Theater der Zeit

Essay

Das Gegenteil von Selbstherrlichkeit und Schwarzmalerei

Die Darstellenden Künste in Spanien

Hintergrundartikel zum besseren Verständnis des spanischen Theatersystems, ausgehend von den kulturpolitischen und territorialen Strukturen des Landes. Mit einer Einordnung der Besucherstatistik und offiziellen Zahlen des Kultusministeriums und einer persönlichen Einschätzung zu den chronischen Problemen der Gegenwart und den begründeten Hoffnungen für die Zukunft.

von Alvaro Vicente

Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Spanien (10/2022)

Assoziationen: Europa Dossier: Spanien

„Demasiado diva para un movimiento asambleario“, Text und Regie von Juana Dolores Romeo, Antic Teatre de Barcelona 2020. Foto Alessia Bombaci
„Demasiado diva para un movimiento asambleario“, Text und Regie von Juana Dolores Romeo, Antic Teatre de Barcelona 2020Foto: Alessia Bombaci

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Folgendes twitterte die junge Poetin und Theatermacherin Juana Dolores Romero (geboren 1992 in El Prat del Llobregat, Barcelona) am vergangenen 26. Juli: „Viele Interviews, viel Aufmerksamkeit, große mediale Reichweite, viel Lärm und wenig Geld; seit Monaten komme ich kaum noch über die Runden. Die prekären Verhältnisse und das Elend der Theaterschaffenden in Katalonien sind erschreckend. Wie soll man an einer Szene arbeiten, wenn man nicht weiß, ob man seine Miete zahlen kann; erst wenn das sicher ist, können wir denken und proben“. Wenige Tage zuvor, am 20. Juli, hatte sich – ebenfalls via Twitter (wir teilen gerne alles auf Twitter) – bereits der Dramatiker Antonio Rojano (geboren 1982 in Córdoba) zu Wort gemeldet (eine der bedeutendsten Stimmen des spanischen Gegenwartstheaters), anlässlich des alarmierenden Falls der Aufkündigung einer geplanten Inszenierung eines Werks von Paco Bezerra (geboren 1979 in Almería, ein weiterer herausragender Gegenwartsdramatiker) an den Teatros del Canal in Madrid. Rojano beklagte, dass die künstlerische Leitung bestimmter öffentlicher Theater offenbar keinerlei Konsequenzen für ihr Vorgehen befürchten müsse. Die Verwaltung der autonomen Region Madrid hatte sich dazu verpflichtet, die Inszenierung von Paco Bezerras „Muero porque no muero / La vida doble de Teresa“ (dt. „Ich sterbe, weil ich nicht sterbe / Das Doppelleben der Teresa“) finanziell zu unterstützen (gemeinsam mit dem europäischen Programm „Próspero“ sowie einer privaten katalanischen Produzentin). In Bezerras Text wird die bekannteste Mystikerin der spanischen Literatur, Teresa de Ávila, ins Gefängnis gesperrt (nur eine von vielen dramatischen Wendungen), weil sie etwas an eine Mauer des Congreso de los Diputados, dem spanischen Regierungssitz, geschmiert hat: „Schreiben in Spanien heißt nicht weinen, schreiben in Spanien heißt sterben“. Das Stück wurde aus der geplanten Spielzeit 2022/2023 gestrichen, da liegt der Verdacht der Zensur nah, zumal die zum Vorfall abgegebenen Erklärungen dürftig und widersprüchlich sind. Möglicherweise braucht man heute, anders als zu Zeiten der Franco-Diktatur, keine gestrengen Herren mehr, die, noch mit Speichelresten im Schnauzer, vor der Premiere zum Rotstift greifen und den Text kürzen, heute genügt es, die für die Inszenierung notwendigen Gelder zu kürzen.

