Auftritt
Stuttgart: Mit Mephisto flirten
Schauspiel Stuttgart / DT Berlin: „Das Himbeerreich“ (UA) von Andres Veiel. Regie Andres Veiel, Bühne Julia Kaschlinski, Kostüme Michaela Barth
Erschienen in: Theater der Zeit: Frontmann Hamlet – Der Dresdner Musiker-Schauspieler Christian Friedel (03/2013)
Assoziationen: Schauspiel Stuttgart Deutsches Theater (Berlin)
Sie sprechen über „Swaps“, Bürosessel, die Panzerungskategorie B7 („das ist Präsidentenklasse, mehr geht nicht“) und über verzockte Millionen. Auch über „stochastische Volatilität“, „Mezzanine“ und „Incentives“. In Andres Veiels Dokumentarstück „Das Himbeerreich“ reden Banker: „Wir müssen permanent Entscheidungen treffen in einem Bereich, den niemand wirklich durchdringt.“ Ausgangsmaterial dafür sind 25 Interviews mit führenden Vertretern großer Finanzinstitute. Für „Himbeerreich“ (nach einem Zitat von Gudrun Ensslin über das Konsumparadies BRD) hat Veiel diese Gespräche komplett anonymisiert und extrem verdichtet. Das Ergebnis – eine 100-minütige Essenz dieser Interviews – läuft nun als Koproduktion am Schauspiel Stuttgart und am Deutschen Theater Berlin. Veiel, der sich in Filmen („Black Box BRD“) und Bühnentexten („Der Kick“) mit den dunklen Seiten der Zeitgeschichte beschäftigt, ist kein Mann fürs Spektakuläre. Er ist Psychologe, ihn interessieren Hintergründe und Motivationen. Wie ticken Investmentbanker? Was bewegt sie, wenn sie im schlimmsten Fall Pensionsfonds plündern, Millionen vergeigen oder ganze Staaten erpressen?
Aus den Gesprächen hat Veiel fünf fiktive Figuren generiert und ihnen einen Chauffeur zur Seite gestellt. Ab und zu entschwebt jemand mit einem gläsernen Aufzug in den nächsthöheren Bankerhimmel von der fast leeren Bühne, eine Art Panikraum, der ein bisschen an einen Geldtresor erinnert: mit glänzenden, stahlgepanzerten Wänden, fensterlos.
Und dann erzählen sie. Vom „ultimativen Endorphin-Ausstoß“, von betörenden Gewinnmargen und – bei besonders riskanten Geschäften – gar von „kleinen Flirts mit Mephisto“. Die Höhe der Verluste? Sei „nicht entscheidend“, sagt einer, wenn klar ist, dass staatliche Bürgschaften einspringen – „sind ja alles nur Steuergelder“. Auch eine Vorstandsquotenfrau ist dabei (Susanne-Marie Wrage) und schwärmt von „exzellenten Derivaten“. Ihr seriöser Investmentbank-Kollege (Manfred Andrae) wurde kaltgestellt. Hohes Gehalt, nichts mehr zu sagen. Sein alter Bürostuhl war „sechsfach verstellbar“, sein neuer ist’s nur noch dreifach – das tut weh. Veiels Typenpanorama zeigt auch den aggressiven Broker (Sebastian Kowski), der weiß, wo’s langgeht („Knick ich weg oder werde ich zur Kampfmaschine?“), oder den gebildeten Vorstandssprecher (Joachim Bißmeier), der gern auch mal den philosophischen Humoristen gibt: „In der Hölle gibt es immer noch Hoffnung, im Himmel nur noch Glückseligkeit.“ Der weiß behandschuhte Chauffeur (Jürgen Huth) ist Lenker, Clown und Zeremonienmeister. Er kündigt die Stationen des Stücks an, das vom „Großen Fest“ bis runter in den „Underground“ führt.
Ulrich Matthes spielt den einzigen Abweichler, der auch mal in Rage gerät und anprangert: „Ihre ehrenwerte Gesellschaft! Sie rauben ganze Bevölkerungen aus!“, oder der wie ein „Occupy“-Aktivist ins Publikum brüllt: „Warum wird da niemand wütend?“
Gier – dieses Wort fällt nur einmal, nebenbei. Veiel inszeniert sein Banker-Psychogramm wie das Nahen einer biblischen Katastrophe, die „Der große Regen“ heißt. Der Zusammenbruch kommt, die Firmentürme werden evakuiert. Und die Banker bekommen Jogginganzüge zugeteilt, mit denen sie sich tarnen, „dem Pöbel anpassen“ und fliehen können.
Manchmal blendet die Regie aus dem Off Sprechchöre ein – mit Kindheitstraumata, privaten Verletzungen. Doch diese biografischen Bekenntnisse wirken vor der Folie all dieser Krisen, Crashs und Staatspleiten irgendwie larmoyant. Nicht immer gelingt es Veiel, die monologische Struktur seines Materials mit Dialogansätzen zu beleben. Dennoch ist hoch spannendes Dokumentartheater entstanden, weil es Hintergründe beleuchtet und Denkweisen offenlegt und weder wohlfeiles Tribunal noch billiger Schauprozess ist. Es geht – gerade in dieser Welt ökonomischer Irrationalität – auch um Psychologie. Um den Blick in ein System der Zerstörung. Insofern ist es richtig, wenn Veiel als Regisseur auf spektakuläre Eingriffe verzichtet – der Schrecken dieses Systems offenbart sich viel eher im schlichten Nachdenken der Banker über ihr eigenes Tun. Zudem sagt dieses große, mosaikartig schillernde Berufsstands-Psychogramm auch etwas über den wertemäßig ausgehöhlten Zustand der übrigen Gesellschaft aus. Ein Banker meint: „Wer auf uns zeigt, meint sich selbst.“ //