Neue Räume, neue Dramaturgien / analog
Ein Gespräch zwischen Benjamin Wihstutz, Doris Uhlich, Ole Frahm und Antje Thoms
von Ole Frahm, Doris Uhlich, Antje Thoms und Benjamin Wihstutz
Erschienen in: Recherchen 165: #CoronaTheater – Der Wandel der performativen Künste in der Pandemie (08/2022)
Assoziationen: Wissenschaft Dramaturgie Dossier: Digitales Theater

Benjamin Wihstutz: Wenn wir über den Wandel der performativen Künste in der Pandemie sprechen, denken viele zuerst an digitale Theaterformate, an Arbeiten wie werther.live von Cosmea Spelleken oder End meeting for all von Forced Entertainment. Diese Hinwendung zum Digitalen, zu Zoom-Formaten und sozialen Medien im Theater ist zweifellos etwas Neues und sehr spannend. Es gab und gibt aber auch neue oder wiederbelebte analoge Theaterformen, die in der Pandemie eine Konjunktur erfahren haben. Und um diese analogen pandemischen Theaterformen soll es in diesem Gespräch gehen. Ich begrüße hierzu die Wiener Choreografin Doris Uhlich, den Literaturwissenschaftler, Performance- und Radiokünstler Ole Frahm sowie die Theaterregisseurin Antje Thoms. Doris, du hast 2020 für dein Tanzstück Habitat (Uraufführung 2017), in dem viele nichtprofessionelle nackte Tänzer*innen auftreten, eine pandemic version erarbeitet.1 Es geht in diesem Stück um eine Suche nach Kollektivität, Berührung und Gemeinschaft, aber auch darum, mit Versammlungen und der Bevölkerung von Räumen zu experimentieren. Wie kam diese pandemic version zustande und was habt ihr verändert?
Doris Uhlich: Es war insgesamt sehr aufwendig, diese Arbeit inmitten der Pandemie zu verwirklichen. Wir wollten so sicher wie möglich arbeiten und haben drei Versionen für Wien, Frankfurt und München erarbeitet. Während dieser zweieinhalb Monate hat man so richtig gemerkt, wie die Welle anstieg, wie die Unsicherheit immer größer wurde. Wir haben erst mit Community Masks begonnen, und ich wollte der Pandemie voraus sein und habe dann schon in Frankfurt zur Dramaturgin Anna Wagner damals gesagt: »Lasst uns direkt mit den FFP2-Masken arbeiten«, obwohl es noch gar kein Must war, diese Masken zu verwenden. Aber ich wollte unbedingt das Ansteckungsrisiko verhindern oder zumindest vermindern, aber natürlich so, dass die Arbeit noch stattfinden kann. Die Körper treten nun – in der pandemic version – nicht einfach nackt, sondern in transparenten Schutzanzügen auf, die von Virolog*innen abgenommen wurden.
Benjamin Wihstutz: So eine Masse an nackten Körpern auf der Bühne ist ja – auch oder gerade in den Schutzanzügen inmitten der Pandemie schon auch etwas Besonderes – also in einer Zeit, in der vielleicht nichts so sehr vor Ansteckung ängstigt wie ein Kollektiv nackter Körper …
Doris Uhlich: Klar, der Körper ist der Dreh- und Angelpunkt unserer Arbeit, und diese Furcht, diese Angst vor sich selbst und auch vor den anderen – die zu überwinden, braucht wahnsinniges Vertrauen einer Gruppe. Wir haben dann versucht, so sicher wie möglich diesen Gruppenprozess zu initiieren. Und die transparenten Schutzanzüge waren dann die vielleicht entscheidende Idee. Wir haben es jedenfalls geschafft.
