Theater der Zeit

Aufruf

Einleitung

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

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Teile des Ökosystems des Grand Barrier Reefs aus nächster Nähe zu betrachten, ohne dafür selbst an der Nordostküste Australiens in den Pazifik abzutauchen, das ermöglicht Künstler und Architekt Yadegar Asisi seit 2015 in zwei seiner inzwischen mehr als zwölf 360-Grad-»Panometern«1 in ganz Deutschland und Frankreich. Seit 2016 bietet das Unternehmen LesMills eine »Fitness-Experience« an, die movie rides, wie man sie aus IMAX-Kinos der neunziger Jahre kennt, mit Spinning-Kursen kombiniert, sodass die Illusion einer Fahrradtour nicht mehr nur über den Takt der Musik, sondern über einen Screen, der eine Berg- und Talfahrt simuliert, erzeugt wird. Einen Kinofilm wie Dirty Dancing oder The Great Gatsby im Rahmen eines thematischen Party-Events gemeinsam im Look der Zeit zum Leben zu erwecken, bieten britische Veranstalter seit 2007 unter dem Label »Secret Cinema« an. 2013 folgt Berlin anderen europäischen Metropolen und eröffnet den Berlin Dungeon, der Tourist*innen einlädt, in einer Mischung aus Laufgeschäft, Geisterbahn und interaktivem Theater in die schaurigen Abschnitte des mittelalterlichen Berlins einzutauchen. Mit der Fortsetzung Jurassic World (USA 2015) der Jurassic Park-Filme aus den neunziger Jahren und der Serie Westworld (USA 2016)2 erlebt das Phänomen des Vergnügungs- und Themenparks eine Renaissance. Beide Fiktionen thematisieren und aktualisieren futuristische Resorts als eskapistische Parallelwelten, die ihre Besucher*innen räumlich umschließen und von ihnen am eigenen Leib erfahren und erspürt werden können. Das Eintauchen in alternative, simulierte, virtuelle Welten, die nicht real sind, sich aber real anfühlen können und so für den eintauchenden Protagonisten temporär zur Wirklichkeit werden, ist seit den siebziger Jahren ein wiederkehrendes filmisches Sujet, das aktuell vor dem Hintergrund neuester VR-Technologien mit Blockbustern wie Ready Player One (USA 2018) ebenso fortgeschrieben wird wie in Mark Zuckerbergs unternehmerischer Vision der Realisierung eines »Metaverse«. Populäre Angebote spielförmigen Eintauchens in Parallelwelten erfreuten sich in den vergangenen Jahren nicht nur über das Aufkommen zahlreicher »Escape Rooms«3, sondern auch am Beispiel sogenannter »Alternate Reality Games« (ARG) steigender Beliebtheit.4 Mal werden Mitspieler*innen über E-Mails, Werbe-Trailer oder Nachrichtendienste zu einer Art virtueller Schnitzeljagd eingeladen, die sie in ein umfängliches Netz von Fake-Homepages oder -Accounts in sozialen Netzwerken mit diversen Handlungsaufträgen, Gesprächsimpulsen oder Plot-Indizien führt. Mal greift das ARG in den Alltag der Teilnehmenden ein, ohne dass diese um Zeitpunkt, Ort, Umfang oder Gegenstand der spielerischen Intervention wissen. Auf diese Weise wird Wirklichkeit und Spielrealität systematisch miteinander verflochten, ohne dass die Verflechtung selbst erkennbar wäre. Eine dritte ARG-Variante, die sogenannten »extreme hunts«, bietet u. a. Russ McKamey seit mehr als einer Dekade auf seinem Anwesen in Südkalifornien an. Die McKamey Manor-Tour lädt ihre Teilnehmer*innen zu einem realen Horrortrip ein, bei dem diese gekidnappt, eingesperrt und gefoltert werden.5 Vergleichbar zu bestimmten Spielarten des NordicLARP6 gibt es lediglich ein Codewort, das die real durchlebte Simulation stoppen kann.

All diese sehr unterschiedlichen Beispiele der zeitgenössischen, populären, kommerziellen »experience industry« (Pine/Gilmore, 1999) zielen darauf ab, ihre Rezipient*innen, Nutzer*innen oder Mitspieler*innen multisensorisch zu umgeben, räumlich oder narrativ einzuschließen sowie körperlich und/oder mental in Beschlag zu nehmen. Sie alle firmieren als Gegenwartsphänomene unter dem, was man als Immersion bezeichnen kann. Gemeinsam ist ihnen die Privilegierung eines möglichst unmittelbaren, intensiven Erlebens, das auf Distanzminimierung und eine temporäre Verschmelzung von Fiktion und Realität setzt. Gegenstand des Erlebens ist dabei ein bestimmtes Selbst-/Weltverhältnis. Schließlich dominiert in allen Beispielen die Existenz einer gestalteten und/oder simulierten Umgebung, Fiktion oder Parallelwelt, zu der Zuschauende, Teilnehmende oder Spielende in ein Verhältnis gesetzt werden. Und dieses scheint auf einen ersten Blick einem körperlichen Spüren und intensiven emotionalen Fühlen einer distanziert-reflexiven Teilhabe den Vorzug zu geben.

»Immersion [ist] ein ubiquitäres Phänomen geworden […], insofern als damit sowohl Erfahrungen mit Texten, mit Virtual Reality, mit Kunst und Kino gleichermaßen charakterisiert werden können« (Curtis, 2008a, S. 78). Es ist gegenwärtig auch die Rede von einem »Schlüsselphänomen unserer Zeit« (Oberender, 2016) oder einer »kulturellen Dominante« (Werry/Schmidt, 2014, S. 478, dt. TS). Spätestens mit Beginn der zehner Jahre setzt sich Immersion als Begriff und Phänomenkomplex auch im Feld des Theaters durch. 2011 feiert die Produktion Sleep no more der britischen Company Punchdrunk in New York ihre US-amerikanische Erstaufführung, im Londoner Battersea Arts Center findet erstmals ein One-on-One-Festival und im französischen Lyon die Auftaktausgabe des Festivals Micromondes. Festival des Arts Immersifs statt. Bereits ein Jahr zuvor brachten unabhängig voneinander der französische Szenograf Marcel Freydefont den Begriff »théâtre immersif« (Freydefont, 2010) in den französischsprachigen und Josephine Machon das englischsprachige Pendant »immersive theatre«7 in den Diskurs ein.