Letztlich geht es immer ums Geld. Ich habe diese beiden Beispiele (eins aus Katalonien, eins aus Madrid) für die Einleitung meines Artikels ausgesucht, doch so bezeichnend sie auch sein mögen, sie geben natürlich nur einen kleinen Ausschnitt wieder und sind nicht repräsentativ für die gesamte Theaterszene. Doch die Theaterschaffenden werden mir zustimmen, dass ­diese prekären Bedingungen und die Kulturpolitik unsere Damoklesschwerter sind. Ich hätte genauso gut mit einer optimistischen Bemerkung über die steigende Zahl von Premieren auf den Bühnen Spaniens beginnen können, oder damit, dass unsere großen Festivals nach pandemiebedingter Pause nun endlich wieder stattfinden, oder mit dem außergewöhnlichen Dramatiker Juan Mayorga, Mitglied der Akademie der Sprache und frischgebackener Preisträger des Prinzessin-von-Asturien-Preises (der prestigeträchtigsten literarischen Auszeichnung, die in diesem Land vergeben wird, abgesehen vom Cervantes-Preis). Doch in Spanien ist Selbstherrlichkeit eben immer verdächtig, „alles gut“ ist nichts als Propaganda, so wie Schwarzmalerei und „alles schlecht“ zu kurz greifen, weil sie mit der Realität wenig zu tun haben. Mayorga ist ein Genie, auf das wir alle stolz sind, ein nahbarer und bescheidener Mensch, der sich wie kaum ein anderer für das Theater einsetzt und dessen Werke in zahlreichen Ländern gespielt und in mehrere Sprachen übersetzt wurden (und immer noch werden). Nicht wenige halten ihn gar für einen künftigen Nobelpreisträger. Mayorga ist die Speerspitze eines goldenen Zeitalters der spanischen Dramatik, die sich in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts in vielen Teilen der Welt Gehör verschafft hat. Mayorga ist das ideale Aushängeschild, eine Standarte, die man an der Spitze der panegyrischen Parade hochhält, doch dahinter gibt es keinen festlichen Umzug, kein fröhliches Treiben, sondern nur Leidensprozession und Opferbereitschaft. Talent und Fleiß ist mehr als genug vorhanden, doch das reicht offenbar nicht aus; der spanische Theaterbetrieb behebt die strukturellen Schwachstellen nicht, die in den letzten 40 Jahren (oder mehr) entstanden sind. Betrachten wir die Zusammenhänge von Staat und Kulturfinanzierung etwas genauer:

Spanien ist ein Land, das auf politischer, sozialer und ökonomischer Ebene das Prinzip der Einheit der Nation mit der Autonomie der Regionen verbindet. Das Land ist weitaus weniger zentralisiert als Frankreich, sodass man annehmen könnte, es gäbe in Spanien eine lebendigere und vielfältigere Theaterszene als in Frankreich, aber das Gegenteil ist der Fall.

Doch Spanien ist auch kein rein föderalistischer Staat wie die USA – und trotzdem träumen wir von einem spanischen Broadway auf der Gran Vía von Madrid. Alles geht hier sternförmig von Madrid aus, so wie das Eisenbahnnetz, das die Stadt mit anderen Zentren verbindet, insbesondere mit Barcelona, und, etwas weniger ausgeprägt, Sevilla, Valencia oder Bilbao, die ihrerseits Mittelpunkt ihrer jeweiligen Einzugsgebiete sind. Dort wiederholt sich das Modell im Kleinen. Bei einigen Regio­nen kommen zudem kulturelle Besonderheiten mit ins Spiel, die mit anderen Nationalgefühlen und eigenen Sprachen zusammenhängen, wie in Katalonien (gemeinsam mit der Autonomen Gemeinschaft Valencia und den Balearen), Galicien, Asturien, dem Baskenland und Navarra. Spanien, der „Staat der Autonomien“, ist territorial vierstufig gegliedert: Der Zentralstaat ist in 17 Autonome Gemeinschaften (und 2 Autonome Städte auf afrikanischem Gebiet, Ceuta und Melilla) unterteilt, diese wiederum setzen sich aus 50 Provinzen zusammen, die ihrerseits aus Kommunen bestehen. Dazu kommen noch einige Gebietskörperschaften wie die ­cabildos insulares (Inselverwaltungen) oder die concellos Galiciens, und die diputaciones, territoriale Überbleibsel, die auf die erste spanische Verfassung von 1812 zurückgehen und heute den Provinzen zugeordnet sind; sie spielen jedoch nach wie vor eine bedeutende Rolle im kulturellen Bereich, etwa wenn es um finanzielle Unterstützung von Initiativen geht, um Subventionen und­ ­andere Anreize. Dieses ganze verschachtelte System (das nicht selten zu einer teuflischen Bürokratisierung des Lebens führt) spielt eine entscheidende Rolle bei der ­Finanzierung der Darstellenden Künste Spaniens, denn – gleich vorweg – ohne öffentliche Gelder könnte das ­spanische Theater nicht existieren, bei aller Kooperation mit dem privaten Sektor, derer man sich gerne rühmt – eine weitere alte, verdächtige Leier in einem Land, das derart zu Korruption neigt.

