Theater der Zeit

I. EINLEITUNG

3. Mahagonny und die Religion

3.1 Brechts Verhältnis zur Bibel

von Charlotte Wegen

Erschienen in: Recherchen 163: Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny im Spiegel von Mythos und Religion – Eine Untersuchung der Opernwerke Ariadne auf Naxos und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (05/2022)

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Brecht macht das Thema der Religion81, ihre problematische Stellung in der gegenwärtigen Gesellschaft, für seine eigene literarische Arbeit fruchtbar82: So zeugen seine Werke von »der Haltung Brechts zu Christentum und Religion überhaupt«.83 Die Berechtigung der Annahme, dass Brecht maßgeblich von der Bibel beeinflusst war und diese Prägung schon immer ein ambivalentes Verhältnis zu ebenjenem textualisierten Zeugnis jahrtausendealter Menschheitsgeschichte bedeutet hat, wird nicht nur anhand seiner wohl prominentesten Aussage zur Bibel als literarisches Machwerk deutlich. Diese Äußerung Brechts geht auf eine Umfrage der Berliner Zeitung zurück, die den Autor nach dem Buch mit dem wohl stärksten Eindruck befragt und auf die er wie folgt geantwortet haben soll: »Sie werden lachen: die Bibel.«84 So hat die ernsthafte intellektuelle Beschäftigung Brechts mit dem Wort Gottes als Geschichtenbuch, als »leere Transzendenz«, die sich auch nicht schlechthin als Nihilismus fixieren lässt, weil dem »Tod Gottes« die Wirklichkeit der geglaubten Fiktion widerstreitet, schon viel früher, nämlich bereits in den jungen Jahren eines Heranwachsenden, angesetzt.85

Davon zeugt nicht zuletzt sein Tagebucheintrag als knapp Achtzehnjähriger, in welchem er zum einen den Zauber, zum anderen aber auch die Grausamkeit, mit der der biblische Stoff ins offene Leben greift, zur Sprache bringt:

Ich lese die Bibel. Ich lese sie laut, kapitelweise, aber ohne auszusetzen: Hiob und die Könige. Sie ist unvergleichlich schön, stark, aber ein böses Buch. Sie ist so böse daß man selber böse und hart wird und weiß daß das Leben nicht ungerecht sondern gerecht ist und daß das nicht angenehm ist, sondern fürchterlich. Ich glaube David hat den Sohn der Bathseba selber getötet, von dem es heißt daß Gott ihn getötet hat (der doch für die Sünde Davids nichts konnte), weil David Gott fürchtete und das Volk beruhigen wolle. Es ist böse, das zu glauben; aber die Bibel glaubt es vielleicht auch, sie ist voller Hinterlist, so wahr ist sie.86

Diese Auseinandersetzung mit der Bibel, die sich bei Brecht auf einer fast schon sinnlichen Ebene vollzieht, bricht mit dem allmählichen Adoleszieren nicht ab, im Gegenteil. So schreibt er als Student im September 1920 über ein Passionsspiel in Augsburg: »Abends in der ›Großen Deutschen Passion‹ der Brüder Faßnacht. Elender Text, geschmacklose Aufmachung. Aber gewisse Bibelworte nicht totzukriegen. Sie gehen durch und durch. Man sitzt unter Schauern, die einem, unter der Haut, den Rücken lang herunterstreichen, wie bei der Liebe.«87 Mit diesem Zitat ist zum Ausdruck gebracht ein ganz wesentlicher Aspekt der biblischen Strahlkraft, die dieses Buch für Brecht entfaltet haben muss. Es scheint also in erster Linie die besondere Sprachlichkeit, die poetische Erzählkraft zu sein, mit der die Bibel ihre jeweiligen Botschaften transportiert, die Brecht nicht nur persönlich berühren, sondern auch seinen literarischen Kosmos nachhaltig prägen sollten.88