Die Theaterwissenschaftler*innen Josephine Machon, Gareth White, Marvin Carlson und Daniel Schulze sind sich einig, dass die Bezeichnung »immersive theatre« ab 2011 beginnt, die Begriffe »site-specific« und/oder »promenade theatre« abzulösen (vgl. Machon, 2013, S. 65; White, 2012, S. 223; Carlson, 2012, S. 18; Schulze, 2017, S. 129). Als ein entscheidendes Merkmal von »immersive theatre«-Aufführungen kristallisiert sich die physische und multisensorische Einbindung der Zuschauenden heraus: »Immersive theatre invites audiences directly into its scenographic, installation-like environments, to explore and participate, effectively becoming performers themselves« (Allain/Harvie, 2014, S. 192). Hervorzuheben sei ferner eine damit einhergehende, signifikante »Intensivierung der Erfahrung« (Frieze, 2016, S. 5, dt. TS), nicht zuletzt im Sinne der Provokation starker Emotionen wie Aufregung, Abenteuerlust, Intimität oder Verlangen (vgl. Allain/Harvie, 2014, S. 193). Während Josephine Machon auf eine eigene Welthaftigkeit (in-its-own-worldness) von »immersive theatre« insistiert (vgl. Machon, 2013, S. 31) und Daniel Schulze von theatralen Heterotopien spricht, die Zuschauer*innen für die Dauer der Aufführung im Modus des »Fake« durchleben könnten (vgl. Schulze, 2017, S. 140, 153), zeigt sich Gareth White skeptisch gegenüber der im Immersionsbegriff angelegten Suggestion zweier distinkter Sphären, wonach es irgendein »Inneres« geben müsse, in das Zuschauer*innen während der Aufführung eintauchen könnten (vgl. White, 2012, S. 233).

Sowohl die Monografie von Josephine Machon als auch die beiden Sammelbände Reframing Immersive Theatre. The Politics and Pragmatics of Participatory Performance (2016) von James Frieze und Immersive Theatre. Engaging the Audience (2017) von Josh Machamer kartografieren das Feld partizipativer, ortsspezifischer und experimenteller Performances im britischen und US-amerikanischen Gegenwartstheater. »Immersive theatre« wird dabei zu einem umbrella term, unter dem formal äußerst diverse Aufführungen versammelt werden, in denen es auf verschiedene Weisen zu einer Mobilisierung und Beteiligung des Publikums und damit zu einer »Rückkehr von Techniken der Publikumspartizipation« (White, 2012, S. 222, dt. TS) seit den sechziger Jahren komme.

Neben den beiden Monografien von Rose Biggin (2017) und Carina E. I. Westling (2020) zu Punchdrunks Theaterarbeiten gibt es bislang nur eine weitere Studie, die sich explizit mit »immersive theatre« im Sinne des von Machon kartografierten Korpus beschäftigt, um zuvorderst eine Kritik der Zuschauer*innen-Partizipation in Arbeiten von Punchdrunk, Ray Lee oder Lundahl & Seitl zu entfalten. In Beyond Immersive Theatre. Aesthetics, Politics and Productive Participation vertritt Adam Alston die These, dass es sich bei »immersive theatre«-Inszenierungen um neoliberale »experience machines« (Alston, 2016, S. 2) handle, bei denen Zuschauer*innen in eine künstlerisch gestaltete Umgebung eingelassen und ihren sinnlichen, imaginativen und explorativen Fähigkeiten überlassen würden, um bestimmte intensive Erfahrungen zu machen, die anschließend als »Kunst« objektifiziert (vgl. ebd., S. 7) und entsprechend valorisiert würden. Für die Produktion solcher ästhetisierten Erfahrungen bedürfe es teilnehmender Zuschauer*innen, die sich auf einem schmalen Grad von Unterwerfung und Offenheit mit sich und ihrer eigenen Geschichte in das Begegnungsgeschehen einbrächten (vgl. ebd., S. 3). Wenn die Erfahrung »[f]eeling thrilled or feeling affected« (ebd., S. 50) allein zum Zweck des Kunstereignisses werde, dann begünstige dies zwei dominante Teilnahmeweisen: eine narzisstische, auf das eigene intensive Erleben bezogene, und eine unternehmerische, die sich dadurch auszeichne, dass Risiken eingegangen, Mut aufgebracht und Verantwortung übernommen würden (vgl. ebd., S. 10). So übe »immersive theatre« sein Publikum in Risikobereitschaft, Flexibilität, Ellenbogenmentalität und Egoismus ein und partizipiere damit selbst an einer Form neoliberaler Subjektivierung (vgl. Alston, 2013). Aus dieser Warte heraus betrachtet, kritisiert Alston Formen der Partizipation im »immersive theatre« als immaterielle Arbeit, bei der Zuschauer*innen in der neoliberalen Logik von Produktion und Konsum, das Produkt, das sie konsumieren, maßgeblich selbst hervorbringen. Und dies liegt wesentlich daran, dass im »immersive theatre« insbesondere durch gezieltes Affizieren und Emotionalisieren der Körper der Zuschauenden zum Ort und Medium der Aufführungserfahrung wird.

Die vorliegende Studie ergänzt den existierenden Korpus, der als »immersive theatre« verhandelt wird, um künstlerische Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum und führt sie in der Analyse mit »immersive theatre«-Klassikern wie Sleep no more von Punchdrunk zusammen. Mit dem Einbeziehen der Produktionen von SIGNA oder Paulus Manker ist dabei nicht nur eine Ergänzung des Aufführungsspektrums, sondern zuvorderst die Anregung zu einer Eingrenzung verbunden. So werde ich vorschlagen, einen bestimmten Kreis gesichteter Arbeiten als immersives Theater im engeren Sinne zu begreifen. Für sie gelten alle bereits genannten Merkmale des von Machon und Co. kartografierten »immersive theatre«. Neben der Mobilisierung, der multisensorischen Einbeziehung und der Intensivierung der Aufführungserfahrung liegt ihre Spezifik allerdings darin, dass sie mit der theatralen Realisierung einer fiktiven oder fiktionalisierten Weltversion arbeiten, die im Rahmen der Aufführung als durchgestaltete Wirklichkeitssimulation behauptet und von allen teilnehmenden Zuschauer*innen gemeinsam mit den Performer*innen und/oder Darsteller*innen für mehrere Stunden durchlebt wird. Ich werde hier in Abgrenzung zur bestehenden Forschung das Immersive zuvorderst über die Dimension von Worldbuilding-Prozessen denken, um aufzuzeigen, wie immersives Theater bestimmte Selbst-/Weltverhältnisse nicht nur prägt, sondern auch hervorzubringt.

