Erzählen
Erschienen in: Lektionen 5: Theaterpädagogik (10/2012)
Im Juni 2011 zeigten Studierende der Theaterpädagogik an der Universität der Künste Berlin im Theater o.N. in Berlin Prenzlauer Berg ein Programm, in dem sie nicht spielten, sondern erzählten1 – den Mythos von der Entstehung des Popocatepetl, Volksmärchen aus Japan, Afrika, dem Iran, Kunstmärchen, Geschichten von ihren Großeltern … ein bunter Mix aus Fiktivem und Biografischem. Jeder von ihnen stand allein vor dem Publikum, nicht geschützt durch Kostüm oder Maske, nur sparsam mit Requisiten agierend, vom Licht der Scheinwerfer nicht geblendet, im Augenkontakt mit dem Publikum. Der Applaus am Ende war wie ein Sturmwind; beide – Erzählende und Zuhörende – waren hingerissen.
Dem Geschichten-Erzählen scheint eine Verführungsgewalt mit hohem hedonistischen Potenzial eigen. Wieso? Hier geschah doch nichts Spektakuläres, im Gegenteil: Erzählen ist die einfachste, alltäglichste Sache der Welt! Erzählen ist immer und überall da, so wie das Leben (R. Barthes). Wieso stellt sich bei den Zuhörern dennoch ein solcher Genuss ein – bei einer Form der Unterhaltung, die konträr zur populären Eventkultur steht, kontrastiv zu hochraffinierten technischen Arrangements der Kulturindustrie? Bei einer Form der Unterhaltung, in der Geschichten nicht fragmentarisiert, nicht um einer Pointe willen erzählt, nicht parodiert werden? Erzählen als Genuss an einer radical counter-culture2 (Ben Haggarty)?...