit der Partitur einer klassischen Repertoire-Oper. Im Wissen darum, dass es zeitgenössische Musiktheaterkompositionen und verschiedenste musiktheatrale Formen gibt, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, beschränkte sich unser Forschungsvorhaben bewusst auf das klassische Repertoire, das weite Teile der europäischen Opernlandschaft beherrscht und darum nach größter Aufmerksamkeit verlangt.

Die Präsentation der drei Così fan tutte-Inszenierungen in Berlin wurden von einem Symposion begleitet, in dem zahlreiche Themenbereiche und Fragestellungen, die uns während des zweijährigen Forschungsprojektes beschäftigt haben, diskutiert wurden. Die Beiträge hierzu finden sich in diesem Buch versammelt.

Im Zentrum der Debatte stand und steht die Arbeit des Regisseurs. Ihm kommt die Aufgabe zu, den auserwählten Werken des Opernrepertoires immer wieder neues Leben einzuhauchen.

 

Die Kunst der Regie

Die Opernregie ist als eine interpretierende Kunst definiert, die sich primär mit bereits vorhandenem, älterem Material auseinandersetzt. Die Meinungen darüber, ob dieser Regiearbeit überhaupt ein Kunstcharakter zuzusprechen sei, sind darum keineswegs einhellig.

Es gibt Regisseure, die bestrebt sind, eine klassische Oper in einem werkgetreuen Sinn zu realisieren. In Gegenbewegung zu einer sich unhistorisch gebenden Gegenwart liegt hier der Fokus auf der Rekonstruktion von Vergangenem. Auch wenn der museale Charakter der Lebendigkeit einer darstellenden Kunst, wie sie die Oper unleugbar ist, zuwiderläuft und diesem Zugriff oft ein naives Geschichtsverständnis zugrunde liegt, greift diese Tendenz zur Historisierung merklich um sich und würde eine gesonderte Betrachtung verdienen.

Einigkeit herrscht allgemein darüber, dass Opernwerke einer Realisierung auf der Bühne bedürfen, um überhaupt existent zu sein (eine Tonaufnahme leistet das nur eingeschränkt, von den Notenblättern einer Partitur ganz zu schweigen). Die Realisierung einer Opernaufführung findet zudem immer im Jetzt, in unserer Gegenwart statt. An älteren Inszenierungen erkennt man sofort den Geschmack einer bestimmten Zeit. Mit Zeitgenossenschaft haben diese äußerlichen Merkmale allerdings nichts zu tun – siehe dazu das Gespräch „Die Theorie und die Darstellenden Künste“.

Die Mehrzahl der Regisseure definiert ihre Arbeit über eine individuelle, engagierte, dem Werk gegenüber verpflichtete Interpretation einer Partitur. Diese ist gemeinhin darauf angelegt, einen neuen, interessanten Blick auf ein Werk zu entwickeln, teils auch einen gegenwärtigen Bezug im Alten zu finden. Der Regisseur schafft so eine originelle Lesart der Oper. Die meisten Regisseure heute wollen auch verstanden werden. Ihre Interpretationen werden darum von ästhetischen Entscheidungen getragen und bestimmt, die ihre Intentionen lesbar machen.

Das Selbstverständnis dieser Regiepraxis erklärt auch, warum der Regie bei einer Opernaufführung eine so zentrale Rolle zukommt. Durch sie wird das Verhältnis von Szene und Musik definiert: So gewinnen Orchestersprache und Gesang, je nachdem, wie komplex oder banal ein szenischer Vorgang gestaltet ist, gewissermaßen reziprok dazu eine hohe Komplexität, können aber auch zu einem seichten musikalischen Ereignis verflachen oder aber zu einem bloßen Soundtrack verkommen. Dies stellt nebenbei bemerkt den in der Fachwelt absolut gesetzten Kunstanspruch, der hinsichtlich der uns überlieferten Partituren der Opernliteratur für sakrosankt gilt, zuweilen auch in Frage.

Die sinnlichen und kognitiven Wahrnehmungsprozesse des musiktheatralen Geschehens gehen unmittelbar mit dem einher, was durch die Inszenierung intendiert und in Hinblick auf ein Publikum bewusst gesteuert wird. Gefragt ist hier vor allem gutes Handwerk, die gelungene Umsetzung eines Werkes auf der Bühne (siehe das Gespräch mit den Regisseurinnen und Regisseuren).

 

Die Merkmale des Regietheaters

Vier Hauptmerkmale kennzeichnen den internationalen, vom Regietheater geprägten Stil: Fokus auf eine nachvollziehbare und linear erzählte Geschichte, Psychologisierung der Handlung und der Figuren, zumeist Aktualisierung (vor allem in der optischen Realisierung) und Ausrichtung der Parameter der Inszenierung wie Bühne, Kostüme, Personenführung und Gesang auf eine konsequente, klar lesbare Gesamtaussage hin. Voraussetzung ist die Verpflichtung der Regisseurinnen und Regisseure zur Deutung des auf dem Spielplan stehenden Werkes. Ein postulierter „Sinn“ des Werkes soll immer den Bezugspunkt bilden und in einer Deutung erschlossen und interpretiert werden.