Benjamin Wihstutz: Ole, du hast mit dem Radio- und Performancekollektiv LIGNA, zu dem außerdem noch Torsten Michaelsen und Michael Hueners gehören, vor vielen Jahren das Konzept Radioballett entwickelt, bei dem die Teilnehmenden als ›zerstreutes Kollektiv‹ im öffentlichen Raum, beziehungsweise genauer, meist in privatisierten öffentlichen Räumen wie Bahnhöfen oder Shopping Malls auftreten. Sie bekommen dann über ein Radioempfänger Anleitungen zu choreografischen Übungen und führen zum Beispiel auch verbotene Gesten wie »Betteln« oder »Herumlungern« aus. Jetzt habt ihr in der Pandemie mit Zerstreuung überall (Abb. 1) in Kooperation mit vierzehn Choreograf*innen eine internationale Version eines solchen Radioballetts entwickelt. Die globale Anwendung ist etwas ganz Neues, zugleich finde ich faszinierend, dass ein altes, viele Jahre vor der Pandemie entwickeltes Konzept der zerstreuten, via Radio ermöglichten Partizipation auf einmal unverhofft eine neue Aktualität und Relevanz bekommen hat.
Ole Frahm: Wenn ich mich an die Anfänge unseres Radioballetts erinnere, dann hatten wir damals zwei Motivationen. Die eine war tatsächlich im Sinne von Brechts ursprünglicher Idee, Radio als Kommunikationsmedium weiterzuentwickeln und dann zu schauen, welche Handlungsmöglichkeiten dieses Medium im öffentlichen Raum eröffnet. Die andere war mit einer Kritik an der Fixierung politischer Bewegungen auf zentrierte, kompakte Demonstrationsformate verbunden. Wir wollten andere politische Handlungsweisen üben und zeigen, dass in der Zerstreuung eine andere Kraft liegt, eine andere Handlungsfähigkeit. Und als es dann während des ersten Lockdowns verschiedene Versuche von Demonstrationen gab, etwa um auf die katastrophale Lage von Geflüchteten auf Lesbos aufmerksam zu machen, und diese Demos gerade in Hamburg wirklich immer sofort und unter den absurdesten Bedingungen aufgelöst wurden, haben wir gedacht: Okay, eigentlich müssten wir noch mal eine politische Artikulation im öffentlichen Raum machen, sodass wir über die Zerstreuung politisch weiter handlungsfähig bleiben und uns vielleicht so über das Demonstrationsverbot, das sehr rigide durchgesetzt wurde, hinwegsetzen können.
Das Bild zeigt eine Gruppe von etwa zwanzig Personen, die an einem Sommerabend zerstreut in größeren Abständen zueinander auf einem großen Platz in Zürich stehen und einer gemeinsamen Choreografie folgen. Im Hintergrund sind Bäume und ein weißes Gebäude zu sehen. Die Menschen sind sommerlich gekleidet und tragen Kopfhörer, einige haben ihre Schuhe ausgezogen. Alle blicken nach links, strecken ihre Arme in die Höhe und sind dabei, ihren rechten Unterschenkel über ihr linkes Knie zu kreuzen. Vorne rechts ist eine Frau im Bild, die man gut erkennen kann. Sie hat die Augen geschlossen und lächelt.
Benjamin Wihstutz: Ging das so einfach oder galt das dann nicht trotzdem als Versammlung?
Ole Frahm: Wir haben zuerst mit unserem Anwalt gesprochen, der damals auch das Radioballett gegenüber der Bahn vertreten hat, um mit ihm zu überlegen, wie das funktionieren kann. Und der hat dann gesagt: »Guckt euch an, was die Rechte da gerade in Berlin macht.« Die hatten da gerade angefangen, sich regelmäßig vor der Volksbühne zu versammeln und gewissermaßen den Nukleus der Coronaleugnungs-Bewegung gebildet. Da war uns plötzlich klar, dass sich das gar nicht mehr nur über unsere übliche »öffentlicher-Raum-Argumentation« verstehen lässt, sondern etwas anderes ist. Wir wollten da einfach auch etwas dagegenstellen.
Benjamin Wihstutz: Und wie kam es dann zur Zerstreuung »überall«, also als globale Aktion?
