Berliner Ensemble: Mit Blitzeinschlag

Businessman des Living Theatre

Von der Sonne in den Swimming Pool und zurück 

In einem weißen, eigentlich unscheinbaren Raum treffen sich vier Blicke auf Europa. Vor der Bühne von Nikolai Kuchin und Tina Hübner entscheidet sich in der Ausländerbehörde, dem Abendbrottisch und im Behandlungssaal, wer dazugehört und wer nicht. Die drei Produktionen der westsächsischen Theater erkunden sowohl die gegenwärtigen als auch historischen Grenzen, entlang derer bestimmt wird, was zur Heimat gehört und was ausgeschlossen wird. Es ist eines der großen Theaterereignisse, die im Rahmen der Kulturhauptstadt 2025 in Chemnitz gezeigt werden. Gemeinsamer Nenner dieser Produktionen ist Europa, mit all seinen Widersprüchen und Problemen und das geteilte Bühnenbild. Die weiße Architektur, die sich für jede Produktion neu zusammenschiebt, bietet kaum Reibungsfläche für eine szenische Abarbeitung. Sie ist vielmehr Multifunktionshintergrund für vier Inszenierungen – eine davon fiel am Premierenabend aus –, die nach ihrer gemeinsamen Premiere in Chemnitz durch Sachsen touren werden. Gleich zwei Texte der georgischen Autorin Tamó Gvenetadze erzählen an diesem Abend die Geschichten von Migrant:innen, die versuchen, in Sachsen anzukommen. In beiden Auftragswerken für das Theater Annaberg-Buchholz und das Theater Plauen-Zwickau stehen die Protagonist:innen vor der Frage: bleiben oder gehen? In einem TikTok-Video, das auf die weiße Wand projiziert wird, berichtet Junah von ihrem Leben in Annaberg-Buchholz. Ihrer Community erzählt sie, wie...

Die Tetralogie „Inside Outside Europe“ westsächsischer Theater bei der Kulturhauptstadt Chemnitz

Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin

Theater und Orchester der Stadt Heidelberg: Liebe lässt die europäische Eiszeit schmelzen 

In Zeitlupe zerrt sie die in Plastik eingeschweißten Fleischstücke auf die weiße Bühne. Erst die kleinen, blutroten Steaks, später ganze Fische, Schweine und Rehe. Das Plastik knistert. Yong-Hye verbannt alle tierischen Produkte aus ihrem Leben und stößt damit auf tiefstes Unverständnis in ihrem Umfeld. „Warum isst sie kein Fleisch mehr?“, fragen die Eltern, der Ehemann, die Schwester, der Schwager. Yong-Hye (Kotti Yun) antwortet lediglich: „Ich hatte einen Traum.“ Überhaupt fallen nur wenige Worte in der deutschsprachigen Erstaufführung von Han Kangs Roman „Die Vegetarierin“. Als die südkoreanische Autorin 2024 den Literaturnobelpreis erhielt, stand das Stück schon auf dem Spielplan des Burgtheaters. Der Vorschlag für den Stoff kam von Regisseurin Marie Schleef selbst. Es war ein Glückstreffer. Schleefs formstrenger Stil passt ganz wunderbar zur Protagonistin des Stücks: Yong-Hyes leise Konsequenz überträgt sich auch auf den Theaterabend. Schleef hat den Text zwar radikal gekürzt, dennoch inszeniert sie nah am Roman und in drei Kapiteln die Geschichte dieser immer radikaleren Verweigerung. Yong-Hyes Ausstieg aus dem System passiert unbeirrt, aber leise. Die Erzählung am Akademietheater läuft vor allem auf der Bildebene ab. Das Ensemble bewegt sich in Slow Motion über die Bühne. Egal ob es geht, Sex hat oder sich gegen einen medizinischen Eingriff wehrt,...

„Die Vegetarierin“ von Han Kang (DSE) – Regie Marie Schleef, Bühne Lina Oanh Nguyễn, Kostüme Ji Hyung Nam, Sounddesign Christoph Mateka, Video Lillian Canright

Burgtheater Wien: „Ist es denn verboten zu schrumpfen?“

Schwein gehabt

Dominique, du lebst seit Langem in bzw. bei Weimar, der Goethestadt. Derweil warst du gerade weit weg unterwegs mit Goethes „Faust“ als Solo, bearbeitet und inszeniert von Torsten Fischer. Welchem Impuls bis du dabei gefolgt? Dominique Horwitz: Der Erfüllung eines Traumes. Als junger Schauspieler wollte ich unbedingt zwei Rollen in meinem Leben gespielt haben: Cyrano de Bergerac und Faust. Den ersten Traum durfte ich mir vor 20 Jahren am Hamburger Schauspielhaus erfüllen, und gerade eben Faust. Obwohl man bei dir sofort an Mephisto denkt. DH: Das Korrupte und Käufliche in Figuren ist immer faszinierend. Man weiß, dass sie straucheln werden, und wartet gespannt darauf, wann und wie es passieren wird. Bei Faust ist der Leidensweg besonders lang und beschwerlich. Das hat mich gereizt. Viel mehr als die Rolle Mephisto. In „Herr Teufel Faust“ spielst du jetzt beides und noch mehr: den lieben Gott, außerdem Gretchen und eine Hexe. Alles Facetten einer Persönlichkeit? DH: Durchaus. Nicht nur im wahren Leben, sondern auch in dem Stück sehnt sich jeder nach Erlösung und Erfüllung. Sogar Gott, dem es im Paradies vor lauter Engelsgesang richtig öd wird – eine kleine Wette mit dem Teufel kann da wohl nicht schaden. Torsten Fischer lässt in seiner...

Im Gespräch mit Michael Helbing

Was macht das Theater, Dominique Horwitz?

Was macht das Theater, Anne-Cathrin Lessel?

Stiller Abbau?

Ruhrfestspiele Recklinghausen/Theater Münster: Ein Krieg führt immer zum nächsten

Samtener Schutzraum

Leere Bühnen  für volle Köpfe?

Personen PENTHESILE:A:S ACHILL:E:S Noch mal Krieg um Troja. Noch mal zerreißen sich die Götter Völker zerreißen sich Familien Paare Die Geschlechter zerreißen sich Blut hört nicht auf zu fließen Überschwemmt alles Unversiegbar Wie die Begierde Blut und Begierde müssen Fließen Pulsieren Sich ineinander vermischen Drinnen und draußen Penthesile:a:s Der Amazonen größte Königin Zähne fest zusammen und Fäuste geballt, In Hochspannung auf ihrer Stute Stürzt sich auf Achill:e:s Der Griechen größten Krieger Speer und Schwanz gehoben Er staunt Erstarrt Sein Blick, fixiert auf Penthesile:a:s Sie rast gerade Galoppiert gerade Stürzt sich gerade Spießt sich gerade auf den Speer auf In der plastifizierten Luft. PENTHESILE:A:S – Noch immer fällt der Staub. Er schluckt die Schreie nicht Er schluckt die Totinnen nicht, die zwischen verbogenen Waffen die Ebene bedecken. Er schluckt weder das Licht noch die Gier nach Umsturz. Noch immer klirren Waffen Noch immer fallen meine Gefährtinnen von ihren Stuten Ihre Stuten winden sich am Boden In ihrem letzten Wiehern. Bin ich die Einzige, die nicht fällt? ACHILL:E:S – Ich bin auch nicht gefallen. PENTHESILE:A:S – Lass den Staub nicht die Leichen meiner Gefährtinnen bedecken Die Nüstern ihrer Stuten stopfen Den Glanz ihrer Waffen trüben. ACHILL:E:S – Eure Waffen, heißt es, seien...

