Theater der Zeit

Magazin

Erforschung mit doppeltem Boden

Der Dramatiker Christoph Nußbaumeder erzählt in seinem zweiten Roman eine abenteuerliche Expedition in den frühen Jahren der USA

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit – Kunstinsert William Kentridge (11/2025)

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Die Aufklärung brachte in den Wissenschaften auch seltsame Blüten hervor, wenn es um Vergleiche der Ordnung der Natur in verschiedenen Weltgegenden ging. In Frankreich gab es z. B. Akademievorträge darüber, dass die Tierwelt Nordamerikas weniger entwickelt sei als die in Europa, eine Art zoologischer Eurozentrismus. Da, wo diese nicht einmal ansatzweise erforschte Fauna zu Hause war, stachelte das den noch jungen nationalen und damit auch politischen Ehrgeiz an, mit ganz besonderen Spezies aufzuwarten. Etwa dem, nach Knochenfunden, vermuteten Amerikanischen Mastodon, das als Verwandter von Sibirischem Mammut und Afrikanischem Elefant aufgespürt werden könnte und als größtes Tier der Neuen Welt eine Sensation wäre. Gleichsam als Symbol für Größe und Vielfalt.

Das ist der historische Hintergrund für die fiktive Expeditionsgeschichte, die der für seine sozialgeschichtlich grundierten Stücke prämierte Christoph Nußbaumeder im Jahr 1796 ansiedelt. Der wegen Freigeisterei in seiner süddeutschen Heimat an der Donau exkommunizierte Pfarrer Johannes Gottstein wird in New York von Oliver Hancock für eine Forschungsreise angeworben, bei der das damals sogenannte American Incognitum in den Black Hills gefunden werden soll, einer Europäer:innen kaum bekannten Gegend im heutigen South Dakota. Dass Tierarten ausgestorben sein könnten, gehörte nicht zum Horizont wissenschaftlicher Erkenntnis, allenfalls hätten sie sich zurückgezogen und hielten sich wie später Yeti und Nessie verborgen.

Gottstein, der als Erzähler vor allem das Verhalten innerhalb der zwölfköpfigen Abenteurertruppe auf ihrem Weg in den Westen beobachtet, ist von Nußbaumeder damit als eine Art Sonde in die junge amerikanische Demokratie angelegt. Welche Hierarchien bilden sich heraus, wie wird mit Konflikten umgegangen? Vor allem aber lässt er diese eher ruppigen Männer in der Wildnis das selbst diskutieren, was die Erzählung der von allerlei Widrigkeiten belasteten Expeditionsreise manchmal überfrachtet, aber eben deutlich macht, dass es nicht allein um diese geht, sondern auch um ein mentales Bild der frühen USA in einem rein männlichen Mikrokosmos. Stilistisch arbeitet Nußbaumeder mit Anklängen der deutschen Literatur jener Zeit, also sanft archaischen Ausdrucksweisen. In Gottsteins „nach dem genossenen Bad“ ist das frühe 19. Jahrhundert zu hören, ohne dass man drüber stolpert und vielleicht erst nachschlagen müsste.

Wirklich spannend ist dann die Begegnung mit dem Lakota-Stamm am Zielort, offenbar ethnologisch recherchiert in der Darstellung indigenen Lebens und der Missverständnisse dieser sich allmählich dezimierenden Incognitum-Truppe. Da weder Nußbaumeder noch sein Erzähler einen ­dokumentarischen Bericht abliefern, geht der Roman hier in die Sphären des Magischen Realismus, was dem ernsthaften Spiel des Romans um Amerika damals und heute natürlich weitere Dimensionen öffnet. Und dabei an, sagen wir, frühe Romane T. C. ­Boyles erinnert wie an die manische Jagd nach „Moby Dick“ als ultimativer Symbolik von Amerikas Seele. Ein Urtier als Größe, gejagt auf heiligem Grund der Ureinwohner:innen Amerikas, für profanen Ruhm. Da ist einiges beieinander, was gerade in Sachen Amerika bewegt und diesen Roman in der deutschen Gegenwartsliteratur so ganz ungewöhnlich macht.

Christoph Nußbaumeder: Das Herz von allem, Roman, Rowohlt, Berlin 2025, 448 S., € 25

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