Während der härtesten Monate der Covid-19-Pandemie 2020 forderten viele, man müsse die Gelegenheit ergreifen, um das marode Theater-Ökosystem wieder aufzubauen, das sich längst als ineffizient und veraltet erwiesen hat, und so die tiefverwurzelten, allseits bekannten Probleme endlich hinter sich zu lassen. Trotz der ungewöhnlichen und bisher beispiellosen Einigkeit, die der Sektor in diesen höchst schwierigen Momenten an den Tag gelegt hat (und die erst das Wunder möglich gemacht hat, dass der Theaterbetrieb dank umsichtigem Krisenmanagement unmittelbar nach dem ersten Lockdown wieder aufgenommen und weitergeführt werden konnte), hat sich zwei Jahre danach nichts Wesentliches geändert. Deswegen nehme ich die offiziellen Daten von 2019 (aus dem Statistischen Jahrbuch des Ministeriums für Kultur und Sport) als Grundlage. Sie belegen einen Aufwärtstrend bei den Gesamtzahlen seit 2013 (einem wahren „annus horribilis“ für das spanische Theater) als die Folgen der Krise von 2008 sichtbar wurden.

In einem Land, in dem nur ein Drittel der Bevölkerung angibt, jährlich mindestens ein Mal ins Theater zu gehen, und ein weiteres Drittel gesteht, nie hinzugehen, gibt es rund 1700 feste Spielstätten (3,6 pro 100 000 Einwohner), mehr als die Hälfte (60 Prozent) mit einer Größe zwischen 100 und 500 Sitzplätzen (18 Prozent zwischen 500 und 1000 Sitzplätzen). 70,8 Prozent dieser Spielorte sind in öffentlicher Hand (1210) und 27,8 Prozent in privater (davon befinden sich 278, also mehr als die Hälfte, in Madrid und Katalonien). Katalonien ist die Region mit den meisten Spielorten, 392, das entspricht 5 Theatern pro 100.000 Einwohner, gefolgt von Madrid (288), Andalusien (217), Valencia (145), Galicien (94), Kastilien und Leon (83) und dem Baskenland (76). Es gibt im Bereich der Darstellenden Künste (hauptsächlich Theater und Tanz) etwa 5000 registrierte Kompagnien, die meisten davon in Madrid (24,6 Prozent) und in Katalonien (19,9 Prozent). Die Zahl der Theater- und Tanzfestivals beläuft sich auf insgesamt 1166, in diesem Fall mit einem etwas höheren Anteil in Andalusien (200). Auf der anderen Seite schreiben sich von den fast 400.000 Studierenden, die einen künstlerischen Stu­diengang belegen (oder eine Ausbildung in dem Bereich absolvieren) 9 Prozent für Tanz, aber nur 0,7 Prozent für Theater ein. Insgesamt besuchten 2019 in Spanien rund 14 Millionen Zuschauende gut 51.000 Vorstellungen, die Einnahmen belaufen sich auf 239 Millionen Euro. Zu 61 Prozent fanden diese Vorstellungen in städtischen Ballungsgebieten (mit mehr als 200.000 Einwohnern) statt, an der Spitze dabei stets Madrid und Katalonien, sie verzeichnen sowohl den größten Anteil an den Vorstellungen (54 Prozent) als auch an den Einnahmen (71 Prozent).