Originaltitel: Penthésilé.e.s (Amazonomachie)

Penthesile:a:s Amazonenkampf

Das Nest sauber halten

Sandra und Tom, in und mit eurem Performancekollektiv Farn habt ihr am neuen theater Halle die deutschsprachige Erstaufführung des französischen Stückes „Penthesile:a:s“ (<a href="https://tdz.de/artikel/3856c3b5-e854-4769-8eef-1533bb028485">Stückabdruck</a>, <a href="https://tdz.de/artikel/0f088b9c-d0b5-42b7-bef4-17274722a344">Kurzkritik</a>) von MarDi inszeniert. In diesem, laut Untertitel, Amazonenkampf, begegnen sich Penthesile:a:s und Achill:e:s im und nach dem Tod, der wohl auch das Sterben einer alten Ordnung bedeutet, neu. Dieser moderne, radikal feministische Blick auf einen Mythos läuft auf den Satz zu: „Es wird keine anderen Lösungen geben als Wir.“ Was hat euch daran vor allem interessiert? Sandra Hüller: Tom hat immer betont, und ich finde es auch spannend, dass zum ersten Mal eine Frau diesen Stoff bearbeitet, der bislang nur von Männern literarisch angefasst wurde (kurz nach MarDis Stück entsteht Nino Haratischwilis „Penthesilea. Ein Requiem“ – <a href="https://tdz.de/artikel/e8386316-381d-408b-8b90-b3deabb11a53">siehe TdZ 04/2024</a>). Es gibt eine bestimmte Ungeduld in diesem Text, die mir gefällt. Da versucht niemand mehr, nett zu sein. Diese Direktheit, die an keiner Stelle ein Blatt vor den Mund nimmt, finde ich beeindruckend. Und ich mag, dass die Frau lange redet, was ja auf Bühnen nicht so üblich ist. Tatsächlich war mir während der Arbeit an Kleists „Penthesilea“, mit Jens Harzer, in der Regie von Johan Simons (2018, Salzburg/Bochum) aufgefallen, wie irritierend das...

Sandra Hüller und Tom Schneider über MarDis Stück „Penthesile:a:s“ und dessen deutschsprachige Erstaufführung am neuen theater Halle im Gespräch mit Michael Helbing

„Die Utopie funktioniert erst, wenn alles auf dem Tisch ist“

Nervös sitzt sie vor ihrem Schminkspiegel. Tuscht sich noch einmal die Wimpern, legt Rouge auf. Der Blick wandert immer wieder nach draußen, sie steht auf, schaut durch das staubige Fenster in die Werkstatt, in der ihr Mann an einem Auto schraubt. Eine Kundin kommt herein, endlich, er ist abgelenkt, die Luft ist rein. Ein schneller Gang zum Telefon: „Hey, na, was machst du? ... Ok, bis gleich!“ Wenige Minuten später kommt er in die Werkstatt, selbstbestimmt mit perfekt sitzendem Anzug. Es riecht nach Metall und Schmieröl, es ist dreckig. Jeder Schritt hallt laut durch die hohe Halle. „Ich geh nochmal in die Stadt“, sagt sie freudig erregt, zieht den Lippenstift nach und geht davon. Vorbei an der aprilfrisch duftenden Wäscherei, mehrere Treppen hinauf in einen eichenvertäfelten Raum des Plaza Hotel. Dort wird wild geknutscht und ein Sekt nach dem anderen aus teuren Gläsern mit Kristallschliff getrunken. Die Outfits sind nobel: maßgeschneiderte Zweireiher, paillettenverzierte Hüte, seidene Feinstrumpfhosen (Kostüme Nadine Baske, Christina Sieber). Es ist Sommer, es ist eine riesengroße Party und wir sind mittendrin. Vor einhundert Jahren, also 1925, erschien F. Scott Fitzgeralds berühmter Roman über die Welt der Reichen und Schönen, vor allem aber Mächtigen und Intriganten, des Glamours und...

„Gatsby!“ von Daniel Morgenroth nach F. Scott Fitzgerald – Übersetzung, Fassung und Regie Daniel Morgenroth, Bühne Damian Hitz, André Winkelmann, Daniel Morgenroth, Kostüm Nadine Baske, Christina Sieber, Choreografie Massimo Gerardi, Komposition Albert Seidl

Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau: Long Island, Görlitz Süd

Romeo und Julia in der Cadillac-Welt

Abwehr gegen nackte Nonnen

Theater an der Ruhr Mülheim: Lost in Weirdness

Ein Mann, ein Stuhl, ein Rahmen drum herum. Katurian ist ein Gefangener, zwei Männer verhören ihn. Gleich zu Beginn der Aufführung von Martin McDonaghs abgründigem Theaterthriller „Der Kissenmann“ unterläuft Roland Riebeling als Katurian alle Erwartungen. Er begegnet den Männern, denen er ausgeliefert ist, mit souveräner Liebenswürdigkeit. Als wären sie Gäste in seinem Wohnzimmer, als würde gleich der Käsekuchen auf dem Tisch stehen. Eine Strategie, natürlich. Und nur die erste von vielen überraschenden Wendungen, die an diesem Abend folgen werden. Ein Mann kämpft um sein Leben und das seines Bruders, hellwach, empathisch, höchst intelligent und vielleicht ebenso durchtrieben. Der Schauspieler Roland Riebeling hat eine besondere Qualität. Egal, welche Rolle er verkörpert – er ist ein Sympathieträger. Gerade weil er Menschen mit Macken und Fehlern verkörpert. Wie den Kommissar Norbert Jütte im Kölner „Tatort“, ein Mensch, der ungern die Komfortzone der Vorschriften verlässt. Ein Beamter, der furchtbar nerven kann, der aber auch für die Sehnsucht nach Sicherheit steht und so viele Menschen abholt. Er ist mehr als ein komödiantischer Sidekick, in einer Folge wird er entführt und kommt an seine Grenzen. Oft verkörpert Riebeling bodenständige Menschen, auf der Bühne wie im Fernsehen. Er ist die Idealbesetzung für den Arbeiter Klaus Gruber in...

