Auftritt
Münchner Residenztheater: Wenn der Tod ruft und der Ruf der Berge lauter ist
„Gschichtn vom Brandner Kaspar“ von Franz Xaver Kroetz nach Motiven von Franz von Kobell – Regie und Bühne Philipp Stölzl, Mitarbeit Bühne Franziska Harm, Kostüme Kathi Maurer, Komposition und musikalische Leitung Michael Gumpinger, Video Simon Wimmer
von Sabine Leucht
Assoziationen: Theaterkritiken Bayern Philipp Stölzl Münchner Volkstheater

„Kerschgeist“ muss man wohl nicht erklären, was „a Odrahta“ ist, aber vielleicht schon. Und womöglich sollte man überhaupt ein paar einleitende Worte über diesen seltsamen „Brandner Kasper“-Kult in Bayern verlieren. Die Figur, die Franz von Kobell 1871 in einer kurzen Mundart-Erzählung zur Welt kommen ließ, hat man im Alpenraum ins Herz geschlossen, weil sie katholisch ist, aber auf die zweifelnde, opportunistisch-anarchische Art. Und weil sie gar leidenschaftlich der Natur wie den leiblichen Genüssen zugeneigt ist und sich was einfallen lässt, um ihnen nicht vor der Zeit entsagen zu müssen. Der Boandlkramer, also der Tod im Stück, kann weder karteln (Kartenspielen), noch ist er sonderlich trinkfest. Damit hat ihm der Brandner, der Odrahta, was übrigens so viel wie schlitzohriger Halunke heißt, in der Tasche. Er schenkt ihm Kerschgeist aus. Als das Gelage um ist, hat der Gevatter eine Wette verloren und der Brandner 14 Lebensjahre gewonnen. Bis das dem Petrus auffällt, als er mal seine Himmelspförtner-Bücher studiert.
Kobells Urgroßneffe Kurt Wilhelm machte aus der simplen Geschichte ein Stück, das er selbst 1975 am Residenztheater uraufführte. Es blieb rund 25 Jahre ein Publikumshit. 2005 übernahm das Münchner Volkstheater den Staffelstab. Intendant Christian Stückl machte „Der Brandner Kaspar und das ewig' Leben“ zur Chefsache
und zeigt die pointengespickte Komödie immer noch gelegentlich vor vollem Haus – oder gerne auch im rund 4700 Plätze fassenden Oberammergauer Passionstheater (wieder am 11. und 12. Juli). Wie ein großes Wagnis klang es also nicht, als das Resi verkündete, wieder einen eigenen „Brandner Kasper“ inszenieren und die Titelrolle von Franz Xaver Kroetz spielen lassen zu wollen. Der hat schließlich nicht nur als Klatschreporter Baby Schimmerlos in Helmut Dietls „Kir Royal“, sondern auch als Dramatiker und Regisseur Kultstatus in Bayern. Und den Brandner hat er auch schon gespielt: In der Vilsmaier-Verfilmung von 2008. Im Nachdenken darüber hat der 79-Jährige Kroetz dann offenbar seine Schreibkrise überwunden und mit „Gschichtn vom Brandner Kaspar“ eine Neufassung geschrieben, die den Stoff wieder auf Kobells Kernpersonal reduziert und barocke Ausschmückungen rausschmeißt. Kroetz´ Volkstheater – er war einst der meistgespielte Dramatiker der alten Bundesrepublik – war schon immer eher kantig und grantig als rüschig. Und auch das „verglühte Oberbayrisch“, das er dem eigenen Vorwort nach gedichtet hat, klingt nicht so, als würde es jedem München-Touristen soft ins Ohr gehen. Zumal der TV-bekannte Günther Maria Halmer, der in Philipp Stölzls Inszenierung die Titelfigur gibt, es wunderbar authentisch verwaschen artikuliert. Trotzdem – oder gerade deshalb: Der Abend wird laufen, mindestens ein weiteres Vierteljahrhundert lang. Denn Kroetz verschreckt nicht mit radikalen Neu- und Umdeutungen und Stölzl exekutiert brav Kroetz´ Regie-Definition, die er gerade in einem Interview mit der SZ gegeben hat. „Text auf der Bühne sinnlich machen“, heißt es da. Und das kann Stölzl. Sogar ein misogynes binäres Frauenbild, das nur die „reine“, „unschuldige“ Heilige und die Hure kennt, darf mit auf die Bühne und wird belacht. Die Hure, das „Flitscherl“, ist dabei die von Kroetz erfundene landflüchtige Tochter, die Heilige die in der Stückhierarchie aufgestiegene Enkelin des Brandner. Und als die ihr Leben lassen muss, schlägt beim Opa der Überlebensekel zu und die Alterseinsamkeit rückt ins Zentrum, gepaart mit der Sehnsucht danach, nochmal genauso gut klettern, lieben und pissen zu können wie ehedem. Parallelen zum Autor sind natürlich rein spekulativ.
Das Nachhaken des Todes stößt beim Brandner jetzt schon auf weniger taube Ohren. Denn: Wer will schon den eigenen Lebenssinn überdauern? Aber die Berge, Almen und Wälder müssen schon auch mit ins Paradies. Kurz: Nix mit Wattewolken und ewigem „Hosiana“-Geplärr! Das Jenseits muss idyllisch wie aus dem Reisekatalog des Bayrischen Heimatministeriums aussehen, nostalgische (Selbst-)Verklärung selbstverständlich inklusive.
Stimmungsmäßig dagegen halten an diesem Abend vor allem die drei wunderbaren Live-Musikerinnen Marias Helgath, Anna Emmersberger und Anna Veit, die mit Kompositionen von Michel Gumpinger von der Stubn- in Richtung Weltmusik abbiegen. Und Florian von Manteuffel, der im schwarzen Anzug und mit langen schmierigen Haaren aussieht wie ein Fremdkörper, den jemand direkt vom Dreh mit Tarantino ins Resi gebeamt hat. Er spielt einen linkischen, abgekämpft-fahrigen Boanlkramer (Kroetz schreibt ihn ohne zweites D), der an seiner mangelnden Durchschlagskraft verzweifelt. Nichts will ihm gelingen: „Schick i a Kreizotter, tritt der Foische drauf – und die Improvisation is a danem ganga“. Die Umdekorierung des Paradieses aber ist ihm ein Leichtes. Ein Fingerschnips: da ist das Bergpanorama. Noch ein Schnips: ein See. Das geht, weil Stölzl Kroetz´ Bitte um „alte Theatermittel“ erhört und aus dem Stück das gewünschte „Bilderbuch“ gemacht hat. Gemeinsam mit Ko-Bühnenbildnerin Franziska Harm hat er ein Bühnenportal ersonnen, das wie die Tür eines extragroßen Bauernschranks aussieht, und im Bühnenhintergrund rollen Kulissen mit handgemalten Heimatfilm- Panoramen ab. Ein bisschen Technik macht, dass sich darüber auch mal diverses Getier bewegt (Video: Simon Wimmer), und beim Paradiesbesuch auf Probe kommt das ungleiche Zweiergespann auch bei Aliens vorbei. Das ist schon nett und holt Bauernschwank- wie Netflix-Fans gleichermaßen ab. Der Abend dosiert Saft und Raffinesse zu einem Mix, der Vielen schmecken dürfte. Gute Hausmannskost. Ein bisschen Bayrisch sollte man aber schon können - oder einen anderen alpenländischen Zungenschlag mit Verwandtschaft zum Deutschen.
Erschienen am 24.6.2025