Die zentrale staatliche Verwaltungseinrichtung für die Darstellenden Künste in Spanien (die dem Ministerium für Kultur und Sport untersteht) ist das Nationale Institut der Darstellenden Künste und der Musik ­(INAEM). Diese Institution wurde zuletzt durch die Branche selbst stark infrage gestellt, eine umfassende Reform ist längst überfällig (so wie auch eine zwischen den Ministerien abgestimmte Entwicklung des „Künstlerstatuts“ seit Jahren auf sich warten lässt). Dabei gibt es genügend Probleme in diesem Bereich, sei es im technischen Bereich oder auch bei den Schauspielern. Die müssen z. B. die Folgen einer völlig absurden Situation ausbaden: Seit 2014 mischt sich das Finanzministerium immer wieder in die Angelegenheiten des INAEM ein, was Monat für Monat zu verspäteten Gagenaus­zahlungen führt. Das INAEM ist für 13 Bühnenorganisationen unmittelbar zuständig, darunter das Centro Dramático Nacional, die Compañía Nacional de Danza, die Compañía Nacional de Teatro Clásico und das Museo Nacional del Teatro. Elf von ihnen haben ihren Sitz in Madrid, wo diese Einrichtungen neben anderen zu finden sind, wie den Teatros del Canal, die der Regional­regierung unterstehen, dem Teatro de La Abadía, für das mehrere Träger zuständig sind, und den Theatern und Kunstzentren Español, Fernán Gómez, Circo Price, ­Conde Duque und Matadero, die der Hauptstadtverwaltung zugordnet sind. Weitere sehr aktive, öffentlich geförderte Theater sind das Teatre Lliure und das Teatre Nacional de Catalunya in Barcelona, das Teatro Arriaga in Bilbao, das Teatro Central in Sevilla und La Mutant in Valencia. Die Liste der öffentlichen Theater ist lang, in beinahe jeder Stadt und jedem Dorf Spaniens gibt es ­wenigstens einen öffentlich geförderten Spielort, meist unter kommunaler Verwaltung.

Die meisten dieser über ganz Spanien verteilten Veranstaltungsorte gehören regionalen Netzwerken mit unterschiedlichen Organisations- und Verwaltungsstruk­turen an, manche sind etablierter und effizienter als ­andere. Gleichzeitig existiert ein nationales Netzwerk aus Theatern, Veranstaltungsorten, Gastspielorganisa­tionen und öffentlich geförderten Festivals (www.redescena.net). Dazu gehören auch die Messen, die für die landesweite Mobilität der Darstellenden Künste von enormer Bedeutung sind. Die Messen haben ihren eigenen Verband, COFAE (Coordinadora de Ferias de Artes Escénicas), die privaten Unternehmen sind bei FAETEDA (Federación Estatal de Asociaciones de Empresas de Teatro y Danza) organisiert, sie sind die hauptsächlichen Nutznießer des Platea-Programms, einer von INAEM und dem Spanischen Verband der Gemeinden und ­Provinzen (FEMP) geförderten Katalogübersicht, die die Arbeit der Programmgestaltung erleichtert und die ­Mobilität der Ensembles fördert, indem deren wirtschaft­liches Risiko reduziert wird. Für die kleinen Spielstätten gibt es das Netzwerk „Red de Teatros Alternativos“ mit 55 Spielorten, über sämtliche Autonome Gemeinschaften verteilt. Dieses Netzwerk wählt jedes Jahr im Rahmen des Förderungsprogramms „Circuito de la Red“ Stücke aus, die auf Tournee durch Spanien gehen. Dreizehn Theaterhochschulen (übers ganze Land verteilt) vervollständigen das hier skizzierte Geflecht der Netzwerke – obwohl es viele Studierende aufgrund der mangelnden kulturellen Infrastrukturen in ihren Heimatregionen an die Hochschulen nach Madrid und Barcelona zieht. Weil außerhalb dieser Zentren kaum Eigenproduktionen entstehen, sind diese Theater in erster Linie Gastspielbetriebe, was zu einem sehr homogenen Angebot führt. Paradoxerweise haben selbst zentrale staatliche Institu­tionen wie das CDN große Schwierigkeiten, ihre Produk­tionen außerhalb der Hauptstadt oder auch im Ausland zu zeigen, warum, bleibt unklar. Mysterien der Kulturpolitik …