Mit den Worten von Jan Knopf: »Die Bibel fesselte – vor allem im Alten Testament – durch ihre großartigen und lebensprallen Geschichten, lenkte das Hauptaugenmerk auf die Fabel, an der Brecht ein Leben lang festhielt, und bestach – zumal in der Übersetzung Luthers – durch ihre Sprache, die dem Volk zwar aufs Maul schaute, ihm aber nicht nach dem Mund redete.«89 Und dennoch kann die von Brecht so bestaunte Literarizität der Bibeltexte nicht die einzige Wirkungskomponente gewesen sein, die sein künstlerisches Schaffen seit Anbeginn so substanziell bestimmten sollte. So verfolgt Peter Paul Schwarz die These, dass es mitunter die »Fiktion der Transzendenz« bzw. die »Mächtigkeit der fiktionalen Transzendenz«, ihre Auflösung und der daraus folgende Nihilismus gewesen sei, die Brechts ironische Stilhaltung, wie sie beispielsweise seine frühe Lyrik kennzeichne und im ironischen »risus mortis« angesichts der mit dem »Tod Gottes« unverbindlich gewordenen Glaubensformen begründet liege, nach und nach ausgebildet habe.90 Jener ironische Stil sei bei Brecht aber immer im Zusammenhang der ihm notwendig eingeschriebenen Kritik zu betrachten:91

Ließ sich das Freiwerden von Ironie, Parodie, Provokation und Satire […] aus dem Zusammenbruch des religiösen Weltbilds erklären, so darf doch daneben die kritische Intention der Brechtschen Ironie nicht übersehen werden, welche die Kategorieen [sic] der religiösen Wertewelt im Sinne Nietzsches ironisch zu verkehren sucht, ohne sich indessen ganz aus ihrem Bann lösen zu können.92

Das erinnert an Georg Lukács’ Sentenz, die Ironie sei die negative Mystik gottloser Zeiten.93 Bedenkt man nun die Vielzahl und Mannigfaltigkeit, mit der biblische Elemente in wie auch immer gearteter Form in Brechts OEuvre verhandelt werden, so liegt die Vermutung nahe, dass Brecht etwas über die Literarizität Hinausgehendes in der Bibel entdeckt haben muss, das ihn gleichsam zur stofflichen Verarbeitung auch in Mahagonny motivierte. Anders als Ariadne aber ist Mahagonny keine explizite Transposition einer biblischen Geschichte, wie sie in Ariadne als mythologische Oper (oder gar als Antikendrama) und demgemäß in ihrer strukturellen Verschränkung mit dem Ariadne-Mythos aufgezeigt ist.

Nach Reinhold Grimm seien die Bibelentlehnungen bei Brecht einer Ästhetik der Verfremdung gewidmet und damit Mittel, um den Stoff systematisch zu verfremden:

»Das biblische Muster verfremdet den Vorgang im Stück; zugleich aber bedeutet die Wahl dieses Musters eine extreme und durchaus mit beabsichtigte Blasphemie: die Spannungen zwischen den beiden Bereichen wirken dialektisch.«94 Dieses besondere, dem Autor sehr eigene Verfahren könnte sich – wie wohl in so vielen Werken Brechts95 – denn auch in der Oper Mahagonny mit ihren parodistischen Bibelbezügen wiederfinden. Doch muss an dieser Stelle dem Missverständnis vorgebeugt sein, Brecht habe mit seiner Parodie ein Lächerlich-Machen des Gegenstandes im Sinn gehabt. Wenn Brecht sich in Mahagonny des biblischen Themas annimmt, sich ihm auf parodistische, überzeichnende, komisch-verzerrende Weise nähert, die Bibel als parodierten Gegenstand also extrapoliert darstellen lässt, so ist diese Auseinandersetzung dialektisch zu denken. Die Parodie bezeichnet demnach eine besondere Form des Realismus, ist Realästhetik dergestalt, dass ihr realistisches Vorbild in jedem Moment ihrer Parodie erkennbar bleibt, im Verständnis der Parodie sogar erkennbar bleiben muss. So schreibt Michail Bachtin über die Parodie:

Eine der ältesten und am weitesten verbreiteten Formen der Abbildung des fremden direkten Wortes ist die Parodie. Worin besteht nun die Eigenart der parodistischen Form? Da gibt es zum Beispiel die parodistischen Sonette, mit denen Don Quijote eröffnet wird. Obwohl sie unzweifelhaft als Sonette gebaut sind, können wir sie keinesfalls zur Gattung des Sonetts rechnen. Sie sind hier Teil des Romans; auch wenn es für sich steht, kann das parodistische Sonett nicht einfach der Gattung des Sonetts zugerechnet werden. Die Form des Sonetts ist im parodistischen Sonett keineswegs eine Gattung, das heißt nicht die Form des Ganzen, sondern Gegenstand der Abbildung; das Sonett ist hier der Held der Parodie. In der Parodie auf das Sonett müssen wir das Sonett erkennen, seine Form, seinen spezifischen Stil, seine Art und Weise, die Welt zu sehen, auszuwählen und zu bewerten, seine sozusagen sonetteigene Weltanschauung. Die Parodie kann diese Besonderheiten des Sonetts besser oder schlechter, gründlicher oder oberflächlicher abbilden und verspotten. Aber es liegt jedenfalls kein Sonett vor, sondern ein Bild des Sonetts.96

