Theater der Zeit

Auftritt

Dessau: Miss Liberty

Anhaltisches Theater Dessau: „Die Eumeniden“ von Aischylos. Nachdichtung und szenische Bearbeitung von Walter Jens. Regie Christian von Treskow, Bühne Nicole Bergmann, Kostüme Kristina Böcher

von Jens Fischer

Erschienen in: Theater der Zeit: Der Lieblingsfeind steht links – Über Theater und Polizei (12/2020)

Assoziationen: Anhaltisches Theater Dessau

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Es wird Großes passieren. Nachdem Ungeheuerliches geschehen ist. Ein göttlicher Fluch initiierte eine Gewaltorgie biblischen Ausmaßes. Hass erzeugte Hass in der scheinbaren Unbedingtheit eines maschinellen Prozesses. All das liegt beim Herunterdimmen des Saallichtes in der Vergangenheit. Im Anhaltischen Theater Dessau vollziehen sich nur noch rückblickende Erzählungen, symbolische Gesten und Versuche eines Neuanfangs. Unheimlich posttraumatisch wirkt die Atmosphäre des gruselfinsteren Bühnenbilds (Nicole Bergmann). Zudem dramatisiert Jürgen Grözinger jeden Satz unter Verwendung eines umfangreichen Arsenals an Perkussionsinstrumenten. Um ­Pathos kümmert sich die Grande Dame des Dessauer Schauspiels, Christel Ortmann. Priesterlich graziös schreitet sie an den Parkettreihen vorbei auf die Bühne und fasst im hohen klassischen Ton die ersten beiden Teile der „Orestie“ des Aischylos, deren dritten Teil „Die Eumeniden“ bilden, zusammen.

In seiner gen Troja gerichteten Kriegsgier opferte Agamemnon für den Beistand der Götter einst die Tochter, dafür schlachtete ihn später seine Gattin Klytaimnestra ab, die daraufhin von ihrem Sohn Orest getötet wurde, der wiederum nun verfolgt wird von seinen Schuldgefühlen, verkörpert durch die Erin­nyen, unterweltlich-furchterregende Furien. In Dessau werden sie von sieben Opernchoristinnen in lumpig schwarzen Gewändern gespielt. Mit tierischen Lauten, sich wiegenden Körpern, stampfenden Füßen, unisono skandierten Anklagen und gesanglichen Einlagen fordern sie unter Anleitung ihrer schnoddrig kecken Anführerin (Yevgenia Korolov), die archaische Vergeltungsspirale weiterzudrehen. Nächstes Opfer: Orest (Andreas Hammer). Er saut sich schuldtrunken an einer Opferschale mit Blut ein, krampft daraufhin als unendlich einsames Häufchen Elend auf dem Boden herum und behauptet, der Muttermord sei ihm vom Lichtgott Apoll (Tino Kühn) befohlen worden. Dieser stapft bestätigend auf Kothurnen hinzu, goldglitzernd sein Anzug, aristokratisch arrogant der Auftritt.

Da ist nichts aufdringlich aktualisiert. Mit höchst eindringlicher Bilderfantasie überführt Regisseur Christian von Treskow den Konflikt aus der Antike in ein modernes Gerichtsdrama, das unter Anleitung von Athene abläuft, wiederum von Christel Ortmann gespielt. Sie plädiert, nicht Götter sollen ihr Gerechtigkeitsempfinden durchsetzen, sondern zu unabhängigen Schöffen erklärte Bürger ab sofort Recht sprechen. Aufgrund dieser zivilisatorischen Erlösung werden „Die Eumeniden“ gern inszeniert – als Fortschrittsjubel darüber, die Blutrache durch den juristischen Wortstreit abgelöst zu haben. Hinreißend extemporiert gelingt dieser im Duell des Orest-Verteidigers Apoll und der anklagenden Chorführerin. Die Souffleuse rennt kopfschüttelnd über die Bühne, wenn sich die beiden im heutigen Alltagsjargon Argumente und Gegenargumente um die Ohren hauen, wie etwa maskulinistische und feministische Deutungsmuster des Muttermords.

Anschließend müsste eigentlich wie bei Ferdinand von Schirachs Stücken die Urteilsfindung per Abstimmung des Publikums erfolgen – wird es doch immer wieder als bezeugende, zu überzeugende Bürgerversammlung angesprochen. Aber Treskow interes­sieren nicht die Folgen der Rhetorikshow. Er fokussiert im grellen Licht der Wahrheitsfindung vor allem darauf, wie Athene, indem sie für Orests Unschuld stimmt, den knappen Schuldspruch in ein Patt verwandelt, was – im Zweifel für den Angeklagten – letztlich Freispruch bedeutet. Friede, Freude, Eier­kuchen? Nicht in Dessau.

Statt die matriarchal gesinnten Erin­nyen in die patriarchal gesinnte Zeit zu inte­grieren, werden sie durch Athene gehirnge­waschen und mit dem Versprechen auf Ehre, Ansehen und Wohlstand ruhiggestellt. Aus den Erinnyen werden die Eumeniden, die Wohlmeinenden. Dieser Coup Athenes ist nicht der Gerechtigkeit geschuldet, sondern ihren politischen Interessen. Die dem Kopf des Zeus’ Entsprungene bezeichnet sich als Freundin der Männer, deren Macht und Prestige sie fördern, stützen und erhalten will. Klar, dass die das toll finden. Orest jedenfalls jubelt über Athenes Eingriff wie ein Torschütze, während die Choristinnen noch eine weitere Demütigung erfahren. In der letzten Szene müssen sie allesamt mit Gesetzbuch, Fackel sowie Stirnkranz als Miss Liberty posieren. „So …“, sagt Athene, zündet sich eine Zigarette an und blickt herablassend ins Publikum. So, da müssen wir also aufpassen auf die Demokratie, die anfällig ist für Ausgrenzung, aber auch für Missbrauch, wie Europas Autokraten derzeit belegen. Es triumphiert also eine inhaltlich wie schauspielerisch überzeugend kritische Sicht auf den großen Gründungsmythos des bürgerlichen Rechtsstaates. //

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