Die Unterordnung aller Bereiche (musikalische Dimension, szenische Darstellung, Raum, Licht) unter die Regie ist es, die ein klares Nachvollziehen der linearen Erzählung gewährleistet. Auch der Gesang wird als Mittel der Psychologisierung benutzt, es wird ihm keine eigene Dimension zuerkannt. Die Psychologisierung zwingt den Figuren gegenwärtiges Erleben und Erfahrungen auf. Die historische Distanz wird eingeebnet, der Zuschauer verliert Geheimnis, Vielschichtigkeit und Fremdheit des Werkes aus dem Blick. Die vom Regisseur vorgeschlagene Deutung vereinnahmt die Partitur, zwingt ihr und unserer Rezeption einen bestimmten Filter auf und überdeckt so subtilere Dimensionen des Werkes. Die Aufführung selbst wird nicht als ein eigenständiges Ereignis, sondern lediglich als eine Präsentation des Inszenierungskonzepts gesehen.

Wir nehmen an, dass die Inszenierungskonzepte, die im Regietheater mittlerweile standardisiert wurden, in den siebziger Jahren als besondere Kunstform eine spezifische Geltung und Wirkung hatten. Nach einer nunmehr dreißigjährigen Entwicklung sind sie jedoch zu einer bloßen Tradition verkommen, die nicht mehr hinterfragt wird und der jeglicher Kunstanspruch abhanden gekommen scheint.

Nur noch selten gibt es Inszenierungen, die durch ihre szenische Setzung überraschen. Hier passiert etwas, was für den Moment gerade nicht lesbar ist, das vielmehr irritiert, verblüfft oder auch schockierend wirken kann. Eine Regie, die das erreicht, kann die Wahrnehmung, die Empfindungen und das Denken nachhaltig beeinflussen. Von einer solchen gesellschaftspolitischen Wirkung der Kunst spricht Heiner Müller und betont damit ihren einzigartigen Status.

Mit der spezifischen Kommunikation im Reich der Zeichen oder der Ästhetik ist jede Regisseurin und jeder Regisseur aufgefordert, die ästhetischen Mittel – das bezieht die Gestaltung von Wahrnehmungsprozessen mit ein – bei der Erarbeitung einer Oper immer wieder neu im Hier und Jetzt auf eben diese gesellschaftspolitische Wirkungskraft zu hinterfragen. Die von manchen Regisseuren vehement eingeforderte Inhaltlichkeit in der Auseinandersetzung mit Oper, enthebt sie nicht der Notwendigkeit, ihre Regiesprache immer wieder auf den Prüfstand und damit radikal in Frage zu stellen: So sind Paradigmenwechsel wie die Aufhebung des Werkbegriffs, eine Enthierarchisierung der Mittel und ein neues Selbstverständnis des Regisseurs im Sinne einer Autorschaft in anderen Bereichen der darstellenden Kunst längst gelebte künstlerische Praxis. Das Genre Oper hat zweifelsohne seine eigenen Gesetzmäßigkeiten, die nach einem spezifischen Umgang verlangen, dennoch stellt sich die Frage, warum ästhetische Entwicklungen wie im Schauspielbereich in der Oper bisher meist umgangen oder einfach ignoriert werden.

 

Die Anfänge des Regietheaters erzählen wiederum von anderen ästhetischen Prämissen und Gewichtungen und von einer Haltung zur Kunst und einem Selbstverständnis des Regieführens, das sich von dem heutigen deutlich unterscheidet.

 

Das Regietheater in seinen Anfängen

Von Ruth Berghaus stammt der Satz „Die Wahrheit liegt im Widerspruch“. Diese kritische Haltung gegenüber dem Bestehenden und den vorhandenen Werte-Vorstellungen, wie auch gegenüber dem vorgefundenen ästhetischen Material hat das dialektische und dekonstruktive Denken geprägt: Die Oberfläche des Werkes musste zerstört werden, um seiner Wahrheit habhaft zu werden. Dieser Ansatz basiert auf einer werkimmanenten Deutung und setzte bei aller Radikalität, mit der hier einem Werk begegnet wird, eine Wahrheit desselben voraus, die für die Inszenierung verbindlich ist. Das Ereignis der Aufführung rückt demgegenüber in den Hintergrund. Diese kritische und zugleich verpflichtete Haltung der Regie dem Werk gegenüber findet ihre Resonanz und ihre Berechtigung in einer Haltung der Beteiligten einerseits sowie des Publikums andererseits, die in einem Konsens über die bestehende und – mittels der Kunst – zu verändernde Gesellschaft bestand. Die Zuschauer haben sich kritisch mit der Deutung des Regisseurs/der Regisseurin auseinanderzusetzen. Ein freies, assoziatives, eigenständiges Kreieren von Bedeutung ist nicht vorgesehen, wie Hans Neuenfels erläutert: „Es ist eine Haltung, ein Diskurs. Ich verlange vom Publikum, ganz genau zu sehen, welchen Diskurs, welche Haltung die Interpretierenden vorzuschlagen haben. Als Zuschauer will ich da oben auf der Bühne schon Lösungen sehen (…), ich muss ja nicht derselben Meinung sein! Als Regisseur ist mir daran gelegen, mit einem Abend einen zusammenhängenden, durchschaubaren Vorschlag zu machen (wie ein Stück zu lesen ist, Anm. der Verfasserin), um mit dem Zuschauer einen Diskurs oder Kontakt aufzunehmen.“1