Ole Frahm: Wir haben gemerkt, dass es in dieser Situation falsch ist, sich nur auf den lokalen oder nationalen Kontext zu beziehen. Und wir haben uns Fragen gestellt wie: Was heißt Solidarität in der Distanz? Uns war dann schnell klar, dass wir einen internationalen Blick einnehmen oder einbinden müssen, weil diese Pandemie ja kein deutsches Problem ist, sondern eben ein internationales. Dazu kam dann das Problem, dass das Reisen so schwierig war und es in manchen Ländern wie z. B. Mosambik unmöglich war, überhaupt wegzukommen. Mit unserem tonbasierten Konzept des Radioballetts bot sich da aber natürlich die einfache Möglichkeit, wenigstens die Stimme beispielsweise von Edna Jaime aus Mosambik zu hören und damit auch hier präsent zu machen und mittels dieser Kombination aus Nähe und Ferne genau die Frage aufzuwerfen, welche Art von internationaler Solidarität wir eigentlich in der Pandemie entwickeln müssen.
Benjamin Wihstutz: Ich finde das sehr interessant, dass du vorhin die Demonstrationen als Motivation angesprochen hast, denn das war ja irgendwie auch sehr schmerzhaft zu sehen, wie so viele tolle und wichtige Bewegungen wie Black Lives Matter oder Fridays for Future 2020 plötzlich zum Halt kamen, weil sie das Problem der Versammlung hatten, weil sie eben nicht mehr, wie Judith Butler in ihrer performativen Theorie der Versammlung schreibt, auf die politische Bedeutung vertrauen konnten, die eine Versammlung von Körpern an sich hat – gerade von prekären Körpern wie bei Black Lives Matter –, sondern der politischen Versammlung und dem öffentlichen Protest plötzlich eine Ambivalenz anhaftete, weil sie potenzielle Superspreader-Events sein könnten. Und mit dem Prinzip der Zerstreuung seid ihr ja wirklich Pioniere, die versucht haben, Versammlung neu und anders zu denken.
Ole Frahm: Ich glaube, das ist auch etwas, das vielleicht unsere Arbeit mit der von Doris verbindet: Dass wir genau die Frage nach dem Kollektiv stellen, also fragen, unter welchen Bedingungen Begegnungen und kollektives Handeln eigentlich möglich sind, und dann auch neue Erfahrungsräume erzeugen, die zu neuen Perspektiven oder Lösungen führen.
Benjamin Wihstutz: Ich möchte nun auch Antje Thoms als dritte Podiumsteilnehmerin einbinden. Antje, du hast am Deutschen Theater in Göttingen Die Methode (Abb. 2) nach der Romanvorlage Corpus Delicti von Juli Zeh in Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner Florian Barth inszeniert, und ihr habt das Ganze dann als eine Art Stationendrama in die Tiefgarage des Theaters verlegt, durch die die Zuschauenden mit dem PKW fahren. Wie ist dieses Projekt entstanden?
Das Bild ist in einem Parkhaus aufgenommen und sehr dunkel, auf der linken Seite sieht man einen schwarzen PKW von hinten, der schräg vor einem großen Schaufenster geparkt ist, das als Bühne fungiert. Der Raum hinter dem Schaufenster ist weiß und hell erleuchtet. Eine Schauspielerin in schwarzer Sportkleidung sitzt auf einem Stuhl und blickt frontal das Auto an, rechts neben ihr steht ein Heimtrainer. Links über dem Fenster ist ein Schild angebracht mit der Aufschrift “Vergiftungsgefahr. Motoren abstellen.”. Direkt daneben befindet sich ein blauer Scheinwerfer, der auf das Auto gerichtet ist. Rechts neben dem Fenster ist ein glitzernder Wandbehang und ein Leuchtelement aufgestellt. Es sind drei aufeinander getürmte Sterne in orange, blau und rot. Am rechten Bildrand sieht man etwas weiter weg eine weitere Person in einem weißen Schutzanzug mit einer FFP2-Maske, die von einem Scheinwerfer gelb angeleuchtet wird.
