Magazin
kirschs kontexte: Wenn die Herrschenden nicht mehr wollen ...
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Christoph Hein und Ingo Schulze: Rasender Stillstand – Fragen an die deutsche Wirklichkeit (10/2013)
„Wenn die Herrschenden nicht mehr können und die Beherrschten nicht mehr wollen, entsteht eine revolutionäre Situation“, so heißt es bei Lenin. Vor ein paar Jahren hat Carl Hegemann versucht, den alten Satz zu variieren: Ist es heute vielleicht so, dass die Herrschenden zwar noch können, aber nicht mehr wollen, während die Beherrschten noch wollen, aber nicht mehr können? Wie richtig Hegemann lag, hat sich allerdings noch nie so offen gezeigt wie im diesjährigen Bundestagswahlkampf.
Nein, es ist klar: Irgendetwas hat sich verschoben. In den Wahlen der letzten, sagen wir 15 Jahre war aufseiten der „Herrschenden“ immerhin noch so etwas wie ein verzweifelter Wille zu spüren. Und den musste man selbst dann anerkennen, wenn man nicht an die dramatischen Entschlossenheitsgesten, personalisierenden Zuspitzungen und haltlosen Versprechen glaubt, ohne die das politische Geschäft in der repräsentativ organisierten Öffentlichkeit nun einmal nicht auskommt. Immerhin gab es sogar Sternstunden des Polittrashs: die hysterischen Aktionen des „Projekts 18“, die Guido Westerwelle in den „Big Brother“- Container und ins „Guidomobil“ führten; Gerhard Schröders Elefantenrunden-Auftritt, bei dem er wie ein deutsches Jack-Nicholson- Imitat agierte, das es um jeden Preis in Hollywood schaffen will. Noch Frank-Walter Steinmeiers Versuch, im Wahlkampf 2009 aus der Regierung heraus Oppositionsgeist zu verkörpern, war...