Das ist unser System, in der Theorie gut organisiert. Aber, wie gesagt, in der Praxis ist die Situation prekär, und die Kulturpolitik bewährt sich nicht immer, weil sie ausgesprochen kurzsichtig ist. Doch es gibt auch Erfolgsgeschichten. Wenn man es schafft, die Kräfte für einen bestimmten Bereich zu bündeln, wie es mit der zeitgenössischen Dramatik der Fall war, und dabei Weitblick beweist, die Lehre unterstützt, Räume zur Verfügung stellt, die auch für mehr Sichtbarkeit sorgen, finanzielle Impulse setzt, Preise und Netzwerke ins Leben ruft und Universitäten mit einbezieht, dann führt das auch zum Erfolg. Heute freuen wir uns über eine beneidenswert starke Generation von Theaterautorinnen und -autoren, mit der die Auseinandersetzung lohnt. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass die wenigsten Autoren vom Theater leben können, sich beruflich breiter aufstellen und auf den Mannaregen der Tantiemen warten müssen, falls sich ein Theater oder eine Gruppe dann doch noch dazu entschließt, ihre Stücke zu inszenieren. Oder sie nehmen es selbst in die Hand (was ­häufig vorkommt) und investieren ihre Zeit, Geld und Arbeit, ohne die Gewissheit, dass es sich lohnen wird.

Der springende Punkt ist letztlich: Das Angebot wird gefördert, aber nicht die Nachfrage. Darin besteht eines der größten Probleme unseres aktuellen Theatersystems, zusammen mit dem fehlenden Interesse des Auslands, unsere Theaterproduktionen einzuladen – mit Ausnahme von klassischem Tanz und Flamenco, die in sehr tradierter Form unter dem Label „Marke Spanien“ (gemeinsam mit iberischem Schinken, Olivenöl und Wein aus La Rioja) vermarktet werden, ist spanisches Theater nur selten auf internationalen Bühnen zu finden. Schaut man sich einige der bedeutendsten Theaterfestivals Europas und Lateinamerikas der letzten fünf Jahre an, war die spanische Szene dort nur durch eine Handvoll Künstlerinnen und Künstler vertreten (Rodrigo García, Angélica Liddell, Juan Mayorga, La Zaranda, La Tristura, El Conde de Torrefiel, Rocío Molina und Israel Galván). Doch innerhalb unserer Landesgrenzen führt die Überproduktion zu einem unüberwindbaren Stau, weil das System nicht in der Lage ist, einem so unverhältnismäßigen Arbeitseifer gerecht zu werden. Ein Beispiel aus der Praxis: Zur letzten Ausschreibung des Gastspielförderprogramms des Circuito de la Red de Teatros Alternativos gingen 900 Bewerbungen ein, von denen nur 50 oder 60 für eine Tournee ausgewählt wurden. Für den Rest heißt das: weitersuchen. Es gibt nicht genug Auftrittsmöglichkeiten. Woran liegt das? Gibt es nicht genug Publikum? Ist das Angebot nicht attraktiv genug? Oder liegt es daran, dass in so einer überschaubaren Cliquenwirtschaft immer nur dieselben Leute arbeiten? Dass da nur eine ganz bestimmte Form von Theater hineinpasst?