In Bezug auf Brecht hat Marianne Kesting dieses Verfahren wie folgt beschrieben:

An Mahagonny schließt sich eine entscheidende Betrachtung über das epische Theater, in diesem Fall über die epische Oper an. »Die Oper Mahagonny wird dem Unvernünftigen der Gattung Oper bewußt gerecht«, schrieb Brecht. Dieses »Unvernünftige der Gattung Oper« wurde von Brecht bewußt zur Kritik und Parodie einer unvernünftigen gesellschaftlichen Ordnung eingesetzt: »Also sollte etwas Unvernünftiges, Unwirkliches und Unernstes, an die rechte Stelle gesetzt, sich selbst aufheben, in doppelter Bedeutung.« Es wiederholt sich, auf anderer Ebene, ein ähnlicher Vorgang wie in Tiecks Gestiefeltem Kater, wo die Realität in der Parodie wieder erreicht wird, oder auch wie in der Dreigroschenoper[,] die, indem sie den »unvernünftigen« Wünschen der Zuschauer bewußt Rechnung trägt, diese Wünsche ad absurdum führt und in der Parodie richtigstellt.97

Brechts Intention ist es nicht, die Bibel bloß ins Lächerliche zu ziehen, sie mittels übertreibender Stilistik zu verspotten oder gar – und das wäre eines der Grundaspekte der Blasphemie – zu verhöhnen: »Natürlich steckt in alldem viel mehr als eine bloße, durch das Zitat fixierte Anspielung. Mit Recht sieht Reinhold Grimm in den meisten Bibelzitaten eine Anwendung des Verfremdungsprinzips, ein dialektisches Reizverhältnis zwischen Ursprung und Aktualisierung des Bibelwortes.«98 Oder mit eigenen Worten ausgedrückt: Die Parodie als eine in Mahagonny angewandte, notwendig intertextuelle Form gilt vielmehr dem sehr ernsten Versuch der Aktualisierung, in der die Geisteshaltung, die sich in den biblischen Texten vermittelt, zwangsläufig wieder aktuell wird. Eine solche Aktualisierung der Bibel vollzieht sich bei Brecht nicht unter den Voraussetzungen der Lutherzeit, sondern unter den Bedingungen der Jetzt-Zeit, sie sucht mit dem Bewusstsein der Historizität von Texten nach neuen Antworten, die die Bibel als eine der wohl primärsten Beschäftigungen mit den Grundfragen, mit den Grundproblemen menschlicher Existenz nach Brecht zu geben vermag. Man könnte diese Aktualisierung im Sinne Benjamins als Skizzen eines von bürgerlicher Teleologie freien historischen Materialismus99 denken, als eine Aktualisierung, in der die Zeit gerade durch ihr Verhältnis zum Abwesenden aufscheint, als Mandat eines Noch-nicht, das in der Gegenwart je neu gewonnen und bestimmt werden müsste. In dieser Lesart würde es Brecht in seiner sehr kritischen Beschäftigung mit der Bibel nicht um eine Depotenzierung derselben gehen, vielmehr könnte ihm an der Herausschälung ihres Potentials gelegen sein, das sich dem Menschen im Kontext einer Aktualisierung unter den Voraussetzungen der Jetzt-Zeit auf je neue Weise zeigt.

Es erscheint unter diesem Gesichtspunkt lohnenswert, die blasphemische Qualität, wie sie auch von Hans Mayer mit seiner Beobachtung: »Blasphemie, Anspielung, Verfremdung. Trotzdem ist da noch mehr«100, festgehalten wurde, mit ein, zwei Sätzen näherhin zu charakterisieren. Zum einen muss der, wenn man so will, blasphemische Charakter in Brechts Texten im Zusammenhang seines genuin anerkennenden (anerkennend nicht im Sinne von zustimmend), wenngleich »›kompromißlos ablehnend[en]‹«101 Verhältnisses zur Bibel als primärem Text, auf dessen Basis sich die Problematiken menschlichen Daseins in der Welt verhandelt sehen, betrachtet werden. Zum anderen sollte über die Parodie nicht insofern hinweggegangen werden, als das Mehr, nach dem auch Mayer fragt, keinesfalls über der Parodie stehen darf, sondern die Parodie als das zum Einsatz kommende Verfahren bereits als das Mehr anzusehen ist. Um dem besonderen biblisch-theologischen Überschuss102 bei Brecht, »dem ›Mehr‹ an Funktion, um das es [also] geht, auf die Spur zu kommen«103, geht Gotthard Lerchner wie folgt vor:

Die Herstellung von Bezügen zwischen Bibelaussage und kapitalistischer Umwelt mit ihren sozialen Gebrechen, ihrer Ungerechtigkeit und ihren gesellschaftlich sanktionierten Verbrechen entlarvt eine bürgerliche Ethik und Moral, die sich selbst als christlich versteht und aus der Bibel ihre Rechtfertigung ableitet. So wird zum Beispiel die antihumanistische Anbetung des Geldes im Kapitalismus (Mahagonny) als eine der alttestamentlichen »Eitelkeiten« (das heißt Nichtigkeiten) bloßgestellt, »by revealing the ›sacred origins‹ of the city and by ›blessing‹ the founding of the city and ist continuance with quotations from Genesis, Wisdom literature and Psalms«. Es können auch die sozialen Forderungen insbesondere des Neuen Testaments der ihnen völlig widersprechenden bürgerlich-»christlichen« Alltagspraxis als Folie unterlegt werden, indem die Unmöglichkeit ihrer Erfüllung in der Ausbeuterordnung gezeigt wird […] Oder herbe Kritik wendet sich gegen die Bibel selbst, deren Geschichten, Gleichnisse und Lehren die Möglichkeit für eine Rechtfertigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung liefern […]104

So könnte sich bei Brecht bzw. in seiner steten Bibelreferenz eine Sozial- und Religionskritik105 begründet sehen, die in ihrer alt- und neutestamentarischen Motivik weniger um die Existenz Gottes kreist, als vielmehr die Faktizität der Welt selbst bespielt, in die das menschliche Leben sich geworfen sieht. In Mahagonny rückt also der Mensch in den Fokus und damit ein In-der-Welt-Sein, das immer auch nach Maßstäben, nach Werkzeugen strebt, die ihm dabei helfen, sich im opaken Diesseits zu orientieren. Die biblischen Bezüge, die Brecht in die Mahagonny-Oper einbaut, verweisen dabei auf eine seinem Denkund Schreibgebilde immanente Kritik, die im institutionalisierten Glauben vor allem erst einmal ein Instrumentarium zur Durchsetzung eines Machtanspruches entdeckt und so als ununterschieden von einem staatspolitischen System definiert werden kann. Beide Ordnungen machen sich zu eigen, »eine schlechte gesellschaftliche Wirklichkeit zu rechtfertigen«.106 Ausgehend von einer Ordnung, die einen wie auch immer gearteten Nexus zur Religion markiert, sollen in der Analyse von Mahagonny gerade die Bezüge von System und Religion ausgeleuchtet werden, die diese Oper mit ihrem Scheitern thematisiert.

81 Brechts OEuvre nimmt Rekurs auf die christliche Religion. Unter dem Begriff der Religion sei von nun an allein das Christentum und damit die sein religiöses Fundament abbildende Bibel gefasst.

82 Wolfgang Braungart hält für die vielfältigen Bibel-Bezüge in Brechts Werk allen voran ihre ästhetische Komponente fest: »›Gott‹, der mit seiner Schöpfung selbst das größte Lehrstück in Gang gesetzt hat, der das größte ästhetische und soziale Experimentierfeld geschaffen hat, um zu sehen, was daraus wird, impliziert für Brecht eine große poetische, menschliche und gesellschaftliche Heuristik. Gott ist für den Menschen da – und Entsprechendes gilt für die Religion. Religionskritik erfolgt unter dieser Perspektive.« Braungart, Wolfgang: Literatur und Religion in der Moderne. Studien, Paderborn 2016, S. 164.

83 Lerchner, Gotthard: »Traditionsbezug zur Lutherbibel im Werk Brechts«, in: Barz, Irmhild/Fix, Ulla/Schröder, Marianne (Hrsg.): Gotthard Lerchner – Schriften zum Stil. Vorträge zur Ehrung Gotthard Lerchners anlässlich seines 65. Geburtstages und Aufsätze des Jubilars, Leipzig 2002, S. 146 – 164, hier: S. 148.