Während Immersionsphänomene wie die eingangs genannten stets im Verdacht stehen, ihre Rezipierenden physisch, psychisch, mental und emotional derart zu involvieren, dass eine Distanznahme und Reflexion unmöglich wird, besteht ein zentrales Anliegen dieser Studie darin, aufzuzeigen, dass eine solch binär gedachte Perspektive auf Immersion, welche auch im transdisziplinären Immersionsdiskurs verbreitet ist, der Komplexität möglicher Erfahrungsschätze der in Rede stehenden Immersionsphänomene nicht gerecht wird. Insbesondere an den Aufführungen immersiven Theaters im engeren Sinn lässt sich studieren, wie gerade Modi emotionaler Involvierung reflexive Bezugnahmen auszulösen vermögen, wie das immersive Aufführungsdispositiv Zuschauer*innen mit der gestalteten Weltversion über eine strukturelle Erzeugung bestimmter Emotionen ›koppelt‹ und auf diese Weise zu einer Auseinandersetzung mit Selbst-/Weltverhältnissen anregt. Um diese Momente analytisch zu isolieren, ist es notwendig, sich mit den vielfältigen Strategien der Publikumsinvolvierung im immersiven Theater auseinanderzusetzen. Zuschauer*innen werden mobilisiert, vereinzelt, multisensorisch affiziert, werden räumlich, narrativ, figurenperspektivisch, handlungs(anweisungs) bezogen sowie über verschiedene, sich überlagernde Ebenen möglicher Bedeutungsgenerierungen mit allen Sinnen in das komplexe Aufführungsgeschehen einbezogen. Und all das widerfährt passivisch gedachten Zuschauer*innen nicht einfach, sondern sie wirken an diesen Prozessen konstitutiv mit.

Die Kernthese meiner Studie ist, dass diese zahlreichen Modi der Publikumsinvolvierung im immersiven Theater wirkungsästhetisch auf eine Vereinnahmung der Zuschauer*innen abzielen. Um der relationalen Anlage der Theaterform und den zahlreichen Dimensionen aktiv mit-wirkender Zuschauer*innen gerecht zu werden, werde ich eine affekttheoretische Konzeption von Vereinnahmung vorschlagen. Auf diese Weise soll der Reziprozität von Affizierungs- und Wirkungsprozessen Rechnung getragen, das konstitutive Mit-Wirken der Zuschauer* innen ernst genommen und eine produktive Ambivalenz von Vereinnahmungsprozessen herausgestellt werden. Denn nicht nur, dass immersives Theater eine gewisse Bereitschaft zum Vereinnahmtwerden voraussetzt, es führt Zuschauer*innen auch am eigenen Leib vor, welche Möglichkeiten sich eröffnen, wenn man sich auf Unbekanntes, auf ungewöhnliche wie ungewohnte Perspektiven einlässt. Es sind also häufig gerade Vereinnahmungsprozesse, die komplexe Selbst-Erfahrungsprozesse in Gang setzen und als bereichernd empfunden werden können. Gleichzeitig soll mit der Wahl des Begriffs der Vereinnahmung auch das mit dem Immersionsbegriff verknüpfte, latente Wirkungsversprechen einer vermeintlich ›totalen‹ Einbindung mitgeführt, an konkreten Beispielen ausgelotet und entsprechend problematisiert werden.

Kapitel 1 führt in die dominanten Motive und Argumentationslinien des transdisziplinären Immersionsdiskurses ein. Dies erfolgt vor dem Hintergrund dessen, dass sich der mehr als eine Dekade später einsetzende Diskus um »immersive theatre« in diesen einschreibt, und ich der Auffassung bin, dass seine Kenntnis nicht nur möglich macht, die Debatten um »immersive theatre« besser verstehen und einordnen zu können, sondern dass auf diese Weise bereits deutlich gemacht werden kann, worin die methodischen und theoretischen Fallstricke im Nachdenken über Immersion liegen und wie sich diese überwinden lassen. Der Forschungsüberblick zu Immersion als Modus ästhetischer Rezeption verschiedener Kunst und Medienformate (1.1) sowie ausgewählten historischen wie zeitgenössischen Apparaturen der Immersion (1.2) legt dar, was in verschiedenen Disziplinen unter Immersion gefasst wird. Der Überblick zeigt, dass die geräumige Metapher der Eintauchung möglich macht, den Immersionsbegriff auf die Beschreibung von Rezeptionsmodi verschiedenster künstlerischer wie medialer Formate zu applizieren. Trotz materieller und medialer Differenzen der in Rede stehenden Rezeptionskonstellationen lassen sich einige dominante Motive herausarbeiten, die sich transdisziplinär mit dem Immersionsbegriff verbinden und damit eine Grundlage für meine Konzeption von immersivem Theater bilden. Das sind zum einen das Motiv einer (zumeist diffus bleibenden) Intensität der Rezeption, die mit ambivalenten Prozessen des Distanzverlusts und Erfahrungen einer Grenzverwischung einhergeht, zum anderen das Motiv einer »Reise« (travelling bzw. transportation) in eine von der Realität des Rezipierenden abweichende ›andere‹ Welt, Fiktion oder Diegese.