Und, noch entscheidender: Interessiert sich die spanische Gesellschaft überhaupt für das Theater? Dem medialen Echo nach nur sehr wenig. Möglicherweise ist das Teil eines größeren Problems, das mit der körper­lichen Ko-Präsenz von Zuschauenden und Schauspielenden zu tun hat; die Darstellenden Künste können nicht viral gehen, weil sie zu flüchtig sind, sie entziehen sich dem Algorithmus von vornherein. Es gibt immer weniger Theaterkritik, weil der Markt allgemein größer wird, und die sogenannten kommerziellen Theater, die Privattheater, müssen die Ränge füllen, um Kohle zu scheffeln, und gehen darum mit den üblichen Mitteln auf Nummer sicher: Komödie, großes Repertoire, Starschauspielerinnen und -schauspieler, Spektakel, Musical, TV-Ästhetik usw. Das Gewöhnliche spielt sich im Zentrum ab, im Zentrum Spaniens und im Zentrum der Städte. Das Außergewöhnliche, also das Andere, Fremde, bleibt randständig (im wörtlichen und übertragenen Sinn), findet auf Festivals statt und wird daher mit Tourismus assoziiert, als „total experience“, das absolute Erlebnis – noch so ein neoliberales Credo. Während manche Produktionen ewig auf dem Spielplan stehen, weil sie zur offiziellen (politisch wie poetisch völlig harmlosen) Kulturlandschaft einer Großstadt gehören, sind andere nur sehr temporär zu ­sehen, und die Ministranten und Mitglieder der großen intellektuellen Theatergemeinde, ich vorneweg, prügeln sich um Eintrittskarten oder Einladungen zu einer der wenigen Vorstellungen. Castellucci, Lepage, Liddell und Mouawad darf man schließlich auf keinen Fall verpassen, Gott bewahre!

Die Auswahl ist vielfältig, ja, aber es entsteht der Eindruck, das spanische Theater teile sich in solche, die sich die Zeit vertreiben, und solche, die in die (Theater-) Geschichte eingehen wollten. Der Großteil des Publikums ist auf Unterhaltung aus, gönnt sich ab und zu den Spaß, ein klein wenig schlauer als der Nachbar zu sein, und schaut sich einen well made Shakespeare oder Lope de Vega an, möglichst ohne allzu viele moderne Sperenzchen. Und das theaterinterne Publikum (Konsumenten des eigenen Produkts) sucht Inspiration in der sogenannten zeitgenössischen Kunst, wo die Figur des interdisziplinären Theaterkünstlers immer mehr an Bedeutung gewinnt, der die Grenzen zwischen Regie, Text, Spiel und Bühnenraum aufzulösen versucht. Am Ende jedenfalls ist der Name des Künstlers wichtiger als seine Arbeit, der Autor wichtiger als das Ensemble, ein weiteres Zeichen der Zeit. Grenzüberschreitungen, Risikofreude und Überraschungen sind selten, und es ist schwer, diese Diamanten überhaupt zu entdecken, die materiellen Bedingungen lassen kaum Raum für Neues – und das wenige Neue, das dann doch entsteht, orientiert sich an vorausgegangenen künstlerischen Entwicklungen aus dem Ausland.

Der aktuelle Trend geht, sowohl formal als auch inhaltlich, Richtung Autofiktion und zum politischen, sozialen, dokumentarischen Theater. Identität ist die neue zeitgenössische Religion, und der neoliberale Unternehmergeist durchdringt nun auch die Kunst, das steht fest. Ist das Bekenntnis- und Geständnistheater Symptom für einen Mangel an Fantasie oder einen Mangel an Mitteln, um ambitionierte Produktionen auf die Beine zu stellen? Ist das Erinnerungstheater Symptom einer Krise der Fiktion oder Antwort auf das postfaktische Zeitalter? Auch das Theater entkommt dem Kulturstreit nicht, den Spanien gerade durchlebt. Aber lasst uns einfach weiter den Trends nachlaufen! Selbstreferenzialität und Nabelschau (Theater, das von Theater handelt und sich an Theaterleute richtet). Bruchstückhafte, löchrige und zusammengeschusterte Dramaturgien. Frankenstein-Effekt mit prätentiöser Collagen-Optik. Aufwendige Bühnenbilder sichern den Platz im Theaterolymp, Bildgewalt ist das Gebot der Stunde, bloß kein audiovisuelles Mittel auslassen. Herrschaft der Bilder. Der Umgang mit dem häufig verstaubten nationalen Kulturerbe riskiert nicht viel – Traditionen werden erhalten, gepflegt, aber nicht gesprengt (und im Stillen beneidet man die Briten um ihren „Shakespeare“). Darum leiden viele Theaterschaffende unter dem „Ich will endlich ein Klassiker sein“-Syndrom, was immer sich der Einzelne unter einem Klassiker vorstellt.

