Politisierung der 1920er und 1930er Jahre
Avantgarde der 1920er Jahre in Sowjetrussland
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Wsewolod Meyerhold, der sich als einer der ersten bedeutenden russischen Künstler der von den Bolschewiki geführten Revolution im Oktober 1917 anschloss, sprach im Dezember 1920 vom „Theateroktober“ als einer „Erscheinung von gewaltiger Tragweite“, von der „Revolutionierung der Berufstheater“, der „Gründung von Theaterwerkstätten, Experimente[n] im Bereich des Rotarmisten-Laientheaters – einer interessanten Mischung aus Arbeitern und Bauern“.26 Schon während des Bürgerkrieges von 1918 bis 1920 hatten Soldaten der Roten Armee und Arbeiter revolutionäre Inszenierungen gemacht. 1920/21 organisierte man politische Massenschauspiele, darunter das mit tausenden Rotarmisten und Arbeitern als Laiendarstellern sehr aufwendige „re-enactment“ der Einnahme des Winterpalais in Petrograd (St. Petersburg), eine der wichtigen, hochsymbolischen revolutionären Aktionen im Oktober 1917.27 Die Proletkult-Bewegung förderte Theateraktivitäten in Fabriken und Klubs und richtete revolutionäre experimentelle Berufstheater ein. Das wohl bedeutendste Ereignis ihres Moskauer Theaterstudios sollte 1923 Sergej Eisensteins Inszenierung EINE DUMMHEIT MACHT AUCH DER GESCHEITESTE werden. Als eine „Montage der Attraktionen“ demonstrierte sie wesentliche Grundsätze der frühen sowjetischen revolutionären Avantgarde: die soziale Funktionalität von Theater oder auch Verbindung von Kunst und Leben in der gleichsam weltanschaulich-emotionalen Einwirkung auf die Öffentlichkeit, für Eisenstein speziell in der affektiven Bearbeitung des Publikums zur Organisierung der Gesellschaft. Eisenstein unterschied zwischen Nummern oder Tricks des...