Kapitel 2 führt in den zentralen Gegenstand der Studie, das immersive Theater, ein. In diesem Zusammenhang wird zunächst eine Unterscheidung von immersiven Aufführungsdispositiven im partizipativen Gegenwartstheater und künstlerischen Beispielen immersiven Theaters im engeren Sinne vorgenommen (2.1). Die Ausführungen basieren auf einem umfassenden Korpus von gut 120 partizipativen und immersiven, von mir zwischen 2014 und 2020 gesichteten Performances, Performanceinstallationen und Theateraufführungen. Es kristallisierte sich dabei ein Korpus von 25 Produktionen heraus, welchen im Gegensatz zu allen anderen Arbeiten auszeichnet, dass Zuschauer*innen aufgrund der Wirkweise des immersiven Dispositivs nicht nur auf komplexe Weise in das jeweilige Aufführungsgeschehen einbezogen, sondern sie überdies vermittels unterschiedlichster Involvierungsstrategien auch als teilnehmende Gäste in einen fiktiven, aber real durchgestalteten Mikrokosmos integriert werden. Aufgrund dieser formalen Besonderheit entwickle ich für immersive Theateraufführungen mit Rückgriff auf den Immersionsdiskurs den Begriff der Wirklichkeitssimulation, an der involvierte Zuschauer*innen konstitutiv mit-wirken. Das systematische Überlappen von fiktiver Weltversion und geteilter Aufführungssituation trägt – so eine der zentralen Thesen – maßgeblich zu der für immersives Theater symptomatischen, wirkungsästhetischen Dimension der Vereinnahmung von Zuschauer* innen bei. Mit Blick auf die Analyse der Publikumsinvolvierung in meinen Aufführungsbeispielen schlage ich mit der Konzeptualisierung der wirkungsästhetischen Kategorie der Vereinnahmung eine affekttheoretische Perspektive auf immersives Theater vor (2.2.3).

Kapitel 3 widmet sich der weiteren Präzisierung dominanter Formprinzipien immersiver Theateraufführungen. Hierbei geht es vor allem darum, Dimensionen des Polyperspektivischen, wie sie sich in den Arbeiten ausmachen lassen, herauszuarbeiten und zu diskutieren, welche methodisch-theoretischen Konsequenzen sich für die Analyse der Publikumsinvolvierung im immersiven Theater daraus ergeben. Die Befunde, dass Aufführungen immersiven Theaters gleichsam aus einer Vielzahl kleinerer Aufführungssituationen bestehen, die nie synchron von allen Zuschauer*innen erlebt werden (3.1), dass ein gestalteter Mikrokosmos aus verschiedenen Betrachter*innen-Perspektiven rezipiert wird und sich dabei selbst über eine Perspektivvielfalt situativ und narrativ entfaltet (3.2) und dass es überdies zu einer symptomatischen Vervielfältigung der Wahrnehmungsmodalitäten und damit verbundenen Sinnstiftungsangeboten für teilnehmende Zuschauer*innen kommt (3.3), begründen meinen Vorschlag für eine polyperspektivische Szenen- und Situationsanalyse. Ziel des Kapitels ist es, aus der Form des Gegenstands selbst den methodischen Zugriff zu begründen.

Im Analysekapitel 4 werde ich pro Aufführungsbeispiel je einen dominanten Modus der Publikumsinvolvierung auf seine vereinnahmenden Wirkungen hin analysieren: Das sind die räumliche und figurenperspektivische Involvierung in Alma von Paulus Manker, die Involvierung über das Soundscape bei Punchdrunks Sleep no more, die olfaktorische Einbindung des Publikums in SIGNAs Das halbe Leid, die Beteiligung durch Handlungsanweisungen in Das Heuvolk von SIGNA, die Involvierung über haptisch-taktiles Berühren in SIGNAs Wir Hunde und zuletzt die Einbindung des Publikums über die affizierende Kraft von Zeichen, Diskursen und Bedeutungen bei 3/Fifths – Supremacy-Land von James Scruggs und Tamilla Woodard. Anhand der Analyse der verschiedenen Involvierungsmodi wird sich zeigen, wie Zuschauer*innen als Teil des immersiven Aufführungsdispositivs mit der gestalteten Weltversion in Beziehung gesetzt werden. Es wird deutlich werden, welche Rolle die strukturelle Erzeugung bestimmter Emotionen – wie Beklemmung, Verunsicherung, Sehnsucht nach Gemeinschaft oder Nostalgie – bei der ›Kopplung‹ von Zuschauer*innen und Weltversion spielt und wie sich ein Spektrum unterschiedlicher Vereinnahmungsprozesse auf verschiedenen, sich überlagernden Ebenen ereignet. Die wirkungsästhetische Ambivalenz besteht darin, dass Vereinnahmungsprozesse Zuschauer*innen einerseits selbst auffällig werden und auf diese Weise zum Gegenstand selbstreflexiver Aushandlung werden können – und dass sie andererseits auch wirksam werden können, ohne von Zuschauer*innen bemerkt zu werden.

Immersives Theater setzt auf Gäste, die bereit sind, sich auf Unbekanntes einzulassen, auf sich selbst zurückgeworfen und auf die eigene emotionale Belastbarkeit hin geprüft zu werden. Für sie öffnet sich ein komplexer Erfahrungsraum für das Durchleben und gegenseitige Beobachten affektiver Dynamiken in bestimmten sozialrelationalen Konstellationen. Immersives Theater kann aber auch als ein immens übergriffiges Theater beschrieben werden, das mit machtvollen Asymmetrien operiert und – gerade mit Blick auf die Weltversionen, die es gestaltet – einen Hang zum Autoritären hat. Der Diskussion dieser Ambivalenz eines Theaters der Vereinnahmung widmet sich das Schlusskapitel.

