III. Stanislawski und die Folgen
Das emotionale Gedächtnis
Quelle 10
von Lee Strasberg
Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)
Assoziationen: Schauspiel
Allgemein möchte ich zum Thema des emotionalen Gedächtnisses sagen, daß viele Leute zwar sehr starke Meinungen zu diesem Thema vertreten, die wenigsten aber wirklich wissen, wovon sie reden, weil nämlich der Begriff des emotionalen Gedächtnisses etwas ist, was am allermeisten und am ehesten mißverstanden wird. Wir alle wissen, daß wir ein intellektuelles und ein körperliches Gedächtnis haben. Sonst könnten wir uns nicht jeden Morgen die Schuhe wieder zubinden, sondern müßten es jeden Tag neu lernen. Über das geistige oder intellektuelle Gedächtnis muß ich nicht viel sagen. Mit dem erinnern wir uns an Telefonnummern. Körperliches und geistiges Gedächtnis benutzen wir dauernd. Wir sind gewohnt, damit umzugehen. Gefühle aber sind so, daß wir oft überhaupt nicht einmal wissen, was für Gefühle da sind. Wir wissen nur, daß sie da sind. Wir haben ja gerade vorher bei der jungen Schauspielerin gesehen, daß es ihr sehr schwerfiel, uns zu sagen, was sie fühlte. Sie wußte zwar, daß sie es fühlte, aber das zu definieren, war sehr schwierig für sie. […]
Emotionales Gedächtnis ist nicht etwas, dessen Existenz man diskutieren oder bezweifeln könnte, emotionales Gedächtnis ist etwas, das jeder kennt. Das emotionale Gedächtnis – das habe nicht ich formuliert, sondern das haben Psychologen formuliert – ist nichts anderes als die emotionale Reaktion auf ein Objekt. Das Objekt braucht gar nicht da zu sein, aber wenn wir uns daran erinnern, reagieren wir emotional.
Wenn man zum Beispiel ein Verhältnis hatte mit irgend jemandem und dies Verhältnis wurde unterbrochen, egal aus was für Gründen, und Du triffst einen Freund auf der Straße, und er sagt: „Weißt Du, wen ich getroffen habe, vor ein paar Tagen? Soundso!“ Diese Person ist dann nicht direkt anwesend, aber trotzdem fängt Dein Herz an zu klopfen, das Blut fängt an zu rauschen, und Du sagst: „Ach ja!“ Das ist dann das, was wir als emotionales Gedächtnis bezeichnen. Wäre die Person anwesend, und Dein Blut würde rauschen und Dein Herz würde klopfen, dann wäre das gar nicht außergewöhnlich. Aber wenn nur ihr Name erwähnt wird und Du reagierst |143|dann so, dann ist das, weil Dein emotionales Gedächtnis, Erinnerungen an die Erfahrungen mit dieser Person aktiviert.
Es ist mir unerklärlich, wie Leute die Existenz des emotionalen Gedächtnisses in Zweifel stellen können. Man kann darüber diskutieren, wie, wann, wo, unter welchen Umständen das emotionale Gedächtnis benutzt wird, aber zu behaupten, daß es so etwas nicht gäbe oder eine Erfindung des Actors Studios sei, ist absurd. Wenn ein Schauspieler in einem Stück auftritt, probt er vorher, dann spielt er es, am nächsten Tag spielt er es wieder usw. Der Schauspieler erinnert sich dann, was er sagen muß und was er tun muß und was er wie spielen soll. Sonst wäre die Vorstellung nicht vollständig. So spielen doch bei jeder Aufführung bewußt oder unbewußt alle drei Arten von Gedächtnis mit: das emotionale Gedächtnis, das intellektuelle Gedächtnis und das körperliche Gedächtnis. Und auch im Leben benutzen wir dauernd nicht nur das körperliche und geistige Gedächtnis ganz automatisch, sondern ebenso das emotionale Gedächtnis. […]