84 Die Dame: Berlin, Beilage: Die losen Blätter, H. 1, 1. Oktober 1928, S. 16, zit. n.: GBA 21, S. 248.

85 Siehe dazu Schwarz, Peter Paul: Brechts frühe Lyrik 1914 – 1922. Nihilismus als Werkzusammenhang der frühen Lyrik Brechts (= Abhandlungen zur Kunst-, Musikund Literaturwissenschaft Bd. 111), Bonn 1971, S. 41 ff., hier: S. 46 f.

86 GBA 26, S. 107.

87 Brecht: Tagebücher 1920 – 1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920 – 1954, hrsg. v. Herta Ramthun, Frankfurt/M. 1975, S. 49. Für Eberhard Rohse bedeutet u. a. dieser Tagebucheintrag Brechts die Verdeutlichung von Folgendem: »›nicht totzukriegende‹, sondern ›durch und durch‹ gehende Bibelworte, die Bibel als ›stärkster Eindruck‹ – diese ›Bekenntnisse‹ eines Autors, dessen Geschäft es zu sein scheint, vorgegebene literarische, insbesondere ›klassisch‹ gewordene Tradition kühl distanziert auf ihren ›Materialwert‹ hin zu taxieren, zu verwerten und umzufunktionieren, geben schlagartig zu erkennen, in wie außergewöhnlichem Maße gerade die biblische Tradition – und dies angesichts der entschiedenen Säkularisiertheit des Brecht’schen Rezeptionshorizontes – nicht primär nur als Material (das es literarisch lediglich zu verwerten gilt), sondern vor allem auch Potential mit eigener Wirkmächtigkeit qualifiziert ist: als ein Überlieferungspotential, dessen poetische und latent theologische Potenz für den produzierenden Autor nicht folgenlos bleibt.« Rohse, Eberhard: Der frühe Brecht und die Bibel. Studien zum Augsburger Religionsunterricht und zu den literarischen Versuchen des Gymnasiasten (= Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen und englischen Philologie und Literaturgeschichte Bd. 278), Göttingen 1983, S. 15.

88 Hedda Kuhn hält über Brecht fest: »Brechts Sprache war wunderbar. Er sagte mir, daß er das seiner Großmutter verdanke, der Frau Brezing, die ihm so ausgezeichnet aus der Bibel vorlesen könne.« Frisch, Werner/Obermeier, K.W.: Brecht in Augsburg, Erinnerungen, Dokumente, Texte, Fotos, Berlin/Weimar 1975, S. 159.

89 Knopf, Jan: Bertolt Brecht. Lebenskunst in finsteren Zeiten. Biografie, München 2012, S. 19. Knopf berichtet in diesem Zuge von einem Gespräch zwischen Brecht und der Neuen Leipziger Zeitung ein knappes Jahr vor der spektakulären Berliner Zeitungsumfrage 1928, in dem er auf die Frage nach seinen liebsten Büchern Folgendes erwidert haben soll: »Wenn ich die Bibel nenne, so ist das weder Interessant-Macherei noch Snobismus. Ich bin Epiker, also liebe ich die Bibel, ›Don Quichotte‹ und den ›Braven Soldaten Schwejk‹.«

90 Schwarz: Brechts frühe Lyrik 1914 – 1922, S. 49, S. 47 und S. 72.

91 Siehe ebd., S. 41 ff.

92 Ebd., S. 72 f.

93 Vgl. Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin 1920, S. 74 ff bzw. S. 79.

94 Grimm, Reinhold: Bertolt Brecht. Die Struktur seines Werkes (= Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft Bd. 5), Nürnberg 1962, S. 45.

95 Für angeführte Beispiele in der Fachliteratur siehe auch: Grimm: Bertolt Brecht und die Weltliteratur, Nürnberg 1961. Lerchner fasst zusammen: »Zunächst ist natürlich eine parodistische und blasphemische Verwendung biblischer Motive im angegebenen Sinn unzweifelhaft; etwa wenn Mackie Messer mit Christus verglichen wird, indem die Geschichte des Verrats im Ganovenmilieu in ausdrücklicher Analogie zur Passionsgeschichte angelegt ist (Dreigroschenoper), wenn sich die Verleugnung des Elefanten auf die Verleugnung Jesu durch Petrus bezogen findet (Mann ist Mann), wenn um de Guzmans Ringe ebenso wie um die Kleider des gekreuzigten Christus gewürfelt wird (Die Rundköpfe und die Spitzköpfe) oder wenn die Inthronisation Azdaks, des ›Lumpen als Richter‹, das ›Ecce Home!‹ des Pilatus für den dornengekrönten Gottessohn persifliert (Der kaukasische Kreidekreis) […] Der Verfremdungseffekt des Gestaltungsverfahrens liegt auf der Hand.« Lerchner: »Traditionsbezug zur Lutherbibel im Werk Brechts«, S. 148.