Teile des Ökosystems des Grand Barrier Reefs aus nächster Nähe zu betrachten, ohne dafür selbst an der Nordostküste Australiens in den Pazifik abzutauchen, das ermöglicht Künstler und Architekt Yadegar Asisi seit 2015 in zwei seiner inzwischen mehr als zwölf 360-Grad-»Panometern«1 in ganz Deutschland und Frankreich. Seit 2016 bietet das Unternehmen LesMills eine »Fitness-Experience« an, die movie rides, wie man sie aus IMAX-Kinos der neunziger Jahre kennt, mit Spinning-Kursen kombiniert, sodass die Illusion einer Fahrradtour nicht mehr nur über den Takt der Musik, sondern über einen Screen, der eine Berg- und Talfahrt simuliert, erzeugt wird. Einen Kinofilm wie Dirty Dancing oder The Great Gatsby im Rahmen eines thematischen Party-Events gemeinsam im Look der Zeit zum Leben zu erwecken, bieten britische Veranstalter seit 2007 unter dem Label »Secret Cinema« an. 2013 folgt Berlin anderen europäischen Metropolen und eröffnet den Berlin Dungeon, der Tourist*innen einlädt, in einer Mischung aus Laufgeschäft, Geisterbahn und interaktivem Theater in die schaurigen Abschnitte des mittelalterlichen Berlins einzutauchen. Mit der Fortsetzung Jurassic World (USA 2015) der Jurassic Park-Filme aus den neunziger Jahren und der Serie Westworld (USA 2016)2 erlebt das Phänomen des Vergnügungs- und Themenparks eine Renaissance. Beide Fiktionen thematisieren und aktualisieren futuristische Resorts als eskapistische Parallelwelten, die ihre Besucher*innen räumlich umschließen und von ihnen am eigenen Leib erfahren und erspürt werden können. Das Eintauchen in alternative, simulierte, virtuelle Welten, die nicht real sind, sich aber real anfühlen können und so für den eintauchenden Protagonisten temporär zur Wirklichkeit werden, ist seit den siebziger Jahren ein wiederkehrendes filmisches Sujet, das aktuell vor dem Hintergrund neuester VR-Technologien mit Blockbustern wie Ready Player One (USA 2018) ebenso fortgeschrieben wird wie in Mark Zuckerbergs unternehmerischer Vision der Realisierung eines »Metaverse«. Populäre Angebote spielförmigen Eintauchens in Parallelwelten erfreuten sich in den vergangenen Jahren nicht nur über das Aufkommen zahlreicher »Escape Rooms«3, sondern auch am Beispiel sogenannter »Alternate Reality Games« (ARG) steigender Beliebtheit.4 Mal werden Mitspieler*innen über E-Mails, Werbe-Trailer oder Nachrichtendienste zu einer Art virtueller Schnitzeljagd eingeladen, die sie in ein umfängliches Netz von Fake-Homepages oder -Accounts in sozialen Netzwerken mit diversen Handlungsaufträgen, Gesprächsimpulsen oder Plot-Indizien führt. Mal greift das ARG in den Alltag der Teilnehmenden ein, ohne dass diese um Zeitpunkt, Ort, Umfang oder Gegenstand der spielerischen Intervention wissen. Auf diese Weise wird Wirklichkeit und Spielrealität systematisch miteinander verflochten, ohne dass die Verflechtung selbst erkennbar wäre. Eine dritte ARG-Variante, die sogenannten »extreme hunts«, bietet u. a. Russ McKamey seit mehr als einer Dekade auf seinem Anwesen in Südkalifornien an. Die McKamey Manor-Tour lädt ihre Teilnehmer*innen zu einem realen Horrortrip ein, bei dem diese gekidnappt, eingesperrt und gefoltert werden.5 Vergleichbar zu bestimmten Spielarten des NordicLARP6 gibt es lediglich ein Codewort, das die real durchlebte Simulation stoppen kann.

All diese sehr unterschiedlichen Beispiele der zeitgenössischen, populären, kommerziellen »experience industry« (Pine/Gilmore, 1999) zielen darauf ab, ihre Rezipient*innen, Nutzer*innen oder Mitspieler* innen multisensorisch zu umgeben, räumlich oder narrativ einzuschließen sowie körperlich und/oder mental in Beschlag zu nehmen. Sie alle firmieren als Gegenwartsphänomene unter dem, was man als Immersion bezeichnen kann. Gemeinsam ist ihnen die Privilegierung eines möglichst unmittelbaren, intensiven Erlebens, das auf Distanzminimierung und eine temporäre Verschmelzung von Fiktion und Realität setzt. Gegenstand des Erlebens ist dabei ein bestimmtes Selbst-/Weltverhältnis. Schließlich dominiert in allen Beispielen die Existenz einer gestalteten und/oder simulierten Umgebung, Fiktion oder Parallelwelt, zu der Zuschauende, Teilnehmende oder Spielende in ein Verhältnis gesetzt werden. Und dieses scheint auf einen ersten Blick einem körperlichen Spüren und intensiven emotionalen Fühlen einer distanziert-reflexiven Teilhabe den Vorzug zu geben.

»Immersion [ist] ein ubiquitäres Phänomen geworden […], insofern als damit sowohl Erfahrungen mit Texten, mit Virtual Reality, mit Kunst und Kino gleichermaßen charakterisiert werden können« (Curtis, 2008a, S. 78). Es ist gegenwärtig auch die Rede von einem »Schlüsselphänomen unserer Zeit« (Oberender, 2016) oder einer »kulturellen Dominante« (Werry/Schmidt, 2014, S. 478, dt. TS). Spätestens mit Beginn der zehner Jahre setzt sich Immersion als Begriff und Phänomenkomplex auch im Feld des Theaters durch. 2011 feiert die Produktion Sleep no more der britischen Company Punchdrunk in New York ihre US-amerikanische Erstaufführung, im Londoner Battersea Arts Center findet erstmals ein One-on-One-Festival und im französischen Lyon die Auftaktausgabe des Festivals Micromondes. Festival des Arts Immersifs statt. Bereits ein Jahr zuvor brachten unabhängig voneinander der französische Szenograf Marcel Freydefont den Begriff »théâtre immersif« (Freydefont, 2010) in den französischsprachigen und Josephine Machon das englischsprachige Pendant »immersive theatre«7 in den Diskurs ein.

Die Theaterwissenschaftler*innen Josephine Machon, Gareth White, Marvin Carlson und Daniel Schulze sind sich einig, dass die Bezeichnung »immersive theatre« ab 2011 beginnt, die Begriffe »site-specific« und/oder »promenade theatre« abzulösen (vgl. Machon, 2013, S. 65; White, 2012, S. 223; Carlson, 2012, S. 18; Schulze, 2017, S. 129). Als ein entscheidendes Merkmal von »immersive theatre«-Aufführungen kristallisiert sich die physische und multisensorische Einbindung der Zuschauenden heraus: »Immersive theatre invites audiences directly into its scenographic, installation-like environments, to explore and participate, effectively becoming performers themselves« (Allain/Harvie, 2014, S. 192). Hervorzuheben sei ferner eine damit einhergehende, signifikante »Intensivierung der Erfahrung« (Frieze, 2016, S. 5, dt. TS), nicht zuletzt im Sinne der Provokation starker Emotionen wie Aufregung, Abenteuerlust, Intimität oder Verlangen (vgl. Allain/Harvie, 2014, S. 193). Während Josephine Machon auf eine eigene Welthaftigkeit (in-its-own-worldness) von »immersive theatre« insistiert (vgl. Machon, 2013, S. 31) und Daniel Schulze von theatralen Heterotopien spricht, die Zuschauer*innen für die Dauer der Aufführung im Modus des »Fake« durchleben könnten (vgl. Schulze, 2017, S. 140, 153), zeigt sich Gareth White skeptisch gegenüber der im Immersionsbegriff angelegten Suggestion zweier distinkter Sphären, wonach es irgendein »Inneres« geben müsse, in das Zuschauer*innen während der Aufführung eintauchen könnten (vgl. White, 2012, S. 233).