Emotionales Gedächtnis bedeutet, daß man etwas emotional Erinnertes wiedererlebt. Stanislawski hat auf diesen Unterschied besonders hingewiesen und festgestellt, daß emotionales Erinnern allein für den Schauspieler nicht ausreichend ist, sondern daß er mit Hilfe seines emotionalen Gedächtnisses emotionale Realitäten wieder zum Leben erwecken müsse. Schauspieler sollen mit anderen Worten nicht nur Erfahrungen wieder denken, sondern wieder leben. In der Lage zu sein, eine Erfahrung absichtlich durch Benutzung des emotionalen Gedächtnisses wieder lebendig zu machen, ist eine Fähigkeit, die alle Menschen besitzen, die zu gebrauchen sie aber nicht in der Lage sind. Das ist vergleichbar mit der Fähigkeit, eine Melodie zu singen. Es ist keinem Menschen unmöglich, eine Melodie zu singen. Wenn jemand aber nicht singen kann, ist die natürliche Entwicklung dieser Fähigkeiten unterbrochen. Viele Leute sind der Meinung, sie könnten nicht singen. Aber wenn man sie bittet zu singen, können sie es durchaus. Das emotionale Gedächtnis ist für jeden Schauspieler Grundlage seines Berufes. Sonst wäre alles, was er tut, nur äußerlich oder gedanklich. Mit Hilfe des emotionalen Gedächtnisses wird sein Spiel Wirklichkeit. […]
Es ist schwierig, sich des emotionalen Gedächtnisses zu bedienen. Alles, was der Schauspieler tut, gründet sich doch auf das Gedächtnis. Was tut der |144|Schauspieler zuerst, wenn er an einer Rolle arbeitet? Er lernt den Text. Er hält den Text in seinem Gedächtnis fest. Der Text kann auch nicht in spontaner Inspiration erlernt werden, sondern er muß eine definitive Anstrengung machen, um den Text zu lernen. Nur hören hier leider schon die definitiven Anstrengungen auf. Als nächstes gibt dann der Regisseur Anweisungen, daß der Schauspieler dies und jenes machen soll und hier und da stehen soll. Auch diese Abläufe muß der Schauspieler im Gedächtnis behalten, um am nächsten Tag wieder weiter probieren zu können. Alles, was wir im Leben tun, gründet sich auf das Gedächtnis. Sonst müßten wir, wie gesagt, jeden Morgen neu lernen, uns die Schuhe zuzubinden. Die vielen subtilen Möglichkeiten, die das menschliche Gedächtnis besitzt, haben zur Entwicklung der Zivilisation geführt. Tiere haben kein so vielschichtiges und ausgeprägtes Gedächtnis wie wir. Ein Kind braucht fünf Jahre, bis es sprechen kann. Es entwickelt ein Vokabular einfach durch Zuhören und ist von da an in der Lage, ganz selbstverständlich und ohne weitere Schwierigkeiten über die Sprache zu verfügen. Die Gegenwart des intellektuellen und körperlichen Gedächtnisses wird niemand bezweifeln können, aber aus irgendeinem Grunde sind sich die Menschen nicht bewußt darüber, daß sie auch ein affektives und emotionales Gedächtnis besitzen, die beide außerordentliche Kräfte in sich bergen.
Du küßt ein Mädchen, und Du sagst, „Oh, Du riechst heute anders!“ Woher weißt Du, daß sie anders riecht? Du siehst, daß sie bleich ist, Du spürst, daß ihre Stirne heiß ist. Warum? Nur weil Du durch eine sinnliche Erfahrung mit einer anderen vergleichen kannst: durch Zuhilfenahme des affektiven Gedächtnisses. Stanislawski hat entdeckt, daß, wenn der Schauspieler inspiriert ist, er sich dieses affektiven und emotionalen Gedächtnisses bedient. Wir haben gesehen, daß Entdecktes immer schon existiert hat; das gilt für alle Bereiche – auch für die Wissenschaften: das Atom hat schon lange vor seiner Entdeckung existiert. Entdeckung ist dann Voraussetzung für Entwicklung und Anwendbarkeit, und das gilt auch für unsere eigene Arbeit. Stanislawski entdeckte bestimmte Dinge, mit denen seine Nachfolger umzugehen lernten, mit Methoden, die bis heute noch immer weiter verfeinert werden. Ich bin wohlgemerkt der festen Überzeugung, daß Stanislawski nicht Theorien erstellt hat, sondern tatsächliche Entdeckungen |145|gemacht hat, die Möglichkeiten eröffnet haben, schauspielerische Prozesse in Kontrolle zu bekommen, die man in der Theatergeschichte bis dahin für nicht willentlich erzeugbar gehalten hatte.