„Tatort“, Netflix und die Bühne – Roland Riebeling spielt, inszeniert und unterrichtet

Theater der Herzlichkeit

Gibt es tatsächlich eine „Godot“-Welle? Gerade sind große Produktionen herausgekommen, die ausschließlich über die Regie identifiziert werden: Ulrich Rasche in Bochum, Claudia Bauer in München, nun Luk Perceval am Berliner Ensemble. Vor zwei Jahren gab es „Godots“ von Claus Peymann in Wien und von Fanny Brunner in Potsdam. Aber eine Welle ist das nicht. Eher ein wiedererwachtes Interesse an einem offenbar nie völlig auszulotenden Stück, und man müsste schon etwas ausholen, was gewissermaßen die Schwingungen unter der Stückrezeption angeht. 1996 erschien James Knowlsons große Biografie „Damned to Fame“ (2001 auf Deutsch), die mit vielem unbekannten Material – darunter das „German Diary“ von Becketts Deutschland-Reise 1936/37 – den biographical turn der Studien zu dem sein eigenes Werk beschweigenden Autor einleitete. Beckett gab bekanntlich bis auf eine Ausnahme keine Interviews. Die, die heute so bezeichnet werden, waren meist nachträgliche Aufzeichnungen von Gesprächen. Doch nun gab es ein Buch, in dem vieles biografisch erklärt wurde, und die Rätsel begannen sich zu lichten. 2008 erschien dann eine kleine Aufsatzsammlung des französischen Philosophen Pierre Temkine, in dem die Situation von Vladimir und Estragon als die von aus dem besetzten Frankreich nach Italien fliehenden Pariser Juden entschlüsselt wurde – was Beckett, der in der Résistance aktiv...

Luk Perceval überrascht mit „Warten auf Godot“ am Berliner Ensemble

Godot woher?

Neue Berufsfelder erfinden

Ich arbeite einfach gern

Erst der Wald, dann der Boden

Natürlich wird noch über die Länge dieser Inszenierung diskutiert. Nach fast sieben Stunden, mit einer Pause nach dreieinhalb Stunden, endet die vielfache Verschränkung von Heiner Müller und Büchner kurz vor zwei Uhr in der Nacht mit dem Applaus für ein wie berauscht wirkendes Ensemble. Das ist selbst in Castorf-Dimensionen ein ungewöhnlich langer Ritt mit allerhöchst aufreizender Aufmerksamkeitsbeanspruchung – ein Theaterexzess der Extraklasse. Im ersten Teil steht Heiner Müllers 1979 geschriebene „Erinnerung an eine Revolution“ im Vordergrund. Drei Abgesandte des französischen Konvents, die eigentlich die Revolution in die koloniale Karibik bringen sollten, haben erfahren, dass die Sache abgeblasen wurde. Denn Napoleon ist inzwischen das Resultat einer Revolution, die auf halbem Wege zu Freiheit und Gleichheit stehen geblieben ist oder mit ihrem Terror schon zu weit gegangen war – das ist Büchners Drama vom revolutionsmüden Danton und einem halbblind mit entfesselter Gewalt in die Geschichte preschenden Robespierre, der selbst zum Opfer seines Tuns wird. Castorf schließt im Ganzen für seine heutige Perspektive zwei Stücke zusammen, die die Französische Revolution von 1789 bis 1794 als kritisch-negativ mit bis in die Gegenwart wirkenden Folgen darstellen und in grellen Szenen mit ihrer wuchtig metaphorischen Sprache jeweils Gipfel der deutschen Dramatik im 19. und 20. Jahrhundert...

„Dantons Tod“ von Georg Büchner unter Verwendung von „Der Auftrag“ von Heiner Müller – Regie Frank Castorf, Bühne Aleksandar Denić, Kostüme Adriana Braga Peretzki, Musik William Minke, Videodesign Andreas Deinert

Staatsschauspiel Dresden: Dantons Rausch

Mit der Pfeilspitze ins Herz hinein

Die mediale Verwunderung war nicht gering, als vorab durchsickerte, dass der ­Publizist und Verleger Wolfram Weimer am 6. Mai zum Staatsminister für Kultur und Medien ernannt werden würde. Was der Wechsel von der ehemaligen Ton-­Steine-Scherben-Managerin (Keine Macht für niemand) Claudia Roth zum Blattmacher vom Tegernsee Weimer für die Theaterszene bedeuten könnte, darüber macht sich Lara Wenzel im ersten Artikel dieses Heftes Gedanken. Roth hielt zur ­Eröffnung des Berliner Theatertreffens am 2. Mai eine ihrer letzten emphatischen ­Reden „mit dem Vertrauen, dass die Kunst weiterwächst“. Kunst und Kultur sind vielen eine Heimat, manche sagen sogar die einzige. Bei der Beschäftigung mit dem Schwerpunkt entwickelte sich in der Redaktion die Auffassung, dass man den Begriff im Plural denken müsste. Deswegen sind die fünf Beiträge nun ausnahmsweise nicht Duden-gerecht mit „Heimat(en)“ überschrieben. Dabei stellte sich heraus, dass die Fernsehmoderatorin Dunja Hayali bereits die Pluralvariante für den Duden vorgeschlagen hatte. Dessen Redaktion saß lange in Mannheim, wo das Nationaltheater gerade ein „Haymatministerium“ eingerichtet hat, mit dem Plural in wortspielerischer Rechtschreibung. Ungefähr 250 Stunden lang hat der amerikanische Theaterwissenschaftler Andrew Friedman den Ibsen-Performances von Vegard Vinge und Ida Müller mehr oder weniger aktiv beigewohnt, auf die er nun eine begeisterte Laudatio zum Hein-Heckroth-Preis...

Editorial

Bewegen, Zeichnen, Überzeichnen

Was macht das Theater, Jörg Hartmann?

Die Zeiten sind absurd, und da verwundert es wenig, dass auch die Theater die absurden Stücke wieder entdecken. Alles ist unsicher geworden, vermeintliche Gewissheiten lösen sich in Rekordtempo in Luft auf. Diesen latenten Bedrohungszustand fangen die Dramen eines Samuel Beckett gut ein. „Warten auf Godot“ ist eine Partitur des Menschseins an sich, des Geworfen-Seins in eine Welt, die schwer zu verstehen ist (oder gar nicht?). Da sitzen zwei an einer Landstraße und warten. Worauf? Das wissen sie selbst nicht genau. Auf jenen Godot eben, der irgendwie die Veränderung bringen soll oder gar die Erlösung. Wie lange sie warten, ist ungewiss. Dass ihr Warten vergeblich ist, einigermaßen gewiss. Am Münchner Residenztheater hat sich die Regisseurin Claudia Bauer nun diesen modernen Klassiker vorgenommen. Und es ist eine erstaunliche Textwahl für eine, die bekannt ist für ihre saftigen Molière-Überschreibungen, ihre Ernst-Jandl- oder Karl-Valentin-Abende. Kurz: für ihren beherzten Umgang mit literarischen Vorlagen. Nun also dieses Stück, das kaum einen Zugriff zulässt und bei dem Titel gleich Inhalt ist. Claudia Bauer gelingt dennoch ein unerwarteter Coup, der nicht nur mit den strengen Vorgaben konform geht, sondern diese gar auf die Spitze treibt: Am Bühnenhorizont taucht ein überlebensgroßes Beckett-Hologramm auf. Einem Gott gleich wird der Autor-Übervater...