Einen wesentlichen Anstoß, die Oper neu zu denken, löste die herrschende, vermeintlich werktreue Operntradition der fünfziger und sechziger Jahre aus, deren Inszenierungsstil altbacken daherkam und auch als solcher empfunden wurde. Erinnert sei an das berühmt gewordene Interview von Pierre Boulez von 1968, in dem er forderte, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Es war das Aufbruchsklima der siebziger Jahre, in dem einige Intendanten, Dramaturgen und Regisseure aus einem Respekt den überlieferten Werken gegenüber einen neuen Anspruch an sie formulierten. Es galt, die Partituren mit einer radikalen Ästhetik zu konfrontieren – so unterschiedlich diese bei den verschiedenen Regisseuren auch ausfiel – und die Werke auf höchstem Niveau, nach neuesten Erkenntnissen aus Philosophie, Soziologie und Kulturforschung zu studieren und zu analysieren. Eine Idee von der Komplexität der Beschäftigung mit den Partituren liefern die Ausführungen zu Così fan tutte von Klaus Zehelein in diesem Buch, der ehemals als Dramaturg und Operndirektor entscheidenden Einfluss auf diese Entwicklung genommen hat. Eine ganze Reihe von Inszenierungen verschiedener Regisseure hat die Opernwelt damals in Erstaunen und in große Aufregung versetzt. Das Regietheater hat hier seinen Anfang genommen und einen neuen inszenatorischen Umgang mit den Werken ins Leben gerufen. Das ist nun über dreißig Jahre her. Längst haben sich heutige Opernproduktionen von dem damaligen Kunstanspruch weit entfernt. Ich möchte den Gründen nachgehen, wie es zu solch einer Entwicklung kommen konnte.

 

Bedingungen der Regiearbeit heute – Die Situation der Opernhäuser

An den großen und kleinen Opernhäusern, wo die Repertoire-Oper gepflegt wird, dominieren manifeste Strukturen, denen die meisten der Regisseure sich ausgeliefert sehen bzw. denen sie oft auch aus purer Betriebsblindheit unbewusst aufsitzen. Die Bedingungen des Apparates werden als vermeintlich unumgänglich notgedrungen akzeptiert. Der Anpassungsdruck scheint groß.

Die gegebenen Voraussetzungen eines normalen Opernbetriebes, wie die Architektur eines Opernhauses mit Orchestergraben und Guckkastenbühne, die tief eingegrabenen institutionellen musikalischen Strukturen von Orchester, Chor und Ensemble (hier ist auch an die Ausbildung an den Hochschulen gedacht) und eine in der Regel konservative Erwartungshaltung des Publikums legen die durchaus berechtigte Frage nahe, ob eine Regiearbeit in einem so eng gesteckten Rahmen überhaupt den Anspruch erheben kann, innovativ zu sein? Dies aber wäre die Voraussetzung, um jenem zuvor formulierten Kunstanspruch gerecht zu werden. Birgt die Repertoire-Oper noch Potential zur Innovation und ist das der Anspruch an eine heutige Operninszenierung? Entspricht die Idee der Innovation noch dem Selbstverständnis der heute avancierten Regisseure? Unter welchen anderen Kriterien wären Operninszenierungen aktuell sonst einzuordnen? Was machen heutige Regisseure, wenn sie eine Inszenierung erarbeiten? Aus welchem Beweggrund und Selbstverständnis heraus und mit welchem Ergebnis tun sie das?

Die geschilderten Bedingungen geben allein noch keinen überzeugenden Hinweis, warum die Entwicklungen im Bereich der Oper in den letzten Jahren stagnieren. Was sich gegenüber früheren Zeiten aber offensichtlich geändert hat, ist der Status von Oper. In den siebziger und achtziger Jahren war die Oper – entschieden mehr als heute – noch ein selbstverständlicher Bestandteil der Kultur. Heute sind andere kulturelle und strukturelle Faktoren von Relevanz. Die rasant sich ausbreitenden virtuellen Medien konkurrieren mit den Theatern und Opernhäusern und machen ihnen den Platz streitig, aber auch die immer komplizierter werdenden gesellschaftlichen Verteilungskämpfe erhöhen den Rechtfertigungsdruck für den Erhalt der kosten- und personalaufwendigen Opernapparate.

Angesichts der schwierigen äußeren Bedingungen des Opernschaffens haben Intendanten wie Regisseure vielerorts einen stillen Pakt geschlossen und sich den Publikumserfolg auf die Fahnen geschrieben. Zu vermuten ist, dass der Kunstanspruch dem Erfolg geopfert wird und die Idee von Kunst im Zusammenhang einer Opernaufführung schon lange aufgegeben wurde – auch in den Augen der öffentlichen Meinung. Fraglich ist darum, ob dieses Dilemma als ein solches mehrheitlich überhaupt empfunden wird.

Will man die Oper und das Repertoiresystem aber als grundständiges, europäisches Phänomen in seiner Einmaligkeit weiterhin wertschätzen und seinen Erhalt verteidigen, dann geht es auch darum zu wissen, was hier erhalten werden soll und warum.