Das emotionale Gedächtnis ist ein Teil des affektiven Gedächtnisses. Im affektiven Gedächtnis vereinigen sich Emotion und sinnliche Wahrnehmung – Wahrnehmung durch die Sinne. Durch die Sinne empfinden wir. Damit eine Empfindung zur Emotion werden kann, muß sie eine gewisse Intensität erreichen. Quantität schlägt also in eine Veränderung der Qualität um. Vergleichbar mit Wasser, das man immer mehr, immer intensiver erhitzt und das dann zu Dampf wird. Darin liegt der Unterschied zwischen Empfindung und Emotion. Stanislawski war sich dieses Unterschiedes bewußt. Er versuchte den Grad an Intensität zu entwickeln, bei dem sich Empfindung in Emotion wandelt, und er versuchte Methoden zu entwickeln, mit denen dieses bewußt geschehen konnte und wiederholbar gemacht werden konnte. Schon vor Stanislawski machten Schauspieler Gebrauch vom emotionalen Gedächtnis. Aber sie wußten nicht, wie sie diesen Zustand absichtlich erreichen konnten und was die Ursachen waren, um solchen Zustand zu erzeugen. Es war klar, daß reine Erinnerung an intensive Gefühle nicht dazu in der Lage waren, diese Gefühle wieder zum Leben zu erwecken, und das ist das Grundproblem der Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Ohne Benutzung des emotionalen Gedächtnisses ist Spielen nur eine Imitation von Realität und nicht eine Erschaffung von Realität, und wenn uns das emotionale Gedächtnis dazu verhilft, Realität auf der Bühne zu schaffen, dann ist es leicht einzusehen, wie wichtig es ist, diese Fähigkeit zu trainieren. […]
In allen Künsten wird Fertigkeit zunächst einmal durch Übung erworben. Im Schauspiel ist das nicht anders. Unsere Methoden unterscheiden sich nur darin von vielen Schauspielschulen, daß sie den Bereich des emotionalen Gedächtnisses und der Imagination mit in das Training einbezieht. Früher waren Gefühl und Imagination dem Zufall überlassen, und nur die technischen Mittel wie Stimme, Körper, Sprache, Gestik und Bewegung wurden entwickelt. Diese äußerlichen Fähigkeiten zu trainieren ist zwar sehr wichtig, treffen aber nicht das eigentliche Problem des Schauspielens. Deswegen nennen wir die äußerlichen Übungen „Fingerübungen“ des |146|Schauspielers, und diese sogenannten Fingerübungen praktiziert der Schauspieler außerhalb der Arbeit an Szenen und außerhalb der Arbeit an der eigentlichen Entwicklung der schauspielerischen Fähigkeiten. Nur in unserer Branche meinen Leute, sie könnten das Handwerk erlernen, indem sie ein Stück einüben. Als wäre der ein Violinist, der eine Partitur spielen kann. Alle Ideen von Stanislawski bauen sich auf der Entdeckung des emotionalen oder affektiven Gedächtnisses auf. Und alle seine Ideen beschäftigen sich damit, wie das Unterbewußte bewußt eingesetzt werden kann. Darin besteht sein für die schauspielerische Kunst revolutionärer Beitrag, denn vor Stanislawski hatte man die Gesetzmäßigkeiten des Unterbewußten für unerklärbar gehalten und daher unverwertbar für die Schauspielkunst. Stanislawski hat eine Korrespondenz zu seiner Arbeit in der Arbeit des französischen Psychologen Theodule Ribot gesehen. Ribot war einer der ersten wissenschaftlichen Psychologen und damit ein Vorläufer unserer modernen Psychologie. Er schrieb mehrere Bücher und in einem seiner Bücher beschäftigt er sich mit dem emotionalen Gedächtnis. Er stellte fest, daß alle Leute es besitzen, daß nur wenige davon Gebrauch machen und noch weniger in der Lage seien, es einzusetzen. Diese menschliche Fähigkeit war der Aufmerksamkeit der Psychologen entgangen. Und auch nach ihrer Entdeckung maßen viele Psychologen ihr keine große Bedeutung bei, weil sie sich nie über die Möglichkeiten des emotionalen Gedächtnisses Gedanken machten.
Lee Strasberg: „Das emotionale Gedächtnis“, in: ders.: Schauspieler Seminar, 9. – 22. Januar 1978, hg. vom Schauspielhaus Bochum, Bochum 1979, S. 64 – 67
Lee Strasberg (1901 – 1982), Schauspieler, Schauspiellehrer und Regisseur. Intendant des Actors Studio (1948 – 1982). Gründungsmitglied des Group Theatre sowie des Lee Strasberg Theatre and Film Institute, an dem er die von ihm entwickelte Schauspieltechnik des „Method Acting“ vermittelte. Seine auf Stanislawskis Lehren beruhende Methode revolutionierte das amerikanische Theater- und Filmgeschehen durch seinen Ansatz, die Schauspielkunst mit Hilfe einer Kombination von Erinnerungen an eigene Erlebnisse sowie Entspannungstechniken zu erlernen.