Von der Distanz und der Bewunderung des Bösen
Erschienen in: Arbeitsbuch 2016: Castorf (07/2016)
Ein Theaterregisseur ist, aus der Ferne gesehen – dort, wo andere Uhr- und Tageszeiten gelten und Sprachdifferenzen herrschen –, nicht das unmittelbare Abbild seiner Inszenierungen. Vielmehr bildet er sich aus den Gerüchten, mit denen die Zuschauer ihn sich ausmalen, und aus den Fiktionen, mittels derer die Politik- und Theatergeschichte ihn neu erfindet. Schwärmereien und Schmähungen sowie falsche Zuweisung von Misserfolgen und Errungenschaften anderer lassen seine Arbeiten zur Legende oder einem Missverständnis werden. Ein theatraler Akt in der Ferne verheißt mehr als einen Bühnenhandwerker. Er beschwört eine Wundererscheinung, ein Trugbild oder ein Monstrum, aber nie „nur einen Menschen“.
Die Theaterkritik ist ein Blick aus der Nähe und Gegenwart. Die Entfernung erschafft Bestiarien oder Reiseberichte. Aus Ableitungen – oder Paranoia – können der ordinären Biografie eines Regisseurs vonseiten der fernen Zuschauer Genie und Fantasie zugeschrieben werden. Der ferne Zuschauer, den Ländergrenzen oder Generationen von einem Theaterstück trennen – der aber unscharfe Vorstellungen von der bemerkenswerten Natur dieses szenischen Phänomens hat – wohnt einem „Theater der Verzerrung“ und einer „Montage des Widerhalls“ bei. Einem Echo des ursprünglichen Stücks, das auf seinem Weg zur Wahrnehmung des distanzierten Zuschauers stärker oder schwächer wird.
Entgegen des geläufigen Vorurteils, Verzerrung und Widerhall seien trügerische Verfälschungen, kann der...