Antje Thoms: Man muss dazu sagen, dass das nicht unsere erste Tiefgaragen-Produktion war. Und das war ein großer Vorteil, weil wir einfach viele Probleme, die bei so einem Ortswechsel entstehen, wie zum Beispiel Genehmigungen von irgendwelchen Ämtern einholen, die Luftmessungen machen oder den Feuerschutz begutachten müssen, bereits zuvor erledigt hatten. Die Idee mit dem Auto ist natürlich ein großer Gegensatz zu den Arbeiten von Ole und Doris, das hat durchaus einen Zwiespalt. Denn allein mit dem Auto durch die Tiefgarage fahren steht ja gerade nicht für die Suche nach dem kollektiven Moment, sondern eigentlich für die totale Vereinzelung. Die Schauspielerinnen und Schauspieler sind vereinzelt in jeweils einer Art Set und auch die Zuschauenden sitzen vereinzelt in ihrem Auto und fahren von Szene zu Szene. Das spiegelt dann auch ein Stück weit den Inhalt des Stückes wider. Mir ging es aber vor allem auch darum, in dieser Pandemie-Situation eine Veranstaltung zu schaffen, die mehr ist als ein Videostream, ein Abend, bei dem die Besucher*innen etwas erleben können, wo sie einen Termin haben, auf den sie sich freuen können, zu dem sie tatsächlich hingehen beziehungsweise hinfahren können. Und da bot sich im ersten Lockdown das Auto einfach an, man bringt quasi seinen eigenen Zuschauerraum mit und niemand kommt da hinein und niemand kommt heraus. Das Auto ist dann wie ein Umhang, mit dem der Zuschauer geschützt ist, weshalb das zu diesem Zeitpunkt überhaupt möglich war.
Benjamin Wihstutz: Das erinnert mich an einen Aufsatz von Alexandra Schneider über das Auto als »pandemic media space«2, in dem sie auch mit dieser neuen Erfahrung des PKW als geschütztem Raum beginnt, der in neuen Autos zugleich zu einem multimedialen Raum wird mit multiplen Screens, Navigationssystem, Sound System und so weiter. Ein Stück weit spielt das in Die Methode auch eine Rolle, da der Sound beziehungsweise die Monologe der Schauspielenden über einen Bluetooth-Receiver übertragen werden. Andererseits ist natürlich interessant, dass in diesem Auto-Stationendrama – ganz anders als im Autokino, das ja ebenfalls eine merkwürdige Renaissance erfahren hat – solche Eins-zu-eins-Situationen entstehen, bei denen eine PKW-Fahrerin auf einen Performer hinter der Glasscheibe trifft – oder auch bei eurer neueren Arbeit, der Tankstelle, bei der man zu Fuß an verschiedene Schaufenster herantreten kann und dann kleine Szenen vorgespielt bekommt, in denen es um bestimmte Sehnsüchte oder Wünsche in der Pandemie geht.
Antje Thoms: Ja, räumlich ähnelt das einerseits ein wenig der Methode, da hier auch pro Raum beziehungsweise Fenster eine Darstellerin platziert ist, nur ist das jetzt in der Tankstelle viel leichter und vergnügter. Da geht es nicht um das Erzählen einer zusammenhängenden Geschichte, sondern es hat eher sowas von Karussellfahren, es findet eine Begegnung statt, man kann dann auch tatsächlich direkt miteinander reden. Das heißt, die Zuschauer*innen singen zum Beispiel mit einem Schauspieler gemeinsam, oder man unterhält sich über den letzten Restaurantbesuch oder lässt sich die Karten legen.
Benjamin Wihstutz: Wir haben jetzt von vielen verschiedenen pandemischen Theater-, Tanz- und Performancearbeiten gehört, die ja gerade räumlich, aber auch dramaturgisch eine ungeheure Bandbreite an Umgangsmöglichkeiten mit den pandemischen Bedingungen repräsentieren. Ich möchte euch aber noch mal gezielt nach dem Alltag künstlerischer Praxis fragen: Wie hat sich eure Arbeit und Zusammenarbeit in der Pandemie verändert, wie ist das, zum Beispiel mit Sicherheitsabständen zu proben, ein Konzept zu entwickeln, seid ihr viel auf Videokonferenzen umgestiegen wie in anderen Berufszweigen oder wie hat sich das gewandelt?