 

Ausgrenzung zeitgenössischer Oper und anderer musiktheatraler Formen in den Institutionen

Eine Zustandsbeschreibung heutiger Oper/heutigen Musiktheaters hat mit zu bedenken, dass experimentelles Musiktheater und zeitgenössische Kompositionen sich in der Regel andere Räume suchen oder unfreiwillig dorthin ausgegliedert werden. An den Opernhäusern, zumal den großen, haben sie nicht viel mehr als eine Feigenblattfunktion. Dies betrifft auch den ungewohnten inszenatorischen Umgang mit dem Repertoire. Die grandiose Meistersinger-Inszenierung von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne (2006) beispielsweise wirkte in ihrer innovativen Sprengkraft lediglich interessant, weil sie an diesem Ort und nicht in einem normalen Opernhaus angesiedelt war. In einem Opernhaus hätte dieselbe Inszenierung bei einem Opernpublikum Begeisterungs- und Proteststürme ausgelöst, das Publikum der Volksbühne hingegen ist solcherlei Auseinandersetzungen mit klassischen Werken gewohnt.

Diese Aus- und Aufgliederung der verschiedenen Musiktheaterproduktionen in unterschiedlichste institutionelle Bereiche sorgt dafür, dass sich in der Oper kaum etwas bewegen kann. Häppchenweise inspiriert man sich von diesen Außenseiter-Produktionen und frischt so allenfalls die eigenen Arbeiten auf. Mehr aber vermögen die abseits gelegenen Musiktheaterereignisse momentan nicht zu leisten.

Oper anders und weiter zu denken hieße vermutlich in letzter Konsequenz, die Häuser zu Begegnungsstätten zu erklären, in denen die Grenzen zwischen den Genres Musiktheater, Theater, Performance, Installation, Tanztheater und Bildender Kunst verschwimmen (siehe Gespräch mit der Regisseurin Clara Hinterberger). Davon sind wir weit entfernt und es bleibt auch die Frage, ob es in dieser Konsequenz wünschenswert wäre.

 

Die Kunst und die Gesellschaft

Um den Status der Oper auch im Kontext einer generellen Kunstbetrachtung einzuordnen, waren im Rahmen des Forschungsprojektes auch soziologische und philosophische Texte von Bedeutung, die sich der Rolle der Kunst in der gegenwärtigen Gesellschaft widmen. So etwa die Ausführungen des Soziologen Dirk Baecker in seinem Buch „Studien zur nächsten Gesellschaft“, in dem er die These ausführt, dass die neue, sich etablierende Computergesellschaft einen veränderten Kunstzusammenhang mit sich bringe. Bei der Lektüre verschiedener Texte des Philosophen Boris Groys fiel unter anderem seine skeptische Haltung gegenüber neuesten Entwicklungen auf, die die Rolle der Kunst in der Gesellschaft, aber auch die Kunsterzeugnisse selbst betreffen. Seiner Ansicht nach habe „die ernsthafte Kunst ihre Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Artikulation verloren und (könne) im Zeitalter der Postmoderne nur noch ironisch oder gar zynisch sein“2. In einem anderen Zusammenhang formuliert er die paradoxe Zuspitzung, dass Kunst heute nur in der Verbindung mit Nicht-Kunst noch als Kunst wahrgenommen werden kann (zitiert nach Carl Hegemann im Kapitel „Die Kunst und die Gesellschaft“). Dies deutet eine von vielen Konsequenzen an, die die Kunstproduktion aus dem gegenwärtigen Stand der Ästhetik zu ziehen hätte. Der Dramaturg Carl Hegemann knüpft bei diesen Überlegungen von Boris Groys an und erörtert, hierbei bezugnehmend auf Immanuel Kant, Friedrich Schiller und Niklas Luhmann, die spezifischen Auswirkungen auch auf das gegenwärtige Opernschaffen. Im Gespräch über „Die Kunst und die Gesellschaft“ wurde im Rahmen des Symposions darüber diskutiert.

 

Wo steht die Oper heute?

„Ich stelle fest, dass dieser Gesellschaft etwas fehlt und das ist der rituelle Anteil; der ist einfach weggefallen. Die Oper eignet sich von ihren ganzen Daseinsformen her, in vielen ihrer Elemente, für eine gemeinsame Erfahrung, um sich mit Fragen der Transzendenz und des Jenseits zu beschäftigen, mit dem Sterben und Verschwinden. In diesem Zusammenhang scheint mir die Oper wichtig.“ Diese Haltung von Carl Hegemann der Oper gegenüber wird in ähnlicher Weise auch vom Schriftsteller Navid Kermani vertreten. Dieser sieht einen Kanon grundlegender Menschheitsthemen in der Oper beheimatet und findet bemerkenswert, dass das Publikum diese Zeichen nach wie vor versteht. Die Sonderstellung, die der Oper eingeräumt wird, die bereits angesprochene ans Rituelle gemahnende Aura, auch die Tendenz zum Pathos, das Nichtdiskursive und die Themen, um die die Oper gleichsam mantraartig kreist, sind zweifelsohne Wesenszüge, die ihr als Kunstform einen besonderen Status verleihen. Beide Autoren beklagen den Hang zum illusionistischen Realismus, zur Psychologisierung und Aktualisierung, die die heutige Regiepraxis in der Oper dominieren. Diese Tendenzen sind ihrer Ansicht nach der Oper wesensfremd und gefährden deshalb ihre besondere Aura. Dessen ungeachtet scheint Hegemanns und Kermanis Blick auf die Oper aus dem Geist des 19. Jahrhunderts sich herzuleiten, es wird sich zumindest explizit und ausschließlich auf Werke der im bürgerlichen Zeitalter geschaffenen Opernliteratur bezogen. Der Opernliteratur des 18. Jahrhunderts, Mozarts Opern eingeschlossen, wird man mit jener beschworenen Aura von Oper allein vermutlich kaum gerecht.