Underground gibt’s auch, ja, einen Container voll mit halbfertigen Projekten (der Prozess zählt, nicht das Resultat) und lässiger Wohnzimmerästhetik, die manchmal tatsächlich in Wohnzimmern stattfinden. Viel projizierter Text, zwanghafte Verfremdungen, verstärkter Ton und Soundexperimente, Bewegung mit Brüchen (we love Pina Bausch), Gender- und, wie gesagt, Identitätsthemen. Glücklicherweise ist das Theater in Spanien aktuell wahrscheinlich eine der freiesten und engagiertesten Ausdrucksformen, wenn es um die Auseinandersetzung mit Fragen von Feminismus, Männlichkeit, LGBTQI+ und Rassismus geht (auch wenn es nach wie vor viel gestriges Theater gibt). Gerade seine begrenzte Reichweite eröffnet dem Theater vielleicht eine größere inhaltliche Freiheit, die sich andere Medien wie das Kino oder das Fernsehen nicht erlauben können.

Die (Seh-) Gewohnheiten haben begonnen, sich zu ändern. Eine ganze Bewegung hat sich aufgemacht, um die Theatersprache weiterzuentwickeln (die schon so alt ist und es doch immer wieder schafft, sich neu zu erfinden). Aber vielen gilt diese Bewegung als alternatives Experiment, mit dessen Tempo das Publikum meist nicht Schritt halten kann. Darum haben sich die Theater­erneuerer an das Publikum anpassen müssen, indem sie sich ästhetischer Mittel bedienen, die früher en vogue waren, heute aber zum Klischee erstarrt sind. Falls die Distanzierung, Loslösung, ja, die Verdammung des Theaters innerhalb unserer Konsumgesellschaft neue Arbeitsmöglichkeiten, neuen Freiraum für Experimente, geschaffen hat, dann machen die Resultate jedenfalls nicht den Eindruck, als wäre man damit besonders weit gekommen – es ist die Dramatik, die weiterhin den ­Kanon bestimmt. Die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bedingungen werfen die Frage auf: Machen wir das Theater, das wir wollen, oder das Theater, das wir können? Oder das Theater, das wir wollen, mit den Mitteln, die wir haben? Wozu all die Anstrengungen? Denn dieses schnelllebige und kurzsichtige System führt dazu, dass schon dagewesene Ansätze gedankenlos wieder aufgewärmt und Gemeinplätze als Novum präsentiert werden. In der jüngeren Generation allerdings scheint das Interesse am Theatermachen und Theaterschauen neu zu erwachen. Dieses lebendige Kinder- und Jugendtheater sorgt für Publikum – schon heute, aber vor allem mit Blick auf die Zukunft. Wird dasjenige Drittel der Bevölkerung, das jährlich mindestens ein Mal ins Theater geht, endlich wachsen, oder bleiben wir in dieser postmodernen Spirale stecken? In diesem absurden Kreislauf, der alle paar Jahre wieder von vorn beginnt, ohne Erinnerung, ohne Archiv, ohne Fortschritt, ohne wirklichen Respekt vor dem großen Talent, das auf spanischen Bühnen unbestreitbar zu finden ist? Was weiß ich. Eine Runde ficke* ich noch, dann gehe ich. //

*In Spanien gibt es einen Witz: Ein paar Katzen laden einen Welpen ein, eine Nacht mit ihnen ficken zu gehen. Der Welpe weiß nicht, was Ficken ist, aber schließt sich an. Als sie auf einem Platz ankommen, folgt ihnen plötzlich ein Hund und beginnt, die Katzen im Kreis um den Springbrunnen in der Mitte des Platzes zu jagen. Nach ein paar Runden um den Brunnen sagt der Welpe: „Eine Runde ficke ich noch, dann gehe ich.“

Aus dem Spanischen von Miriam Denger und Johanna Carl

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