Antje Thoms: Wir hatten natürlich bei beiden Projekten den Vorteil, dass das schon beim Proben Eins-zu-eins-Begegnungen waren. Viel schwieriger wird es, wenn man mit einem Ensemble, mit mehreren Menschen in einem Raum arbeitet, da ist das Proben dann schon mühsam. Ich fand es extrem anstrengend, dass der körperliche Kontakt, den man sonst auf Proben miteinander hat, nicht funktioniert. Der ganz normale Umgang und die Nähe zu den Darsteller*innen entfallen, zum Beispiel etwas leise miteinander zu besprechen. Andererseits merkt man, dass andere Dinge wie Vorgespräche, Konzeptionsprobe, Bauproben, alle Termine, für die man normalerweise wahnsinnig viel herumfährt, digital genauso gut funktionieren. Das ist dann schon eine Erleichterung, gerade wenn man an unterschiedlichen Orten inszeniert, wenn ich dann nicht mehr für einen halbstündigen Termin erst mal sechs Stunden irgendwohin fahren muss.
Doris Uhlich: In Österreich hatten wir glücklicherweise schon früh flächendeckende Antigentests, was eine gewisse Normalität beim Proben ermöglicht hat. Wenn alle negativ getestet sind, legt man dann schon eine gewisse Furcht ab oder kann sie überwinden. Andererseits ist es natürlich schon so, dass diese Sicherheitskonzepte auch in bestimmte ästhetische Entscheidungen von mir als Choreografin eingreifen. Die Proben funktionieren eigentlich gut, aber es bleibt dann eine Schwierigkeit, auch in Kontakt mit dem Publikum eine Leichtigkeit auf die Bühne zu bringen; das ist dann die nächste Hürde. Frei bewegliches Publikum ist zum Beispiel fast unmöglich umzusetzen. Und so etwas beeinflusst dann die Choreografie und den Umgang mit dem Raum. Ich liebe eigentlich sehr, wenn sich Publikum und Perfomer*innen auf Augenhöhe begegnen oder sich mischen – und jetzt gehe ich doch wieder mehr in die Frontalperspektive und versuche trotzdem meine eigene Vision unter den herrschenden Bedingungen umzusetzen.
Benjamin Wihstutz: Es spielen ja auch neue Differenzierungen von Menschen im Publikum oder auf der Bühne eine Rolle, wie z. B. die Frage, ob die Menschen geimpft sind oder wer besonders gefährdet ist. Also auch wer ins Theater reindarf oder wer auf der Bühne stehen sollte. Ein Schwerpunkt deiner Arbeit liegt schon länger auch auf der Diversität von Körpern, du arbeitest häufiger mit Performer*innen mit Behinderung, die ja auch zu einer Risikogruppe gehören. Wie gehst du da mit individuellen Risiken und Sicherheitsbedürfnissen um und wie verändert die Pandemie diese Zusammenarbeit?
Doris Uhlich: Das hat sich während der Pandemie immer wieder verändert, zu Beginn waren es vor allem alte Menschen, Menschen mit Behinderung, die zur besonders vulnerablen Gruppe gehörten, zwischenzeitlich hatte ich dann das Gefühl, dass wir alle vulnerabel sind. Wichtig war mir vor allem, mit allen zu kommunizieren. Bei Every Body Electric oder auch bei Habitat – Stücke, in denen auch Menschen mit Disabilitys dabei sind – haben wir direkt darüber gesprochen. Und ich habe dann immer wieder gehört: »Wir wollen gar nicht in diese Ecke geschoben werden, wir wollen eigentlich touren, wir wollen reisen, wir wollen aber vor allem individuell gefragt werden, was wir wollen und brauchen.«
Benjamin Wihstutz: Ole, wie war das im öffentlichen Raum – du hast vorhin von den Versammlungsverboten gesprochen – hatten die Corona-Regelungen direkte Auswirkungen auf Zerstreuung überall?