Claudia Bauer holt sich am Münchner Residenztheater ihre „Godot“-Freiheit aus Beckett selbst

Übervater Beckett

St. Pölten:: Peter-Turrini-Dramatiker*innenstipendium für Paula van Well

Publikumserregung mit Extradimension

Von der ehemaligen Managerin von Ton Steine Scherben zu einem konservativen Verleger – stärker könnte der Kontrast zwischen Claudia Roth und Wolfram Weimer kaum sein. Dass der ehemalige Chefredakteur der Welt und des von ihm gegründeten Cicero-Magazins Staatsminister für Kultur und Medien werden würde, damit hatte lange niemand gerechnet. Dabei stehen sich Weimer und Friedrich Merz nicht nur ideologisch nahe; sie sind auch Nachbarn am malerischen Tegernsee – nur ein paar Bootslängen entfernt von Unternehmern wie Klaus Gehrig, dem ehemaligen Aufsichtsratsvorsitzenden von Lidl, und Alischer Usmanow, dem ehemaligen Generaldirektor von Gazprominvestholding. Ob seine hochkarätigen Nachbarn mit der von Weimer herausgegebenen Anthologie „Mit Platon zum Profit. Eine Philosophie-Lesebuch für Manager“ zum Erfolg gefunden haben? Der umtriebige Publizist interessiert sich jedenfalls schon länger für die erfolgreichen Banker und Investoren der Wirtschaftsgeschichte. Erst widmete er seine Promotion der Bank of North America im 18. Jahrhundert, dann folgte ein populärwissenschaftliches Buch über die „Geschichte des Geldes“. Nach seinem Abschied von der Axel Springer AG gründete Weimer 2004 das Magazin Cicero mit Geldern eines Schweizer Medienunternehmens. Die externe Finanzierung gab dem Blatt Bewegungsspielraum, eine konservative Linie zu finden jenseits von Absatzzahlen. 2012 schuf er dann mit seiner Frau Christiane Goetz-­Weimer die auf Wirtschaftsjournalismus spezialisierte...

Der Publizist Wolfram Weimer wird als Staatsminister für Kultur und Medien auch für die Theater eine wichtige Rolle spielen

Kulturpolitik, aber meta

Leipzig: Auswahl fürs Festival Politik im Freien Theater

Vor einigen Monaten erzählte mir ein Kollege von einem Nach­gespräch zu unserer Inszenierung von Dino Pešuts Jugendstück „Der (vor)letzte Panda oder die Statik“, in dem es um das Aufwachsen in und nach dem Krieg in Kroatien geht. Ein jugendlicher Schüler fragte: „Warum habt ihr Krieg so negativ dargestellt?“ Bis heute weiß ich nicht, wie man auf diese Frage reagieren sollte. Werde ich den schweren Stein je wieder los, der mir seitdem manchmal im Magen liegt? Ich will ehrlich sein: Mit der Frage nach den Möglichkeiten des Theaters, auf die „Zeitenwende“ zu reagieren, habe ich mich schwergetan. Ich konnte mich mit dem Begriff der Zeitenwende nicht anfreunden und haderte mit dem Gefühl, das Theater schiebe vor allem seine eigene Relevanz vor dem Hintergrund der Krisen an. Ich formulierte einen Hot Take nach dem anderen und verwarf sie alle wieder, weil sie mir zu ungenau und einfach vorkamen. Es folgte, wie sollte es anders sein, eine kurze Existenzkrise mit dem Theater und der Kunst: Was mache ich hier eigentlich? Eine befreundete Dramaturgin stellte zu Recht fest: Ein einziges ukrainisches Kind in einer Schulklasse schafft mehr echte Nähe zum Thema Krieg, als eine Theatervorstellung es könnte. Ich zögerte. Ich versuchte, mich an jede...

Dramaturgie des Zweifels

Deutsches Nationaltheater Weimar: Drei Fiktionen für dreizehn Millionen Schicksale

Luise Voigt, Sie stammen aus Nordhausen in Thüringen, haben aber, als junge Regisseurin, nach Ihrem Studium der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen, lange ausschließlich im Westen Deutschlands gearbeitet, in Oldenburg, Bonn und Heidelberg. Dann kam 2022 Ihre Bulgakow-Inszenierung „Der Meister und Margarita“ am Nationaltheater Weimar in Thüringen, die vieles verändert hat. Inwiefern war schon der heimatliche Ort für Sie etwas Besonderes? Luise Voigt: Er war es jedenfalls mehr, als ich erwartet hatte. Erst vor Ort habe ich gemerkt, dass es mir etwas bedeutet, in Thüringen zu arbeiten. Und Bulgakows Roman ist ja ein „Ost-Stoff“. Ich hatte das Gefühl, hier auf ein anderes kulturelles Gedächtnis zurückgreifen zu können als im Westen. Der Abend wurde zum Festival Radikal jung nach München eingeladen und für einen FAUST-Preis 2023 nominiert. Jetzt war Ihre am Residenztheater München entstandene Brecht-Inszenierung „Die Gewehre der Frau Carrar“, ergänzt um die Fortschreibung „Würgendes Blei“ von Björn SC Deigner, beim Berliner Theatertreffen zu Gast. Können Sie das direkt auf Weimar zurückführen? LV: Ja, auf jeden Fall. Zu „Meister und Margarita“ sind sehr, sehr viele Kollegen angereist, u. a. eben auch vom Residenztheater. Da hatte sich eine besondere Dynamik entfaltet … … worauf Inszenierungen in Düsseldorf, Graz oder Hannover folgten. Nun wieder...

