7. Lesen, Streiten, Lachen
von Wolfgang Engler
Erschienen in: Authentizität! – Von Exzentrikern, Dealern und Spielverderbern (03/2017)
Wer man selber ist, darüber bestimmen auch die anderen. An einem Selbstbild festzuhalten, das alle Welt zurückweist, gelingt nur wenigen; sie sind die wahrhaft Unbestechlichen. Was diesen Heldenmut in der Regel durchkreuzt, ist die Doppelnatur des Selbst. Es ist beides zugleich: Vorstellung und Darstellung, Produkt des Willens, der Fantasie, und Produkt gesellschaftlicher Anerkennung. Wir erfahren, begreifen uns, indem wir uns in unseren unterschiedlichen Rollen für andere entwerfen, und sind bemüht, den Entwurf zu beglaubigen, so dass er ‚abgenommen‘ wird, sowie in Sorge, dass die Umwelt ihn verwerfen könnte. Tut sie es, dann ist es an uns, ihn zu überarbeiten, die modifizierte Version unseres Selbst neuerlich der Begutachtung durch andere auszusetzen. Unser Selbst ist ein ratifiziertes Selbst, Ausdruck eines vorläufigen Waffenstillstands zwischen dem, was wir, und dem, was andere uns glauben.
Man kann sich heute nur noch schwer vorstellen, welche Bedeutung Texten in diesen Ratifizierungsprozessen einmal zukam. Nicht irgendwelchen Texten, sondern theoretischen, philosophischen, soziologischen. „Von der Figur des Intellektuellen ging damals noch ein Versprechen aus“, schreibt Philipp Felsch in seiner schönen Studie über den „langen Sommer der Theorie“, und zitiert aus dem Leserbrief einer Schweizerin an Theodor W. Adorno: „Von den Minima Moralia bin ich völlig gebannt, ich lese,...