96 Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes, hrsg. v. Rainer Grübel, aus dem Russ. von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt/M. 1979, S. 310 f. In Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur stellt Bachtin fest, dass das Parodierte in der Parodie immer anwesend bleibt: »Parodieren ist die Herstellung eines profanierenden und dekouvrierenden Doppelgängers, Parodie ist umgestülpte Welt« und deshalb ambivalent. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, aus dem Russ. übersetzt von Alexander Kaempfe (= Reihe Hanser 31), München 1969, S. 54.

97 Kesting, Marianne: Das epische Theater. Zur Struktur des modernen Dramas, Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz 1978, S. 73 f.

98 Mayer, Hans: Bertolt Brecht und die Tradition, Pfullingen 1961, S. 50.

99 Benjamin, Walter: [Das Passagen-Werk], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. V.I, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1982, S. 574 (im Folgenden mit Benjamin: Sigle GS plus Band und Seitenzahl abgekürzt): »Es kann als eines der methodischen Objekte dieser Arbeit angesehen werden, einen historischen Materialismus zu demonstrieren, der die Idee des Fortschritts in sich annihiliert hat. Gerade hier hat der historische Materialismus alle Ursache, sich gegen die bürgerliche Denkgewohnheit scharf abzugrenzen. Sein Grundbegriff ist nicht Fortschritt sondern Aktualisierung.« Für den Begriff der Aktualisierung im Zusammenhang des historischen Materialismus siehe z. B. Lachmann, Hans-Jürgen: »Entfremdung und Aneignung als globaler Kulturprozess – Anmerkungen zur Marxschen Entfremdungstheorie«, in: Kulturwissenschaftliche Studien 9, hrsg. v. Hans-Jürgen Lachmann und Uta Kösser (= Kulturphilosophische und Ästhetische Reihe), Leipzig 2007, S. 3 – 33, hier im Besonderen : S. 28.

100 Mayer: Bertolt Brecht und die Tradition, S. 51.

101 Ebd., S. 51.

102 Rohse beschreibt das Verhältnis von Bibel und Brecht, wie es auch in seinen Werken zum Ausdruck kommt, wie folgt: »Dass dabei gleichzeitig aber (und noch darüber hinaus), wie der Werk-Kontext auf Schritt und Tritt bezeugt, in Form von Zitaten und Anspielungen, motivischen Entsprechungen und Verweisungen, Parodien, Travestien, Kontrafakturen u. a. m., immer wieder gerade die Sprache und der Sprachton der Bibel selber, biblische Motive, Figuren und Bilder, sogar auch biblisch-theologische Argumentationsstrukturen und Denkimpulse mit evokativer Kraft, poetischer Authentizität und nicht selten hintergründig- durchschlagender, diskursiver Verbindlichkeit textstrukturierend und bedeutungsstiftend sich durchsetzen, daß also (oft gerade in Textzusammenhängen entschieenster [sic] Christentums- und Religionskritik) das derart evozierte, poetisch wie kritisch-diskursiv realisierte biblische Überlieferungspotential selber den spezifischen Kunst- und Provokationscharakter vieler Brecht-Texte entscheidend mitkonstituiert: dies erst erweist sich bei näherem Hinsehen als die eigentliche, in ihrer – poetologischen, theologischen, historischen – Tragweite noch kaum ausgelotete Herausforderung in der Auseinandersetzung dieses Autors und Marxisten mit biblisch-christlicher Tradition.« Rohse: Der frühe Brecht und die Bibel, S. 13.

103 Lerchner: »Traditionsbezug zur Lutherbibel im Werk Brechts«, S. 149.

104 Ebd., S. 148 f.

105 So konstatiert Rohse bereits 1983: »Brecht und die Bibel: Zu den Provokationen und Ärgernissen im OEuvre dieses Autors scheint, als nach wie vor brisanter Zug seiner Gesellschaftskritik, vor allem auch die Religionskritik zu gehören: die (schon in der vormarxistischen Werk-Entwicklung einsetzende und mit Vehemenz immer wieder geübte) skeptische Ironisierung, polemische Attackierung religiöser Inhalte, Werte und Normen aus der Tradition von Bibel und Christentum. « Rohse: Der frühe Brecht und die Bibel, S. 13.

106 Kleinschmidt: Vorwort in Brechts Glaube, S. 7.

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