Luise Voigt über ihr Projekt „Wir sind das Volk“, das im Mai am Nationaltheater Weimar uraufgeführt wurde, im Gespräch mit Michael Helbing

Weltall, Erde, Mensch

Der Notfall als Prinzip

Neue Dramatik trifft Figurentheater

Dober Dan, Ljubljana

RambaZamba Theater Berlin: Riesenspaß mit Hintersinn

Heidelberger Stückemarkt: Das schreckliche Geschwür der Vergangenheit

Solidarität und Waffen

Zu meinem letzten Geburtstag bekam ich von zwei guten Freunden eine Base-Cap mit der Aufschrift „MAKE THEATER SHORTER“ geschenkt – auf der Rückseite: „83 Minutes (with ovations)“. Zurück geht dieses Geschenk auf einen gemeinsamen Theaterbesuch, nach dem ich tollkühn behauptet hatte, man könne eigentlich jedes Stück auf 80 Minuten kürzen, ohne dass etwas verloren ginge. Als ich das irgendwann in der Redaktionskonferenz mal sagte, zog ein Kollege kräftig an seiner Zigarette, atmete laut aus und entgegnete mir: „Na ja, manches ist vielleicht zu lang, weil es zu kurz ist.“ Ja, das lässt man dann erst mal so stehen: „Das muss ich jetzt drüber nachdenken.“ Also dachte ich nach. Ich ging rein. Allgemeingütige Ausführungen darüber, wie lang ein Theaterstück idealerweise sein soll, gibt es nicht. Zwar gab und gibt es seit der Antike Vorstellungen davon, welche temporäre Gesetzmäßigkeit zu gelten habe, jedoch immer nur als relative Konsequenz von primären Inhalts- und Darstellungsformen. Während also (moderne) Tanzaufführungen – schon allein aus physischen Gründen – selten länger als 60 Minuten dauern und ein Castorf-Abend gerne einmal – aus Prinzip – fünf oder sechs Stunden geht, umspannen die immersiven Arbeiten von SIGNA schon auch mal einen kompletten Tag – denn Immersion braucht Zeit. Im...

An dieser Stelle greift TdZ-Redakteurin Lina Wölfel Phänomene der Theaterwelt auf.

Stücklänge(n)

„Wir gehen rein“

Heimat positiv besetzen: Das muss Meiningens Schauspieldirektor Frank Behnke bitter nötig erschienen zu sein, als er den Liederabend „Thüringer Spezialitäten“ inszenierte, der seit Mitte März als Schauspiel-Revue, angesiedelt in einem familiengeführten und großflächig ausgekachelten Fleischereifachbetrieb, dieses und jenes Liedgut durch den Wolf dreht. Der Heimatbegriff darf allgemein als Politikum gelten, Behnke ging es aber vor allem um eine originäre Unterhaltungsposition sowie Anlässe, darin zu singen. „Ich habe nicht wirklich eine Botschaft.“ Seine „Thüringer Spezialitäten“ heben ab aufs Kulinarische, was in diesem Fall deftige Kost bedeutet, die zumindest Veganern das Grausen lehrt. Schon der Theatervorhang besteht aus lauter Wurstketten. Wagenradgroße Wurstscheiben sowie Schweinehälften kommen zum Einsatz. Zwischenzeitlich stecken die Schauspieler in Kostümen einer Rostbratwurst oder eines Kartoffelkloßes, eines Senfbechers oder Magenbitter-Fläschchens, Marke Rhöntropfen. Und im riesengroßen Bratwurstbrötchen fährt eine Darstellerin zu „Fallin‘“ von Alicia Keys aus dem Schnürboden herunter. Diese grenzenlose Feier des Fleisches kommt so übertrieben und überbordend daher, dass sie klare Zutaten von Konsumkritik nicht nur enthalten kann, sondern muss. So ähnlich oder vielleicht doch ganz anders hätte das bereits vor vier Jahren über die Bühne des südthüringischen Staatstheaters gehen sollen: als eine sichere Bank für den Neustart, der für Behnke, nach Osnabrück, Nürnberg, Hamburg oder Münster, das erste...

In der Revue „Thüringer Spezialitäten“ geht’s um die Wurst, in der Schauspiel-Tanz-Performance „Die Rückeroberung der Hoffnung“ um die fragile Gemeinschaft

Meininger Heimatabende

Lego meets Ikea

Ruhm den Kleinen!

Thüringer Befund

Seit 1953 gibt es das Donostia Zinemaldia, das internationale Filmfestival in San Sebastián, der Perle des spanischen Baskenlands am Golf von Biskaya. Später etablierte sich hier auch eine bunte Surferszene und 1988 wurde die dFERIA gegründet, dem Namen nach eine Art Performancemesse und de facto ein mehrspartiges Theaterfestival für Schauspiel, Tanz, Performance und zuletzt auch neuen Zirkus. Die einzelnen Beiträge bilden ein Programmgemisch aus dem regionalen Baskenland, anderen Regionen Spaniens sowie im Internationalen in erster Linie aus den spanischsprachigen Ländern Lateinamerikas. „Da sind viele Faktoren in der Programmierung auszubalancieren“, sagt der noch junge französisch-italienische Kurator Lorenzo Pappagallo, „und nicht alle haben direkt etwas mit einer künstlerischen Programmkomposition zu tun.“ Gemeint ist das Spannungsfeld zwischen der kulturellen und sprachlichen Autonomie des Baskenlands und der Repräsentation des restlichen Spaniens im Verhältnis zu den internationalen Anteilen. Letztlich aber auch das Verhältnis der einzelnen Sparten zueinander, nicht nur mit Blick auf Größe und Quantität, sondern auch in der Qualität. Obwohl das Festival seit Jahrzehnten existiert, ist offenbar gerade eine Phase erreicht, wo es mit internationaler Ausstrahlung neu positioniert werden soll. Als kulturpolitischen Hintergrund kann man ohne Weiteres erkennen, dass das im Vergleich zu anderen Regionen des Landes sehr wohlhabende Baskenland etwa so wie das...

Die Performing Arts Messe dFERIA im baskischen San Sebastián will in die internationale Festivalliga aufsteigen und sucht nach potenter Programmierung

Festival im Aufwind

Bodyhorror/Tarantino

Bilder im Takt eines Textes

Der Rechtsruck in den westeuropäischen Demokratien betrifft gerade Menschen mit Migrationshintergrund. Sie sind Anfeindungen ausgesetzt und müssen mit Rassismus und immer öfter auch mit offenen Angriffen leben. Ihren Themen bietet das „Haymatministerium“ des Nationaltheater Mannheim ein Forum. In der multikulturell geprägten Stadt leben Menschen aus 167 Nationen. Da gibt es immer wieder Konflikte. „Eine Gesprächsreihe zur postmigrantischen Gesellschaft“ lautet der Untertitel des Formats, das seit der Spielzeit 2019/20 erfolgreich läuft. „Wir greifen Themen auf, die Menschen aus vielen Kulturen bewegen“, sagt Sophie Kara-Ebner, die an der städtischen Bühne als Referentin für Diversität arbeitet. Ihr geht es darum, „die Vielstimmigkeit der Stadtgesellschaft“ im Kontext des Theaters abzubilden. Das müsse sich auch in den Spielplänen und im Ensemble spiegeln, ist die Kuratorin überzeugt. Dem Mannheimer Schauspielintendanten Christian Holtzhauer ist Diversität im künstlerischen Prozess wichtig. Hausautor in der Spielzeit 2025/26 ist Emre Akal, ein deutscher Autor mit türkischen Wurzeln. Gemeinsam mit der Dramaturgin Mascha Luttmann betreut Kara-Ebner die Reihe im Studio Werkhaus des Nationaltheaters, die längst ein Stammpublikum gefunden hat. „Menschen ins Theater zu bringen, die sonst nicht in den Vorstellungen zu finden sind“, das ist für beide ein wichtiger Beweggrund für die Reihe. Denn obwohl im Spielplan des Nationaltheaters migrantische Perspektiven nicht...