Ole Frahm: Wir dachten ja, wir schlagen der Stadt ein Schnippchen, indem wir zerstreut auftreten. Aber als wir hier in Frankfurt auf dem Roßmarkt aufführen wollten, hat die Stadt gesagt: »Das ist aber eine Theateraufführung, die müsst ihr einzäunen und auch dafür sorgen, dass am Zaun keiner stehen bleibt.« Und dann wurde uns klar, auch in Absprache mit dem Mousonturm, so können und wollen wir das nicht aufführen. Wir wollen keine Zoo-Situation und das Publikum bei uns ist auch nicht einfach Performer*in im starken Sinne, also die machen ja keine Vorführung, der man dann von außen zuschaut. Wir haben die Aufführung letzten Endes in einen Park verlegt und in anderen Städten wie in Berlin bei Tanz im August waren es dann eher abgeschlossene Räume wie die Uferstudios im Wedding, was eigentlich für die Arbeit nicht so günstig war, die ja im öffentlichen Raum einen neuen Raum eröffnen will. Aber das ließ sich zu diesem Zeitpunkt nicht anders realisieren und da war uns dann auch einfach wichtiger, dass es für alle eine safe und angenehme Situation ist. Man muss dann die ästhetische Entscheidung eben so treffen, dass es funktionieren kann und für alle okay ist.
Benjamin Wihstutz: Mir fällt andererseits auf, dass für viele Arbeiten auch eine Zweckentfremdung von Räumen eine Rolle spielt – also das Theater in der Göttinger Tiefgarage, dann die aktuelle Arbeit von LIGNA, The Passengers, ein Videowalk am fast stillgelegten Frankfurter Flughafen3 und die leeren Sitzreihen in der Wiener Version von Habitat, in der die Performer*innen dann etwa die Reihen hochklettern oder schnell durch die Reihen laufen, die Sitzreihen werden plötzlich zu Laufgassen. Natürlich gab es solche räumlichen Inszenierungen schon vor der Pandemie, aber trotzdem scheint mir, dass gerade so etwas wie der Umgang mit leeren Räumen eine neue Relevanz bekommen hat. Würdet ihr sagen, man entdeckt die Räume neu durch die Pandemie?
Antje Thoms: Auf jeden Fall. Es sind einerseits neue Räume, aber auch neue Fragen über existierende Theaterräume. Ich frage mich zum Beispiel: Wie könnte mir ein Guckkasten das geben, was man jetzt braucht? Ich glaube, das ist gerade einfach nicht das richtige Format. Und auch ein Videostream am Bildschirm ist in Bezug auf die Zuschau-Situation nicht gerade spannend. Ich finde, diese Offenheit für neue Räume ist definitiv etwas, was man nach der Pandemie beibehalten sollte, auch eine gewisse Flexibilität, sodass viel schneller Konzepte entwickelt und umgesetzt werden können, gerade an den Stadt- und Staatstheatern. Dass man von dem Plan, den man irgendwann gemacht hat, einfach auch mal abweichen kann.
Doris Uhlich: Ich merke schon, dass sich bei mir ein besonderes Interesse an Räumen einstellt, auch outdoor. Aber die Sicherheitsvorkehrungen sind trotzdem leider oft die gleichen. Ich habe dann oftmals viele verschiedene Alternativen im Kopf, viel Fantasie und Visionen. Aber ich merke zugleich, wie das der Fantasie fast immer einen Riegel vorschiebt, wenn ich weiß, dass etwas aufgrund von Sicherheitsvorkehrungen einfach nicht realisierbar erscheint.
Ole Frahm: Bei uns ist das ein wenig umgekehrt, da wir ja immer schon oft außerhalb der konventionellen Theaterräume gearbeitet haben und eigentlich jetzt ein Zeitpunkt war, an dem wir gerne mehr in Theaterräumen gearbeitet hätten. Der größere ›räumliche‹ Wechsel für uns war da schon die ganze Digitalisierung, das Streaming, die neuen Verbindungen an viele Ecken der Welt, die durch die ganzen verschiedenen Videoplattformen möglich werden. Insofern war für uns die Frage, wie sich diese virtuellen Kommunikationsräume mit anderen Räumen verbinden lassen. Das ist etwas, was uns gerade besonders interessiert, also nicht nur die Verknüpfung des Lokalen mit dem Globalen, sondern auch die Frage, welche Öffentlichkeit jeweils diese Räume herstellen, und da ist ja der Theaterraum nur einer von vielen möglichen.