Andere gedankliche, ästhetische, auch ethische Anschlussmöglichkeiten zur Gegenwart werden wir suchen müssen, um dem Anspruch auf Zeitgenossenschaft gerecht zu werden. „Jede theaterästhetische Fragestellung (bleibt) blind, die in der künstlerischen Praxis nicht die Reflexion gesellschaftlicher Wahrnehmungs- und Verhaltensnormen erkennt.“3

 

Bestimmte Zeit- und Randphänomene im Kontext von Oper

Ein Phänomen kann man gegenwärtig in Amerika beobachten: Hier werden Operninszenierung bereits auf Filmschnitte hin gedacht und auf der Bühne entsprechend ausgeführt, um dann, vom Live-Charakter abgeschnitten, sich als DVD auf dem Markt wiederzufinden. In Europa gibt es mit dem „Public Viewing“ einen vergleichsweise harmlosen, doch ebenfalls ersten aufkeimenden Ansatz zur Vermarktung des Live-Erlebnisses. Das Besondere von Theater, sein Live-Charakter, scheint durch die neuen Medien auch im Sinne dieser Vereinnahmung massiv bedroht.

 

Die anderen Künste

Um sich den komplexen Fragestellungen des Forschungsprojektes von möglichst vielen Seiten zu nähern, schien ein Blick auch auf die anderen, benachbarten Künste nicht uninteressant: Aus welchem Selbstverständnis heraus arbeitet heute ein Filmregisseur, ein Schriftsteller oder ein Komponist? Wie definieren sich Kunstschaffende in dieser veränderten neuen Computer-Welt, wie sehen sie ihre Kunst und was treibt sie dazu? Und wie fühlen sie sich als Künstler wahrgenommen? Zu diesen Fragen wurde im Rahmen des Symposions ein längeres Gespräch mit Künstlern aus den Bereichen der Komposition, der Bildenden Kunst und des Films geführt. Die Ansichten der Künstler zur Kunst könnten unterschiedlicher nicht sein, ihr Selbstverständnis als Künstler hingegen ist durchaus verwandt. Auffallend ist die Tendenz, sich von aktuellen Geschehnissen abzuschotten und im Rückzug auf sich selbst einen Weg zu suchen – als Diener der Kunst (Jonathan Messe) oder gleichsam als Seismograph für die Ortung existenzieller Strukturen (Pia Palme). Ihr Künstlertum stellen sie nicht in Frage, einig sind sie sich auch darin, dass die institutionellen Strukturen, sei es in der Filmbranche oder im Opernbetrieb, sich auf bestimmte Formate hin verfestigt haben und zum Beispiel neues Musiktheater in den Opernhäusern kaum einen Platz findet. Eine enttäuschte, gleichwohl stoische Haltung dieser Situation gegenüber bestimmt das Los dieser Künstlerexistenzen, die sich auch einem Publikum gegenüber distanziert verhalten und Erfolg nicht um jeden Preis anstreben.

Um zu begreifen, welcher Art die Konsequenzen sein könnten, die sich im Besonderen für die Opernregie aus den gegenwärtigen Bedingungen von Kunst ergeben, schien die Besinnung auf die Wesensmerkmale von Oper als ein notwendiger Schritt.

 

Der Gesang als Alleinstellungsmerkmal von Oper

Eine Partitur ist im Gegensatz zum Theatertext nicht ein Element von vielen, aus denen sich eine theatrale Situation zusammensetzt, sondern die Partitur stellt in der Regel das alles beherrschende Zentrum einer Opernaufführung dar. Die verwirklichte Partitur im Gesang und Orchesterklang, ist ein Alleinstellungsmerkmal von Oper und der Gesang ihre einzigartige Ausdrucksform, weshalb ihm in diesem Buch eine gesonderte und ausführliche Betrachtung gewidmet ist.

Der Kunstgesang ist ein substanzieller Bestandteil der Oper. „Ohne dass hier auf die kulturhistorischen Wandlungen des Kunstgesangs eingegangen werden kann, lässt sich sagen, dass wesentliche Faktoren von Repräsentation wie Einfühlung und Identifikation zu den Voraussetzungen stimmlichen Ausdrucks im modernen Sinn gehören (…). Es gehört (…) zu den Eigenheiten des Kunstgesangs, dass eine kommunikativ tragende Stimmfarbe ohne Einfühlung und Identifizierung des Singenden kaum zu haben ist.“4 Ihn als psychologisch motivierte Ausdruckskunst zu sehen, ist jedoch durchaus nicht die einzige Möglichkeit, den Gesang zu begreifen. Vielmehr ist dieses Verständnis primär von der Opernliteratur des 19. Jahrhunderts abgeleitet und stark von den Einstellungen und Ideen dieser Epoche geprägt. In Opern der frühen Barockzeit und in zeitgenössischen Musiktheaterkompositionen wurde und wird die Gesangsstimme oft unter ganz anderen Prämissen und als eine Dimension behandelt, die weder dem Text, noch einer Emotion, noch dem auf Virtuosität angelegten Kunstgesang dient, sondern beispielsweise einen Resonanzkörper bildet und als Vermittler zu anderen, fremden Sphären funktioniert; oft wird die Stimme auch ganz abstrakt wie ein Instrument behandelt (siehe auch Gespräch mit den Künstlern/Komponisten).