Das „Haymatministerium“ des Nationaltheater Mannheim beleuchtet postmigrantische Perspektiven

„Heimat ist für mich das Gespräch“

Ästhetische Selbstreflexion

Schauspiel Stuttgart: Was witzig ist und was nicht

Theodoros Terzopoulos ist der Meinung: „Die Kunst beginnt dort, wo die Autobiografie endet.“ In seinem Lebenswerk erweckte der griechische Theaterregisseur die antiken Tragödien wieder zum Leben, reiste mit seiner gefeierten Inszenierung der „Bakchen“ um die Welt (wie gerade mit seiner „Orestie“ aus dem vergangenen Jahr) und entwickelte eine Theatermethode, die sich aus Ritual und Körperlichkeit speist. Mit seiner experimentellen und politischen Art, Theater zu machen, schuf er Inszenierungen, die mit unzähligen Menschen räsonierten. Im Dialog mit der Historikerin Sabine Fuchs offenbart sich, wie seine Biografie, vor allem die Zeit nach dem griechischen Bürgerkrieg, in seinen Arbeiten dennoch zur Sprache kam. Dieses unaufgearbeitete Trauma, „das immer existierte und nie aufgehört hat zu bluten“, bestimmt noch heute die griechische Gesellschaft. Der Gesprächsband „Ich bin kein Opfer des Bürgerkriegs“ kreist um diese Erfahrung, ordnet sie historisch in einem Aufsatz von Sabine Fuchs ein und bringt sie in Verbindung mit den Arbeiten des Regisseurs. Ein Traumbild steht für Terzopoulos am Anfang seiner Auseinandersetzung mit dem Trauma: In seinem Heimatdorf läuft er als Kind durch eine Senke an der Straße entlang. Er weint und sucht seinen Vater. Diese Erinnerungsfetzen kamen ihm irreal vor, bis ihm seine Mutter half zu verstehen: An diesem Tag hatten Gendarmen...

Ein Gesprächsband über den historischen Kontext des Theaters von Theodoros Terzopoulos

Die Steine bröckeln

sogar theater Zürich: Easy said, but schwer getan

Berufsbild: Digitaldramaturg

Ja, er lebt noch – oder: Brecht is back!

Eine Landschaft wie im Märchen, hinter Seen und Hügeln führen Wege übers Land, es gibt Straßen, sogar eine Autobahn schlängelt sich vorbei, manchmal fahren Züge. Theaterleute kennen die Strecke, 30 Kilometer hin und her zwischen Neustrelitz und Neubrandenburg. Es ist sensationell schön hier, es gibt Dörfer, Umland, ein Residenzstädtchen, aber sonst ist nicht viel los, sagen die Mecklenburger:innen, die hier wohnen. Ja, Provinz eben. Und da ruft er schon aus: Provinz gibt’s nicht, jedenfalls nicht da, wo ich bin! Maik Priebe, Schauspieldirektor, im Weggang begriffen. Im Einvernehmen heißt es, aber natürlich ahnt man, dass diese Formulierung einen Zoff hinter den Kulissen verdeckt. Zwei Spielzeiten lang hat er hier die Schauspielsparte der Theater- und Orchestergesellschaft mbh, kurz TOG, mit seinen Ideen ausgestattet, umgestaltet, herausgehoben, relevant gemacht – nicht krakeelend, sondern gewandt und gewitzt und mit viel Prominenz – die Provinz mit einem herzerfrischenden Glamourfaktor versehen. Ach ja, Provinz gibt’s da nicht. Die letzte Inszenierung von Maik Priebe am Theater Neustrelitz war „Wege übers Land“ und das war die „Vertheaterung“ eines Filmstoffs, der schon einmal ein bisschen Hollywoodglitzer über die Region gestreut hat, wenn es auch das DDR-Fernsehen war, das den Fünfteiler 1968 mit DDR-Starbesetzung gedreht hat. Was er noch vorgehabt hatte,...

Maik Priebe hat das Schauspiel in Neustrelitz/Neubrandenburg in nur zwei Spielzeiten zu überregionaler Beachtung geführt – eine Bilanz

Spürsinn mit allen Registern

Dramaturgie der Solidarität

Belgrad: Nikita Milivojević nicht als künstlerischer Leiter von BITEF verlängert

Es gibt Menschen, die kann man sich unmöglich tot vorstellen, weil sie so durch und durch am Leben sind. Umso unvorstellbarer ist es, dass Carl nicht mehr da ist. Carl war auf großartige Weise mit dem Leben verbunden – weil er sich interessierte und fest entschlossen war, sich nicht zu langweilen. Auf dieser Ebene trafen wir uns. Er war eine Theaterspinne. Ich kenne niemanden, der auf so elegante Weise vernetzt war wie er. Das kam uns am Schauspielhaus Bochum sehr zugute. Dem Vorurteil, dass Stücke Anfang und Ende haben müssen – fünf oder drei Akte und einen gewaltigen Schluss –, trat er entschieden entgegen. Das aristotelische Gefängnis des Erzählens wollte er niederreißen. Wir waren uns selten so einig wie darin, dass Theaterabende nicht enden sollten. Inzwischen ist das bei mir zur Manie geworden – ein Branding, das durchschnittliche Stadttheater-Intendant:innen nicht gerade jubeln lässt, geschweige denn zum Telefon greifen. Was bei mir oft nur eine Ahnung war, kleidete Carl in Worte. Viele Worte. Manche aufgeschrieben (u. a. in „Plädoyer für die unglückliche Liebe. Texte über ­Paradoxien des Theaters“, Theater der Zeit 2005), manche in seiner bedächtigen, lächelnden Art gesprochen – mit Zigarette, jeden Heureka-Moment nutzend, den er selbst hatte oder im...

Zum Abschied von Carl Hegemann (1949-2025)

Hegelkant

Zerbrochene Familiengeschichten

Chemnitz und sein Schauspielhaus – ein Trauerspiel der Stadtpolitik

Rede zur Entgegennahme des Kurt-Wolff-Preises 2025

Das Thema Hitze  wird in Zukunft  auch dazugehören

Die Rache der Königinnen

Wir gehen rein

Ich bin nervös, weil Lobreden in den USA nicht üblich sind. Die beiden gängigen Genres amerikanischer Reden sind Bekenntnisse und Predigten. Deshalb möchte ich mit einem kurzen Bekenntnis beginnen, gefolgt von einer kleinen Predigt. Ich habe in den letzten 15 Jahren jede einzelne Produktion von Vegard und Ida gesehen – mehr als 250 Stunden ihrer Kunst in Oslo, Bergen und Berlin. Ich habe eine Dissertation, ein Buch und viele Artikel über ihre Arbeiten geschrieben, ich habe Seminare gegeben und Vorträge über ihre Performances gehalten. Dabei verstehe ich kaum Deutsch oder Norwegisch. Deshalb sehe ich mich dazu veranlasst, über die Sprache in Vegard und Idas Arbeit zu sprechen, die ich sehr wohl verstehe. Die Kunst von Vegard und Ida spricht für sich. Sie braucht keine Übersetzung. Sie ist einfach und direkt: Sie denkt Verbindungen zwischen Ibsens Stücken, der Welt und den persönlichen Sehnsüchten der Künstler:innen – und realisiert diese Bilder in einem fiktionalen Universum, das immer wieder von der Realität unterbrochen wird. Es ist ein Krieg zwischen Fiktion und Realität, inszeniert in einem Ibsen-Universum. Es ist die konsequenteste und bedeutendste Auseinandersetzung mit Henrik Ibsens Werk in der Geschichte des Theaters. Aber was diese Tatsachen für mich bedeutsam macht – warum ich...