Sowohl die Monografie von Josephine Machon als auch die beiden Sammelbände Reframing Immersive Theatre. The Politics and Pragmatics of Participatory Performance (2016) von James Frieze und Immersive Theatre. Engaging the Audience (2017) von Josh Machamer kartografieren das Feld partizipativer, ortsspezifischer und experimenteller Performances im britischen und US-amerikanischen Gegenwartstheater. »Immersive theatre« wird dabei zu einem umbrella term, unter dem formal äußerst diverse Aufführungen versammelt werden, in denen es auf verschiedene Weisen zu einer Mobilisierung und Beteiligung des Publikums und damit zu einer »Rückkehr von Techniken der Publikumspartizipation« (White, 2012, S. 222, dt. TS) seit den sechziger Jahren komme.

Neben den beiden Monografien von Rose Biggin (2017) und Carina E. I. Westling (2020) zu Punchdrunks Theaterarbeiten gibt es bislang nur eine weitere Studie, die sich explizit mit »immersive theatre« im Sinne des von Machon kartografierten Korpus beschäftigt, um zuvorderst eine Kritik der Zuschauer*innen-Partizipation in Arbeiten von Punchdrunk, Ray Lee oder Lundahl & Seitl zu entfalten. In Beyond Immersive Theatre. Aesthetics, Politics and Productive Participation vertritt Adam Alston die These, dass es sich bei »immersive theatre«-Inszenierungen um neoliberale »experience machines« (Alston, 2016, S. 2) handle, bei denen Zuschauer*innen in eine künstlerisch gestaltete Umgebung eingelassen und ihren sinnlichen, imaginativen und explorativen Fähigkeiten überlassen würden, um bestimmte intensive Erfahrungen zu machen, die anschließend als »Kunst« objektifiziert (vgl. ebd., S. 7) und entsprechend valorisiert würden. Für die Produktion solcher ästhetisierten Erfahrungen bedürfe es teilnehmender Zuschauer*innen, die sich auf einem schmalen Grad von Unterwerfung und Offenheit mit sich und ihrer eigenen Geschichte in das Begegnungsgeschehen einbrächten (vgl. ebd., S. 3). Wenn die Erfahrung »[f]eeling thrilled or feeling affected« (ebd., S. 50) allein zum Zweck des Kunstereignisses werde, dann begünstige dies zwei dominante Teilnahmeweisen: eine narzisstische, auf das eigene intensive Erleben bezogene, und eine unternehmerische, die sich dadurch auszeichne, dass Risiken eingegangen, Mut aufgebracht und Verantwortung übernommen würden (vgl. ebd., S. 10). So übe »immersive theatre« sein Publikum in Risikobereitschaft, Flexibilität, Ellenbogenmentalität und Egoismus ein und partizipiere damit selbst an einer Form neoliberaler Subjektivierung (vgl. Alston, 2013). Aus dieser Warte heraus betrachtet, kritisiert Alston Formen der Partizipation im »immersive theatre« als immaterielle Arbeit, bei der Zuschauer*innen in der neoliberalen Logik von Produktion und Konsum, das Produkt, das sie konsumieren, maßgeblich selbst hervorbringen. Und dies liegt wesentlich daran, dass im »immersive theatre« insbesondere durch gezieltes Affizieren und Emotionalisieren der Körper der Zuschauenden zum Ort und Medium der Aufführungserfahrung wird.

Die vorliegende Studie ergänzt den existierenden Korpus, der als »immersive theatre« verhandelt wird, um künstlerische Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum und führt sie in der Analyse mit »immersive theatre«-Klassikern wie Sleep no more von Punchdrunk zusammen. Mit dem Einbeziehen der Produktionen von SIGNA oder Paulus Manker ist dabei nicht nur eine Ergänzung des Aufführungsspektrums, sondern zuvorderst die Anregung zu einer Eingrenzung verbunden. So werde ich vorschlagen, einen bestimmten Kreis gesichteter Arbeiten als immersives Theater im engeren Sinne zu begreifen. Für sie gelten alle bereits genannten Merkmale des von Machon und Co. kartografierten »immersive theatre«. Neben der Mobilisierung, der multisensorischen Einbeziehung und der Intensivierung der Aufführungserfahrung liegt ihre Spezifik allerdings darin, dass sie mit der theatralen Realisierung einer fiktiven oder fiktionalisierten Weltversion arbeiten, die im Rahmen der Aufführung als durchgestaltete Wirklichkeitssimulation behauptet und von allen teilnehmenden Zuschauer*innen gemeinsam mit den Performer*innen und/oder Darsteller*innen für mehrere Stunden durchlebt wird. Ich werde hier in Abgrenzung zur bestehenden Forschung das Immersive zuvorderst über die Dimension von Worldbuilding-Prozessen denken, um aufzuzeigen, wie immersives Theater bestimmte Selbst-/Weltverhältnisse nicht nur prägt, sondern auch hervorzubringt.

Während Immersionsphänomene wie die eingangs genannten stets im Verdacht stehen, ihre Rezipierenden physisch, psychisch, mental und emotional derart zu involvieren, dass eine Distanznahme und Reflexion unmöglich wird, besteht ein zentrales Anliegen dieser Studie darin, aufzuzeigen, dass eine solch binär gedachte Perspektive auf Immersion, welche auch im transdisziplinären Immersionsdiskurs verbreitet ist, der Komplexität möglicher Erfahrungsschätze der in Rede stehenden Immersionsphänomene nicht gerecht wird. Insbesondere an den Aufführungen immersiven Theaters im engeren Sinn lässt sich studieren, wie gerade Modi emotionaler Involvierung reflexive Bezugnahmen auszulösen vermögen, wie das immersive Aufführungsdispositiv Zuschauer*innen mit der gestalteten Weltversion über eine strukturelle Erzeugung bestimmter Emotionen ›koppelt‹ und auf diese Weise zu einer Auseinandersetzung mit Selbst-/Weltverhältnissen anregt. Um diese Momente analytisch zu isolieren, ist es notwendig, sich mit den vielfältigen Strategien der Publikumsinvolvierung im immersiven Theater auseinanderzusetzen. Zuschauer*innen werden mobilisiert, vereinzelt, multisensorisch affiziert, werden räumlich, narrativ, figurenperspektivisch, handlungs(anweisungs) bezogen sowie über verschiedene, sich überlagernde Ebenen möglicher Bedeutungsgenerierungen mit allen Sinnen in das komplexe Aufführungsgeschehen einbezogen. Und all das widerfährt passivisch gedachten Zuschauer*innen nicht einfach, sondern sie wirken an diesen Prozessen konstitutiv mit.