Antje Thoms: Mir fällt in Diskussionen über Digitalisierung immer auf, dass ich in meiner Arbeit wichtig finde, reale und konkrete Begegnungen stattfinden zu lassen. Deshalb interessiert mich digitales Theater meistens eher weniger. Was ich am interessantesten finde, ist Virtual Reality. Das kommt einem Theatererlebnis für mich am nächsten, weil es auch eine körperliche und emotionale Erfahrung ist. VR bietet die Möglichkeit, wirklich direkt mit dem Gegenüber zu interagieren, und wenn man auf einem Drehstuhl mit der Brille sitzt, dann macht diese Überwältigung eines VR-Effekts körperlich einfach etwas mit einem. Das erreicht mich dann nicht nur intellektuell, sondern sinnlich und emotional. Und ich finde, genau das können viele digitale Formate sonst einfach nicht.
Benjamin Wihstutz: Wir haben eine Frage aus dem Publikum von Marcus Dross (Dramaturg, Künstlerhaus Mousonturm):
Marcus Dross: Ich frage mich gerade, wie sehr die noch analog stattfindenden Performances zwangsläufig zu einer Art Corona-Demonstration werden, weil die flankierenden Maßnahmen so deutlich ausgestellt werden müssen und nicht wie sonst im Theater exklusiv und diskreter am Rand mitlaufen können. Wie habt ihr diese institutionelle Einmischung von außen erlebt und diesen Umstand, dass ihr diese Hygiene-Maßnahmen mitinszenieren müsst? Ist die Realpolitik näher an eure künstlerische Praxis herangerückt?
Antje Thoms: Ja, auf jeden Fall, weil man einfach tatsächlich auch nie weiß, wann die Genehmigungen kommen und ob sie dann wirklich kommen. Man weiß auch nicht, ob zum Zeitpunkt der Premiere noch dieselben Regeln gelten oder wie die pandemische Situation ist. Man muss aber sagen, dass Göttingen in diesem Fall eine wohlgesonnene Kommune ist, das heißt, die Sachen, die wir beantragt haben, sind dann auch alle durchgegangen, allerdings auch immer erst kurz vor knapp. Aber bei unserer Tankstelle merkt man beispielsweise die Restriktionen gar nicht und das zeigt dann auch, wie unterschiedlich sich die Regelungen je nach Ort und Situation stärker oder weniger stark auf die Theaterarbeit auswirken.
Doris Uhlich: Das Problem ist natürlich auch, dass sich manche Sachen nach einer Weile erschöpfen. Ich habe zum Beispiel gemerkt, der nackte Körper mit der Maske, der hat etwas Interessantes, da wurde die Maske tatsächlich zu einem Kostüm und zu einer Erweiterung, einer Sichtbarmachung. Aber ein paar Monate später gab es dann eben eine Produktion mit angezogenen Menschen und Maske, da habe ich plötzlich gemerkt, dass mich das stört. Das ist dann plötzlich wie ein Pflaster im Gesicht, wie eine sichtbare Wunde. Da wurde mir irgendwie ganz anders, mir hatte die Maske am nackten Körper viel besser gefallen, da hatte sie noch Witz.