Laudatio auf Vegard Vinge und Ida Müller zum Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis

Eine totale Szenografie

Die Signatur unserer Zeit

Eines Tages steht die Mutter vom Esstisch auf und stürzt sich vom Balkon. Lola, ihre heranwachsende Tochter, bleibt mit ihrem Zorn und mit ihrer Einsamkeit zurück. In ihrem Debütoman „Die Wut, die bleibt“ zeigt die Mareike Fallwickl die dunkle Seite der Care-Arbeit auf. Da blickt sie auf die Corona-Pandemie, in der vor allem Frauen mit der Kindererziehung alleingelassen waren. Am Staatstheater Karlsruhe befreit die Hausregisseurin Brit Bartkowiak den feministischen Zugriff der Autorin von jeder Verbissenheit. Mit starken Schauspielerinnen entwickelt sie Frauenporträts, die vor allem die Hilflosigkeit der Männer offenbaren. Mit ihrem Roman hat die österreichische Autorin und Literaturvermittlerin eine heftige Debatte ausgelöst. Zwar ist Gleichberechtigung in den westlichen Demokratien per Gesetz festgeschrieben, aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Fallwickl, die selbst zwei Kinder hat, beschreibt in gefühlsgeladenen Sprachbildern, was die Rollenverteilung der Geschlechter mit den Menschen macht. Die Rolle der Mutter Helene verkörpert die schwedische Schauspielerin und Opernsängerin Frida Österberg. Alleingelassen steht sie auf dem hohen Bühnengerüst, das Ausstatterin Cora Saller geschaffen hat. In dieser Welt sind die Menschen gefangen. Das Bühnenbild ist schlicht. Mit starker Lichtregie (Martin Eberle, Maximilian Decker) werden Gitter und Maschendrahtzaun zu Angsträumen. Mit ihrer klaren, abgedunkelten Mezzo-Sopran-Stimme singt Österberg Lieder von Joni Mitchell. Damit trifft...

„Die Wut, die bleibt“ von Mareike Fallwickl, Bühnenfassung von Jorinde Dröse und Johanna Vater – Regie Brit Bartkowiak, Bühne und Kostüme Cora Saller, Musik Polina Lapkovskaja, Choreografie Baris Comak

Staatstheater Karlsruhe: Verführerische Kämpferinnen für Frauenleben

Die Grenzen der Freiheit

Stück Labor 2023/24

„Prinzessinnen, Prinzen und all die Feen dazwischen. Wir sind wieder da, und wie immer wird es richtig gut riechen! Hier bei mir, wie immer an Mikrofon 3, ist die Femme fatale aus Michalovce, ein prominentes Gossip Girl der Bratislavaer Theaterszene, Regisseurin und Performerin Laura Petrus. An Mikrofon 2 grüße ich den slowakischen Ungarn aus Fiľakovo, den Dorfflaneur Nr. 1 und Erős Pista der Kunstszene, Dani Kálmán … Liebe Leute, das ist ‚Post! What?‘“. Während wir, die Zuschauer:innen, den Bühnenraum des Dresdner Festspielhauses Hellerau betreten und dabei dem Intro von „Post! What?“ zuhören, breitet sich der süßlich-holzige Geruch von Pilzbrühe in dicken Schwaden zwischen uns aus. Am Eingang haben wir ein Menü samt Serviette in die Hand bekommen. Willkommen zur „poetic degustation“, einem komponierten Festmahl, in dem sich Essen mit dem diskursiven oder poetischen Potenzial zeitgenössischer Kunst verbindet. Ein Fünf-Gänge-­Menü, das eine Brücke zwischen der Slowakei und Dresden, zwischen Genuss und Diskurs, zwischen Krautsalat und rechter Kulturpolitik schlägt. Das Konzept „BRUCHOVRAVY“ – slowakisch für „Ventriculus“ was wiederum der lateinische Begriff für „Magen“ in der Medizin ist, aber auch für Hohlräume oder Kammern von Organen gebraucht wird – wurde von dem Bildenden Künstler Dávid Koronczi initiiert. Bei „BRUCHOVRAVY“ handelt es sich um...

Der slowakische Künstler Dávid Koronczi performt geselliges Essen mit politischem Anspruch

Guten Appetit!

Kunstfreiheit, Kürzungen und Ukraine-Unsolidarität

München: Auswahl für Radikal jung Festival

Mit nachhaltiger Kunst  die Menschen berühren

„Sie wollen Institutionen, die sie kontrollieren können“

Schauspiel Stuttgart: Überleben in der Karaokebar

Die Unsterblichkeit des Theaters

Die Schauspielbühnen Stuttgart: Die Eiseskälte der Erben-Generation

Was macht das Theater, Alexander Scheer?

Wenn die Unis Trauer tragen

Oft beginnt die Sprachlosigkeit mit der Frage, wo ich mich mehr in der „Heimat“ fühle. In den Sommern meiner Kindheit, in der Ägäis, fragte man mich auch dauernd, ob die Türkei oder Deutschland besser wäre. Auch darauf wusste ich keine Antwort, Deutschland hatte die besten Pommes, in der Türkei waren wir frei wie herrenlose Hunde und durften ganze Tage mit Spielen verbringen. Und jetzt hier, in diesem Text, werde ich mich in Seitengassen verstecken. Ich ahne die Erwartung, doch zufriedenstellen kann ich sie nicht. Nein, auf diese Frage kann ich nicht wie eine Nachtigall aus dem Morgenland trillern. Eher falle ich in einen Brunnen, der in seiner unermesslichen Tiefe seit Jahrtausenden viele Geheimnisse des Menschen verbirgt. Ich weiß, die zwei Generationen vor mir, die alles hinter sich gelassen, sich auf eine naiv kalkulierte Reise begeben haben, hätten eine pragmatische Antwort auf ihren Zungen. Ich nicht, ich versuche nur, meine eigene Geschichte wie ein kleinwüchsiger Yggdrasil zwischen Himmel und Erde fortzusetzen. Die Henna auf meinen Zweigen habe ich von meiner Oma Hanife geerbt. Eigentlich könnte dieser Text hier aufhören, mehr ist aus mir in der heutigen Zeit nicht zu holen. Doch die Mythologie, die Poesie, die Vergangenheit hängen hinter der Tür,...