Entstanden ist heute aus dieser alles andere als linearen Entwicklung durch die Jahrhunderte gleichwohl eine hartnäckig sich auf das Psychologische konzentrierende Rezeption von Gesangsleistungen, einhergehend mit einer Fokussierung auf das Inhaltliche, welches das Libretto als Erzählung bereit hält. So wird es in Fachkreisen beispielsweise als Leistung verbucht (siehe Gespräch mit Regisseuren), dass man aufgrund der authentischen Spielweise der Sänger vergisst, in einer Opernaufführung zu sitzen.

 

Künstlerische Forschung

Die Forschungsarbeit will keine Rezepte für neue Inszenierungsformen entwickeln. Ich spreche hier von einem bestimmten neuen Denken, von Regie-Techniken und einer dezidierten Haltung zur Kunst, nicht aber von dem, was einzelne Inszenierungen beseelt, was ihnen zuweilen Einzigartigkeit und Geheimnis verleiht. Dies wird freilich immer im Subjektiven und Individuellen, in der Persönlichkeit des Regisseurs zu suchen sein.

Keineswegs soll mit diesen Reflexionen darum die künstlerische Fantasie beschnitten werden. Die Kreativität setzt lediglich an anderer Stelle an. Es ist eine andere Form des schöpferischen Umgangs mit dem Material, über die im Vorfeld der praktischen künstlerischen Arbeit auch in theoretischen Workshops diskutiert wurde. Aus der künstlerisch-praktischen Forschungsphase selbst weiß ich zu berichten, dass dieser andersartige Umgang mit dem Material – beispielsweise der Versuch der Enthierarchisierung oder die Enthebung vom Zwang, die Partitur deuten zu müssen (ich werde im Einzelnen später noch darauf eingehen) – in der konkreten Inszenierungsarbeit als sehr befreiend empfunden wurde (siehe hierzu die Gespräche mit den Regieteams).

Ein Thema des Symposions und ein Kapitel unseres Buches widmen sich ausführlich dem Verhältnis der Theorie zu den Darstellenden Künsten. Hier spricht der Regisseur und Autor Matthias Rebstock unter anderem von einem „Theoriehunger der Regisseure“. Die Abhängigkeiten zwischen Theorie und künstlerischer Praxis scheinen evident: Im Bereich der innovativen Künste wird analog zur forschenden Wissenschaft unbekanntes Terrain betreten; das evoziert Paradigmenwechsel, neue Begrifflichkeiten und in letzter Konsequenz ein neues Denken. Ein befruchtender Austausch von künstlerischem Tun und theoretischer Reflexion schien darum zwingend und war von Beginn an die Verfahrensweise und ein zentrales Anliegen des Forschungsprojektes. Was dies im Einzelnen bedeutet und im zweijährigen künstlerischen Forschen an Ergebnissen gezeitigt hat, kann man in den Gesprächen mit den Regieteams nachlesen. Deren Inszenierungsexperimente legen zudem ein Zeugnis der Forschungsarbeit ab. Ich bin überzeugt, im Gegensatz beispielsweise zur mehrheitlichen Ansicht der Intendanten, mit denen gesprochen wurde, dass eine theoretische Reflexion und die stete Hinterfragung der ästhetischen Bedingungen und Möglichkeiten gerade in der heutigen Zeit Not tut. Die Revolutionierung der Mittel den Regisseuren allein zu überlassen, die besonders begnadet und fantasiebegabt sind oder unkonventionell an Oper herangehen, wäre vielleicht wünschenswert, doch beschwört man diese Regisseure wohl vergeblich. Denn zum einen lehnen es die Begabten unter ihnen ab, Oper zu machen (siehe Gespräch mit den Intendanten, Regisseuren), zum anderen sind Ausnahmekünstler rar. Sie allein aber sollen als Garanten für ein innovatives Musiktheater einstehen und es richten.

 

Die Tradition der Opernrezeption – Die Hermeneutik

Analysiert man heute verschiedene Operninszenierungen in unterschiedlichen Städten wie Graz, Berlin, Warschau oder Paris, zeichnet sich vor allem eine wesentliche Gemeinsamkeit ab, wie sich OpernregisseurInnen den Werken des Repertoires annähern. Die unterschiedlichen Herangehensweisen sind von einem hermeneutischen Ansatz dominiert, bei dem das Werk immer von einem dramaturgischen Konzept durchdrungen und auf eine bestimmte Lesart hin gedeutet werden soll. Einen neuen Ansatz habe ich darum da gesucht, wo der gemeinsame Nenner all dieser Opernstile bzw. -sprachen zu finden ist: in der Verpflichtung zu einer Deutung des Materials.

Für meine Überlegungen die Repertoire-Oper betreffend war es nicht unwesentlich, dass die Voraussetzungen in der Beschäftigung mit diesem historischen Opernmaterial sich extrem verändert haben. In den siebziger Jahren, dem emphatischen Aufbruch zu einer neuen Herangehensweise an Oper, konnte man sich noch auf eine Tradition beziehen. Um sich als eigenständige und innovative Kraft künstlerisch zu behaupten, setzte man sich gegen diese Tradition ab, man brach mit ihr. Heute haben wir es mit dem Dilemma zu tun, dass eine Tradition, von der man sich abheben könnte, gar nicht mehr präsent ist. Der normale Opernzuschauer kennt eine Così fan tutte nicht mehr in der traditionellen, mit Rokokokostümen ausgestatteten und scheinbar werktreuen Erzählweise. Die inszenatorischen Neuschöpfungen laufen so Gefahr, von diesem wesentlichen Potential zur Innovation abgeschnitten zu sein und auf diese Weise ihre Reibungskraft zu verlieren.