Benjamin Wihstutz: Es gibt jetzt noch eine weitere Frage aus dem Publikum: »Zeichnet sich aus eurer Sicht neben neuen Dramaturgien ab, dass neue Bedarfe und auch neue Berufe im Theaterkosmos entstehen, die dort zukünftig sowohl im Krisenfall als auch darüber hinaus relevant werden? Inwiefern verändern sich auch die Berufe der darstellenden Künste?«
Antje Thoms: Das ist eine spannende Frage. Im klassischen Stadttheater merkt man zumindest, dass eigentlich ein alter Beruf, den es mal gab, der aber in vielen Häusern gar nicht mehr existiert, reaktiviert werden müsste: die Produktionsleitung. Die benötigt man für das Beantragen von allen möglichen Arten von Genehmigungen, auch für das Einbinden von Spielclubs, von anderen Bürger*innen. Das ist einfach alles bürokratischer geworden. Und vielleicht braucht man auch einen anderen Anspruch an die Auslastung. Es gibt zwar ein großes Interesse an Arbeiten wie Die Methode oder Tankstelle, aber diese Inszenierungen müssen natürlich unfassbar oft gespielt werden, um überhaupt die Zuschauerzahl zu erreichen, die wir sonst im Stadttheater haben. Das Problem ist also weniger, dass es kein Zuschauerinteresse gibt, sondern dass wir mit solchen Projekten niemals die Kapazität eines großen Saals abdecken könnten.
Ole Frahm: Ich glaube ehrlich gesagt, wir werden in den nächsten Jahren noch ein ganz anderes Problem bekommen, zumindest gilt das aus der Freien-Szene-Perspektive, nämlich dass viel, viel weniger Geld da sein wird und dass es aufgrund der ja doch absehbaren wirtschaftlichen Krise viel weniger Handlungsräume geben wird. Die Kämpfe, die geführt werden müssen, sind dann gar nicht mehr ästhetischer Art, sondern betreffen erst mal überhaupt die Grundlagen künstlerischer Existenz. Es ist schon jetzt so, dass ganz viele aus der Künstlersozialkasse rausgeflogen sind, was eine der Grundlagen für freie Arbeit ist, weil sie eben letztes Jahr alle so wenig verdient haben, dass sie nicht mehr ihre Sozial- und Rentenversicherung fortsetzen können. Offenbar gibt es dafür einfach keine Regelung. Und ich habe leider auch den Eindruck, dass die ganze Frage der Legitimation von Kultur eine neue Aktualität bekommen hat. In Frankfurt sollte zum Beispiel ein Kinder- und Jugendtheater gebaut werden. Da wurde dann in der Pandemie gleich gesagt: »Also das können wir jetzt ja streichen.« So etwas bringt einfach zum Vorschein, was dräut. Wenn man bedenkt, dass die Lufthansa neun Milliarden Euro bekommen hat, also das neunfache von dem, was die gesamte Kultur gekriegt hat, dann finde ich, es ist dringend geboten, auf diese Diskrepanz und auch die Schieflage der Debatten hinzuweisen. In der Kultur wird dann schnell von Kürzungen gesprochen und gefragt, wo die Kulturmilliarde hin ist, während bei der Lufthansa natürlich überhaupt niemand gefragt hat, wo die Milliarden gelandet sind: Natürlich nicht nur bei den Angestellten, sondern in der ganzen irrsinnigen Flughafeninfrastruktur.
Benjamin Wihstutz: Ich habe da durchaus ähnliche Befürchtungen für die Geistes- und Kulturwissenschaften. Denn wenn beispielsweise Tagungen online stattfanden oder bestimmte Forschungsreisen nicht möglich sind, geben wir natürlich viel weniger Geld aus. Und darin liegt dann natürlich auch eine gewisse Gefahr, wenn etwa in Zukunft gesagt wird, »Das ging doch in der Pandemie viel billiger, warum macht ihr das nicht immer so«, das wäre dann sehr problematisch. Aber es könnte in der Tat sein, dass uns diese Krise auch in Zukunft noch lange beschäftigen wird, vielleicht sogar, wenn die Infektionsgefahr längst vorbei ist. Ich danke euch für dieses spannende Gespräch.
1 Siehe das Cover dieses Buches, das die Wiener Version von Doris Uhlichs Habitat – pandemic version zeigt.
2 Alexandra Schneider, »The Car as Pandemic Media Space«, in: Keidl, Philipp Dominik/Melamed, Laliv/Hediger, Vinzenz/Somaini, Antonio (Hg.) Pandemic Media. Preliminary Notes Towards an Inventory. Lüneburg, 2020, S. 157 – 166.