Die Kernthese meiner Studie ist, dass diese zahlreichen Modi der Publikumsinvolvierung im immersiven Theater wirkungsästhetisch auf eine Vereinnahmung der Zuschauer*innen abzielen. Um der relationalen Anlage der Theaterform und den zahlreichen Dimensionen aktiv mit-wirkender Zuschauer*innen gerecht zu werden, werde ich eine affekttheoretische Konzeption von Vereinnahmung vorschlagen. Auf diese Weise soll der Reziprozität von Affizierungs- und Wirkungsprozessen Rechnung getragen, das konstitutive Mit-Wirken der Zuschauer* innen ernst genommen und eine produktive Ambivalenz von Vereinnahmungsprozessen herausgestellt werden. Denn nicht nur, dass immersives Theater eine gewisse Bereitschaft zum Vereinnahmtwerden voraussetzt, es führt Zuschauer*innen auch am eigenen Leib vor, welche Möglichkeiten sich eröffnen, wenn man sich auf Unbekanntes, auf ungewöhnliche wie ungewohnte Perspektiven einlässt. Es sind also häufig gerade Vereinnahmungsprozesse, die komplexe Selbst-Erfahrungsprozesse in Gang setzen und als bereichernd empfunden werden können. Gleichzeitig soll mit der Wahl des Begriffs der Vereinnahmung auch das mit dem Immersionsbegriff verknüpfte, latente Wirkungsversprechen einer vermeintlich ›totalen‹ Einbindung mitgeführt, an konkreten Beispielen ausgelotet und entsprechend problematisiert werden.

Kapitel 1 führt in die dominanten Motive und Argumentationslinien des transdisziplinären Immersionsdiskurses ein. Dies erfolgt vor dem Hintergrund dessen, dass sich der mehr als eine Dekade später einsetzende Diskus um »immersive theatre« in diesen einschreibt, und ich der Auffassung bin, dass seine Kenntnis nicht nur möglich macht, die Debatten um »immersive theatre« besser verstehen und einordnen zu können, sondern dass auf diese Weise bereits deutlich gemacht werden kann, worin die methodischen und theoretischen Fallstricke im Nachdenken über Immersion liegen und wie sich diese überwinden lassen. Der Forschungsüberblick zu Immersion als Modus ästhetischer Rezeption verschiedener Kunst und Medienformate (1.1) sowie ausgewählten historischen wie zeitgenössischen Apparaturen der Immersion (1.2) legt dar, was in verschiedenen Disziplinen unter Immersion gefasst wird. Der Überblick zeigt, dass die geräumige Metapher der Eintauchung möglich macht, den Immersionsbegriff auf die Beschreibung von Rezeptionsmodi verschiedenster künstlerischer wie medialer Formate zu applizieren. Trotz materieller und medialer Differenzen der in Rede stehenden Rezeptionskonstellationen lassen sich einige dominante Motive herausarbeiten, die sich transdisziplinär mit dem Immersionsbegriff verbinden und damit eine Grundlage für meine Konzeption von immersivem Theater bilden. Das sind zum einen das Motiv einer (zumeist diffus bleibenden) Intensität der Rezeption, die mit ambivalenten Prozessen des Distanzverlusts und Erfahrungen einer Grenzverwischung einhergeht, zum anderen das Motiv einer »Reise« (travelling bzw. transportation) in eine von der Realität des Rezipierenden abweichende ›andere‹ Welt, Fiktion oder Diegese.

Kapitel 2 führt in den zentralen Gegenstand der Studie, das immersive Theater, ein. In diesem Zusammenhang wird zunächst eine Unterscheidung von immersiven Aufführungsdispositiven im partizipativen Gegenwartstheater und künstlerischen Beispielen immersiven Theaters im engeren Sinne vorgenommen (2.1). Die Ausführungen basieren auf einem umfassenden Korpus von gut 120 partizipativen und immersiven, von mir zwischen 2014 und 2020 gesichteten Performances, Performanceinstallationen und Theateraufführungen. Es kristallisierte sich dabei ein Korpus von 25 Produktionen heraus, welchen im Gegensatz zu allen anderen Arbeiten auszeichnet, dass Zuschauer*innen aufgrund der Wirkweise des immersiven Dispositivs nicht nur auf komplexe Weise in das jeweilige Aufführungsgeschehen einbezogen, sondern sie überdies vermittels unterschiedlichster Involvierungsstrategien auch als teilnehmende Gäste in einen fiktiven, aber real durchgestalteten Mikrokosmos integriert werden. Aufgrund dieser formalen Besonderheit entwickle ich für immersive Theateraufführungen mit Rückgriff auf den Immersionsdiskurs den Begriff der Wirklichkeitssimulation, an der involvierte Zuschauer*innen konstitutiv mit-wirken. Das systematische Überlappen von fiktiver Weltversion und geteilter Aufführungssituation trägt – so eine der zentralen Thesen – maßgeblich zu der für immersives Theater symptomatischen, wirkungsästhetischen Dimension der Vereinnahmung von Zuschauer* innen bei. Mit Blick auf die Analyse der Publikumsinvolvierung in meinen Aufführungsbeispielen schlage ich mit der Konzeptualisierung der wirkungsästhetischen Kategorie der Vereinnahmung eine affekttheoretische Perspektive auf immersives Theater vor (2.2.3).

