Der antinaturalistische Umbruch in Europa
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Nach ihrem unmittelbaren Gegner häufig „antinaturalistisch“ genannt, setzte am Ende des 19. Jahrhunderts eine in sich sehr differente Bewegung ein, die bisherige hegemoniale Auffassungen von Theater fundamental umbrach und Hauptlinien westlicher Theaterkunst bis heute grundlegend veränderte. Übergreifend begriff und praktizierte sie Theater jetzt als eine eigenständige Kunst, die als solche Elemente anderer Künste und Techniken theaterkünstlerisch verarbeitete. Die Vorherrschaft der Literatur wurde aufgekündigt und das Sinnliche in seinen unterschiedlichen Qualitäten, vornehmlich und übergreifend die der Visualisierung, des Bildlichen, aufgewertet. Zugleich wurde aber auch die illusionistisch-lebensgetreue, historistische und naturalistische Bilderfabrikation des Theaters seit der Mitte des Jahrhunderts radikal kritisiert. Das schloss die Ablehnung der seit der Renaissance dominanten Auffassung, Darstellungen seien gleichsam Abbilder der normal wahrnehmbaren Raum- und Zeitverhältnisse des Lebens und eine in der Tendenz grundlegende Umdeutung des Verhältnisses der Kunst zu anderen gesellschaftlichen Praktiken ein. Als eine spezifische Praxis genommen, erschien die Kunst jetzt als eine besondere Realität. Radikal gedacht konnte das heißen, sie könnte sich gleichsam von der übrigen Welt abkoppeln, auf jeden Fall aber, dass sie von Phänomenen der nicht-künstlerischen Welt in ganz eigenartigen, wesentlich anderen Darstellungsweisen handeln kann und soll. „Wer sagte“, fragte Meyerhold 1914, „dass die Trauerfarbe im Theater schwarz ist? Nein, im...