Der Philosoph Ernst Bloch formulierte Heimat als das, „was jedem einst in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“. Das war groß und großzügig gedacht, auch wenn der zweite Teil zu suggerieren scheint, so etwas wie Heimat könne es im Erwachsenenleben gar nicht geben.

Seit Jahren wird um den Begriff so gestritten, dass er praktisch nicht mehr zu gebrauchen ist, ohne damit zugleich ein politisches Statement abzugeben. Dabei ging doch Bloch von einem sanften Universalismus („jedem einst“) aus – Heimaten für alle, wenn man so will.

Im Theater wird der Begriff verschieden besetzt und deshalb hier von verschiedener Seite beleuchtet. Den Auftakt macht Dinçer Güçyeter, dessen Romanadaption von „Unser Deutschlandmärchen“ (Maxim Gorki Theater) eben erst beim Berliner Theatertreffen zu sehen war. Luise Voigt spricht über ihre Wanderungen zwischen Ost- und Westdeutschland, Lara Wenzel und Michael Helbing untersuchen Beispiele in sächsischen und thüringischen Theatern, Elisabeth Maier schließlich stellt das in Mannheim gerade eröffnete „Haymatministerium“ vor.

Wohin mit dieser Heimat?

Was macht das Theater, Franziska Werner?

Nachdem ich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre Theaterwissenschaft studiert hatte, hatte ich mit einem Mal genug vom Theater. Ich kann sogar konkret sagen wieso. Ich hörte auf, ins Theater zu gehen, als es einfach schon zu lange Mode war, dass die Darsteller:innen unvermittelt anfingen zu brüllen, und zwar meistens an Stellen, an denen man komplizierte Emotionen hätte transportieren müssen. Natürlich ausgerechnet an diesen Stellen. Komplexität, emotionelle und intellektuelle, baut Spannung auf, in allen Beteiligten, den Darsteller:innen wie den Zuschauer:innen, und dann löst man diese Anspannung – wenn es schlecht läuft, durch die falschen Mittel, zu schnell. Anstatt, dass man sich da gemeinsam durchquält. Ja, die Spannungsauflösung dauert dann länger und es ist weniger garantiert, dass sie tatsächlich geschieht, dass man „die Leute“ nicht irgendwo unterwegs verliert, dass sie das Interesse verlieren, nicht mehr folgen können – aber, Hand aufs Herz, eigentlich gilt das eher für die Macher:innen selbst. Sie sind es, die die Konzentration, die Intensität nicht länger halten können. Und wenn wir das nicht können, neigen wir zu unauthentischen, lauten Lösungen und hoffen, dass der Nachhall lange genug andauert, dass alle schon zu Hause sind, bevor jemand merkt, dass keine echte Katharsis stattgefunden hat. Wie gesagt, am...

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen im monatlichen Wechsel: die Schriftstellerin und Übersetzerin Terézia Mora, die Dramaturgin Anna Bertram und ein Team vom Theaterhaus Jena.

Wie ich vom Theater weg und wieder zurückgekommen bin

Das Problem mit der Apokalyptik

Der Schweizer Künstler Julian Vogel/Cie. unlisted zeichnet sich durch seinen künstlerischen Ansatz an der Schnittstelle von Zirkus, Performance und Bildender Kunst aus. Ausgehend von Objekten, ihrem Zusammenspiel mit dem Körper und den Eigenschaften von Materialien, kreiert er szenische Universen. Julian Vogel ist Zirkusartist, Performer, Handwerker und Tüftler in einem. Mit seinen performativen und installativen Arbeiten aus Keramik hat er sich in den vergangenen Jahren einen Namen gemacht. Projekte wie die „China Series“ (2017–21), ein 20-teiliges, multidisziplinäres Kunstprojekt, die großformatige begehbare Rauminstallation „Crescendo“ (2024) oder die Bühnenproduktion „Ceramic Circus“ (2024) markieren wichtige Stationen seines Schaffens. Doch alles begann – eher zufällig – mit einem Diabolo. Die Beschäftigung von Julian Vogel mit dem Jonglage-Objekt seiner Zirkusdisziplin, dem Diabolo, nahm ihren Ausgangspunkt während seiner Ausbildung an der Academy for Circus and Performance Art (ACaPA) in Tilburg (NL). „Eigentlich ein Zufall“, sagt er, „denn es hätte sich genauso gut um ein ganz anderes Objekt handeln können“. Jedenfalls fiel ihm eines Tages in der Küche die Verwandtschaft von seinen Diabolos – in der Regel bestehend aus zwei weißen, mit einer Achse zusammengehaltenen Gummischalen – mit herkömmlichen Suppenschalen aus Porzellan auf. Was also, wenn die Gummischalen durch Porzellanschalen ersetzt würden? Das wollte ausprobiert werden. Aus einem...

Julian Vogel – Artist, Keramikkünstler und Tüftler

Grenzüberschreiter

Kampf im Käfig

Feminismus neu ausrichten

Zug: Sélection fürs Schweizer Theatertreffen bekanntgegeben 

„Ein ungedeuteter Traum gleicht einem ungelesenen Brief“, heißt es im Talmud, der überlieferten Auslegung jüdischer Gesetze. Olaf Nicolai nimmt diesen Satz als Titel und Ausgangspunkt für ein Projekt in der Synagoge Stommeln, nordwestlich von Köln, wo seit 1991 internationale Künstler:innen sich in ihren Arbeiten auf die Geschichte des Ortes beziehen (zuerst Jannis Kounellis und Richard Serra, gefolgt von u. a. Rebecca Horn, Lawrence Weiner und Gregor Schneider). Die Synagoge wurde 1937 von der jüdischen Gemeinde an einen benachbarten Landwirt verkauft, da dort wegen der zu geringen Zahl an religionsmündigen Männern schon länger keine Gottesdienste mehr gefeiert werden konnten. Als Schuppen blieb das relativ kleine Gebäude beim Pogrom vom November 1938 unversehrt und wurde nach Ankauf und Renovierung durch die Gemeinde Pulheim ab Mitte der 1980er Jahre zu einem Kulturort, der inzwischen mit der jährlichen Ausstellung internationale Kunstausstrahlung in Nordrhein-Westfalen erlangt hat. Nicolai verbindet in seiner Arbeit weit auseinander liegende Sphären. Zum einen die in NRW, insbesondere im Ruhrgebiet, bis heute noch weitverbreitete Tradition der Brieftaubenzucht, mit der sich nicht nur Bergleute in ihrer Freizeit beschäftigten. Zum anderen die Welt der zeitgenössischen experimentellen Musik, die wiederum an die a cappella gesungenen Gebete in der Synagoge anschließt. Denn es sind zwei Brieftauben,...

Geste des Kollektiven

Assoziationen

Theater

Neues Theater Halle

Neuerscheinungen im Verlag