 

Die Erforschung neuer Herangehensweisen

Die Entwicklung von neuen Inszenierungsstrategien zielte darauf ab, die Werke des Repertoires in Hinblick auf einen Erkenntnisgewinn für die Gegenwart zu befragen. Die zentrale Fragestellung unseres Forschungsvorhabens lautete: Ist eine künstlerische Herangehensweise jenseits der beschriebenen etablierten Deutungsmuster vorstellbar?

Unterschiedliche Inszenierungsformen für die Oper Così fan tutte von W. A. Mozart wurden entwickelt, reflektiert und miteinander verglichen. Anhand dieser Arbeiten sollten die zahlreichen Fragestellungen experimentell und künstlerisch erforscht werden.

Die Erarbeitung der drei Inszenierungen suchte in der praktischen künstlerischen Arbeit nach zukunftsweisenden Perspektiven. Erprobt wurde, welche Mittel und Wege noch denkbar und nutzbar wären.

Ein Ausnahmekünstler, der mit seinem künstlerischen Schaffen als Impulsgeber für das Forschungsprojekt von Bedeutung war, ist Christoph Schlingensief. Der Bezug auf seine Inszenierungen scheint mir an dieser Stelle von besonderer Wichtigkeit.

Schlingensiefs Opernarbeiten waren wesentlich von einer künstlerischen Haltung bestimmt, die sich nicht (mehr) von einer Tiefenbohrung in die Vergangenheit leiten ließ. Sein schöpferisches Denken bewegte sich vielmehr an der Oberfläche. Mittels einer palimpsestartigen Überschreibung durch Parallelhandlungen, Weiterschreibungen und filmische Übermalungen, suchte er einen ganz eigenen Kontakt zu dem zugrundeliegenden historischen Opernmaterial, wie dem Parsifal, den er für die Bayreuther Festspiele inszeniert hat. Die Partitur erfährt hier keine Deutung, sondern bleibt in diesem Prozess gewissermaßen unberührt, sie ist als Readymade (Boris Groys) einer älteren Inszenierung (von Harry Kupfer vermutlich) auf der Bühne präsent. Schlingensief dringt demzufolge nicht in den Text, die Partitur, das Material ein, um nach einer tieferen Bedeutung zu suchen, sondern verknüpft die intakte, werktreue Erzählung an der Oberfläche mit assoziativen Ebenen: mit surrealen Elementen, mit Filmen, die soziale oder kulturelle Phänomene aus unterschiedlichen nationalen Kontexten dokumentieren, wie beispielsweise den afrikanischen Voodoo-Ritualen. Zudem verweist Schlingensief mit zahlreichen Objekten und Szenerien auf verschiedenste psychoanalytische und kunsthistorische Kontexte. Schlingensief schließt so die Partitur des Parsifal mit diesem von außen hinzugezogenen Material gewissermaßen kurz: Einander fremde Materialien und Ebenen werden auf diese Weise miteinander verbunden, Disparates trifft scheinbar willkürlich aufeinander und beginnt zu kommunizieren. In seiner Zusammenarbeit mit behinderten Menschen, die er stets in die Inszenierungsabläufe – auch seiner im Schauspiel geschaffenen Inszenierungen – zu integrieren suchte, schafft er zudem eine Verbindung von Kunst und Nicht-Kunst, die dem Performativen des Bühnenereignisses größtmögliche Entfaltung ermöglicht.

Um dieses Opernereignis angemessen rezipieren zu können, zwingt das Erlebnis den Zuschauer in ein neues und anderes Denken; es verlangt nach einer neuen ästhetischen Logik.

Schlingensiefs Herangehensweise an Parsifal lässt sich analog zu heutigen Wahrnehmungs-, Erscheinungs- und Verhaltensformen in der neuen Computergesellschaft beschreiben. Die Verknüpfungen der zahllosen Informationen, die auf uns eindringen, werden an der Oberfläche vollzogen und nicht hinter der Oberfläche, in einem vermeintlich tieferen und verborgenen Sinn, gesucht.

 

Zu Beginn des Forschungsprojektes ging es darum, solche anderen Zugangs- und Umgangsweisen mit einer Partitur als Möglichkeiten zu diskutieren und bereit zu halten. Unter anderem sollte dieses ungewohnte Denken, wie im Parsifal von Schlingensief, zu neuen Wegen inspirieren und ermutigen.

 

– Das Format:

Das Format des Stadttheaters war hierbei eine wichtige Vorgabe. Die äußeren Bedingungen, unter denen die Regieteams angetreten sind, lauteten: Bespielung der Guckkastenbühne und eine Erarbeitung der kompletten, durchlaufenden Partitur der Mozart-Oper mit Orchester, mit nicht mehr als den üblichen Strichen. Mit diesen Vorgaben zielte das Forschungsprojekt darauf ab, neue Herangehensweisen an die Repertoire-Oper im Rahmen und unter den Bedingungen eines gewöhnlichen Stadttheaters zu erproben und damit eine Ausgrenzung als Off-Produktion zu vermeiden. Zugleich verband sich damit auch die Hoffnung, dem Stadttheater auf diese Weise neue Impulse geben zu können.