Kapitel 3 widmet sich der weiteren Präzisierung dominanter Formprinzipien immersiver Theateraufführungen. Hierbei geht es vor allem darum, Dimensionen des Polyperspektivischen, wie sie sich in den Arbeiten ausmachen lassen, herauszuarbeiten und zu diskutieren, welche methodisch-theoretischen Konsequenzen sich für die Analyse der Publikumsinvolvierung im immersiven Theater daraus ergeben. Die Befunde, dass Aufführungen immersiven Theaters gleichsam aus einer Vielzahl kleinerer Aufführungssituationen bestehen, die nie synchron von allen Zuschauer*innen erlebt werden (3.1), dass ein gestalteter Mikrokosmos aus verschiedenen Betrachter*innen-Perspektiven rezipiert wird und sich dabei selbst über eine Perspektivvielfalt situativ und narrativ entfaltet (3.2) und dass es überdies zu einer symptomatischen Vervielfältigung der Wahrnehmungsmodalitäten und damit verbundenen Sinnstiftungsangeboten für teilnehmende Zuschauer*innen kommt (3.3), begründen meinen Vorschlag für eine polyperspektivische Szenen- und Situationsanalyse. Ziel des Kapitels ist es, aus der Form des Gegenstands selbst den methodischen Zugriff zu begründen.

Im Analysekapitel 4 werde ich pro Aufführungsbeispiel je einen dominanten Modus der Publikumsinvolvierung auf seine vereinnahmenden Wirkungen hin analysieren: Das sind die räumliche und figurenperspektivische Involvierung in Alma von Paulus Manker, die Involvierung über das Soundscape bei Punchdrunks Sleep no more, die olfaktorische Einbindung des Publikums in SIGNAs Das halbe Leid, die Beteiligung durch Handlungsanweisungen in Das Heuvolk von SIGNA, die Involvierung über haptisch-taktiles Berühren in SIGNAs Wir Hunde und zuletzt die Einbindung des Publikums über die affizierende Kraft von Zeichen, Diskursen und Bedeutungen bei 3/Fifths – Supremacy-Land von James Scruggs und Tamilla Woodard. Anhand der Analyse der verschiedenen Involvierungsmodi wird sich zeigen, wie Zuschauer*innen als Teil des immersiven Aufführungsdispositivs mit der gestalteten Weltversion in Beziehung gesetzt werden. Es wird deutlich werden, welche Rolle die strukturelle Erzeugung bestimmter Emotionen – wie Beklemmung, Verunsicherung, Sehnsucht nach Gemeinschaft oder Nostalgie – bei der ›Kopplung‹ von Zuschauer*innen und Weltversion spielt und wie sich ein Spektrum unterschiedlicher Vereinnahmungsprozesse auf verschiedenen, sich überlagernden Ebenen ereignet. Die wirkungsästhetische Ambivalenz besteht darin, dass Vereinnahmungsprozesse Zuschauer*innen einerseits selbst auffällig werden und auf diese Weise zum Gegenstand selbstreflexiver Aushandlung werden können – und dass sie andererseits auch wirksam werden können, ohne von Zuschauer*innen bemerkt zu werden.

Immersives Theater setzt auf Gäste, die bereit sind, sich auf Unbekanntes einzulassen, auf sich selbst zurückgeworfen und auf die eigene emotionale Belastbarkeit hin geprüft zu werden. Für sie öffnet sich ein komplexer Erfahrungsraum für das Durchleben und gegenseitige Beobachten affektiver Dynamiken in bestimmten sozialrelationalen Konstellationen. Immersives Theater kann aber auch als ein immens übergriffiges Theater beschrieben werden, das mit machtvollen Asymmetrien operiert und – gerade mit Blick auf die Weltversionen, die es gestaltet – einen Hang zum Autoritären hat. Der Diskussion dieser Ambivalenz eines Theaters der Vereinnahmung widmet sich das Schlusskapitel.

1 Asisis Wortschöpfung »Panometer« kombiniert die Kunst des Panoramas, welcher er zu einer veritablen Renaissance verhilft, mit denjenigen Gebäuden, in denen er sie seit 2003 installiert: leerstehende Gasometer. Sein Grand Barrier Reef ist derzeit im Gasometer Pforzheim zu besuchen, siehe: https://www.asisi. de/panorama/great-barrier-reef, letzter Zugriff 20.3.2021.

2 Die Serie Westworld von Jonathan Nolan und Lisa Joy basiert auf dem gleichnamigen Film von Michael Crichton (USA 1973).

3 Bei »Escape-The-Room«-Spielen handelt es sich zumeist um realistisch eingerichtete Räume, in denen zahlende Teilnehmer*innen in einer Team-Konstellation in einer festgelegten Zeit bestimmte Rätsel oder Aufgaben gemeinsam lösen müssen, um sich aus dem jeweiligen Raum zu befreien.

4 Bei Alternate Reality Games handelt es sich um ein Format, das 2001 im Zusammenhang mit transmedialen Marketingstrategien von Hollywood- Blockbustern in den USA aufkam und sich inzwischen davon emanzipiert und als eigenständige Eventform etabliert hat, vgl. Rose 2011, S. 9 – 15. Thematisch wurde das, was man heute unter ARG fasst, bereits 1997 in dem USamerikanischen Thriller The Game. Siehe auch Gosney, 2005.

5 Ein Einblick in diese sehr unorthodoxe Form der Freizeitgestaltung findet sich u. a. hier: https://www.travelbook.de/orte/scary-places/horrortour-mckameymanor, letzter Zugriff 20.3.2021.

6 Beim Nordic-»Life-Action-Role-Playing« (LARP), das wie die McKamey Manor-Tour eher an soziale, denn an künstlerische Experimente denken lässt, wird im Gegensatz zu klassischen LARPs keine phantastische Welt, sondern ein Auszug einer ins Dystopische weisenden Wirklichkeit im Modus eines theatralen Als-ob real durchgespielt, z. B. ein futuristisches Gefangenenlager im Fall von Kapo (DK 2011), Trailer einzusehen unter https://www.youtube.com/ watch?v=4Ddq8HjVaQY, letzter Zugriff 20.3.2021.

7 Ich rekurriere hier auf ihre Studie Immersive Theatre(s). Intimacy and Immediacy in Contemporary Performance, in der sie Auskunft darüber gibt, dass die Bezeichnung bereits in den neunziger Jahren mit Produktionen von Artangel aufkam, sich aber erst später, insbesondere mit den Produktionen von Punchdrunk, im anglophonen Raum durchzusetzen begann, vgl. Machon, 2013, S. 63f.

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