 

– Abkehr von der Interpretation:

Das Forschungsprojekt suchte nach Strategien jenseits der Arbeit mit bedeutsamen Strukturen. Es war der Versuch einer Abkehr von Interpretation, dem Lesen einer Partitur, das gemeinhin mit einer Deutung der Vorlage einhergeht. Für einen Dirigenten oder Sänger ist das Interpretieren des Notentextes ein unumgänglicher Vorgang. Üblicherweise wird auch die szenische Interpretation von der Absicht geleitet, eine Erkenntnis zutage zu fördern. Sie will uns sagen, was hinter dem Notentext steckt. Wenn wir interpretieren, decken wir eine Wahrheit auf. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurde versucht, diesen Gestus zu vermeiden. Es sollte nicht mehr um bestimmte Wahrheiten gehen, auch nicht um Erkenntnisse, die in Form vorgefertigter Inszenierungskonzepte dem Zuschauer präsentiert werden. Vielmehr forderten die Techniken des Performativen, die uns im Zusammenhang der Diskussion um innovative Inszenierungsformen besonders interessierten, die Wahrnehmung aller Materialien heraus, die in einem Aufführungskontext präsent sind. Zugleich wurde die Enthierarchisierung der verschiedenen Dimensionen, die in den Aufführungsprozess hineinspielen, angestrebt.

 

– Mittel der Inszenierung:

Die drei voneinander sehr unterschiedlichen Inszenierungsansätze erprobten so verschiedenste Mittel der Inszenierung.

Auf diese wird in dem Kapitel, das sich den einzelnen Regieteams und ihren Inszenierungen widmet, ausführlich eingegangen. Einleitend fasse ich hier kurz zusammen:

Unter anderem wurde in der Inszenierungsarbeit die Öffnung hin zu performativen Möglichkeiten gesucht; diese sollten im Zusammenhang mit Oper ausgelotet werden. Die in den sechziger Jahren von der Aktionskunst herkommende, sich langsam zu einer eigenständigen Kunstform entwickelnde Performance ist im Schauspiel als Dimension, die Unkontrolliertes zulässt, Erwartungen enttäuscht, auf Überraschung und Irritation setzt, nicht mehr wegzudenken. Es war das Interesse, herauszufinden, wie Techniken aus der Performance-Kunst im Rahmen einer Opernaufführung denkbar sind, die sich vorrangig an das enge Korsett einer Partitur zu halten hat.

Statt eines im Vorfeld fixierten, eindeutigen Konzepts sollte die Aufführung als mehrdimensional lesbares Ereignis in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. In Frage gestellt wurde im Zuge dieses offenen und prozesshaften Vorgehens die Deutungshoheit des Regisseurs, gleichzeitig wurde die künstlerische Autonomie der Sänger und aller anderen Mitwirkenden hierdurch bewusst gestärkt.

Zur Anwendung kam auch das Mittel der Übermalung und Überblendung der Oberfläche des Werkes mit anderen, heutigen Konfliktfeldern und verschiedensten Assoziationen, wodurch das Werk mit zunächst sehr fremd erscheinenden Themenbereichen in Kontakt gebracht wurde. Auch die Weiterschreibung von Figurenkonstellationen und die Schichtung von parallelen medialen Ebenen (Szene, Musik, Film, Text etc.) zählen hierzu. In der Beobachtung schien es, als begegneten die einzelnen Regisseurinnen und Regisseure dem Werk wie einem Subjekt, mit großem Respekt, mit Neugierde und Behutsamkeit, im Verhältnis zur eigenen Persönlichkeit und der subjektiv erfahrenen Welt. Michel Foucault wählt ein Beispiel aus der Bildenden Kunst: Der Maler Édouard Manet malt ein Bild bezogen auf ein Bild von Velázquez. Es geht um ein selbstbewusstes Verhältnis des jungen zum älteren Künstler.

Die Gleichzeitigkeit von mehreren Aktionen ist ein in allen Inszenierungsversuchen praktiziertes Prinzip. Der Fokus auf einen einzelnen Erzählstrang ist hierdurch aufgehoben. Auch die Verbindung von Kunst und Nicht-Kunst (Boris Groys/Carl Hegemann), beispielsweise in der Konfrontation der gespielten Così fan tutte-Handlung mit realen Ereignissen, wurde erprobt. Dies zwingt den Betrachter zur ständigen Auseinandersetzung mit der Frage, was und wie etwas gelesen und verstanden werden kann. Schließlich hat sich eine der Arbeiten auch mit Formen der Ritualisierung und Stilisierung auseinandergesetzt und diese zum Prinzip in der Umsetzung des Mozart-Werkes gemacht.

Das Forschungsprojekt versuchte insgesamt auszuloten, inwieweit sich angesichts der Ergebnisse dieser Inszenierungsarbeiten neue Wege jenseits von Bekanntem abzeichnen.

Ziel war es, dem Publikum die Freiheit zu eröffnen, zum Akteur seiner eigenen Zustände, Erkenntnisse und Erfahrungen mit dem Ereignis zu werden, statt es in der üblichen Form mit einer vorgeprägten Interpretation des Geschehens zu konfrontieren.

 

 

1 Beyer, Barbara (Hrsg.): Warum Oper?, Berlin 2005, Seite 91.

2 Groys, Boris: „Leben in der Kältezone“, in: Die Zeit, Nr. 36, 2012.

3 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999, Seite 16.

4 Mösch, Stephan: „Ein Lidschlag der Gräfin“, in diesem Sammelband.

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