Auftritt
Bamberg: Glotzt nicht so betroffen!
ETA Hoffmann Theater: „Zerstörte Straßen (Bad Roads)“ von Natalia Vorozhbyt. Regie Wojtek Klemm, Ausstattung Romy Rexheuser
von Michael Helbing
Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)
Assoziationen: Bayern E T A Hoffmann Theater

Die Geliebte des Kommandanten fährt mit einem Soldaten auf schlechter Straße durch die Nacht. Die Stimmung ist gereizt. „Das ist nur alles so absurd …“, entschuldigt sie sich. „Tragisch, ja“, entgegnet er und bringt sie so gleich wieder auf die Palme: „Ich sage absurd, er sagt tragisch.“
Dabei trifft beides zu, da Witja, der Kommandant, kopflos im Kofferraum liegt. Er hatte, so hören wir, einen Scheißcharakter. Und einen guten Körper. Doch ohne Kopf mache der einen nicht mehr so an.
Wäre die Situation nicht so ernst, man könnte nicht lachen. Und wer die sechs schmerzensreichen Episoden des Stückes liest, muss häufiger lachen. Andernfalls müsste man schreien.
So funktioniert „Plochie dorogi“ alias „Bad Roads”, entstanden 2017 für’s Royal Court Theatre, London. Die Kyjiwer Theater- und Filmemacherin Natalia Vorozhbyt rang es den Um- und Zuständen des Krieges ab, wie er seit 2014 im Donbas tobt. Die Straßen dort, sagt darin jene Geliebte, waren schon vorher schlecht. „Und jetzt heißt es: der Krieg, der Krieg. Was hat der Krieg damit zu tun?“
Und jetzt heißt es, nach Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar: „Zerstörte Straßen“. So titelt die deutsche Fassung in Bamberg. Dort sucht Wojtek Klemms Inszenierung das Absurde im Tragischen und umgekehrt: so, wie es Vorozhbyts psychisch und physisch gewalttätiges Roadplay vorzeichnet – nicht so wie in ihrer eigenen Verfilmung von 2020, für die sie erklärtermaßen „drastische Bilder von Gewalt und Ohnmacht“ fand. Zuvor hatte sich – nach allem, was man liest – auch Tamara Trunova mehr für den Schrei entschieden, als sie das Stück hinterm hohen Gitter expressiv inszenierte: mit dem Left Bank Theatre Kyjiw, wo es noch nicht zu sehen war, dafür aber bei „Radar Ost“ am Deutschen Theater Berlin, bei „Radikal jung“ in München, am Berliner Ensemble.
In Bamberg setzt Klemm die kopflose Leiche (Robert Knorr unterm Soldatenmantel) zwischen Fahrer und Beifahrerin (Eric Wehlan und Jeanne Le Moign), wo sie kippelt und kippt. Drei Kollegen sind das Autoradio und summen „In the Army Now“. Es gibt hier aber, anders als bei Trunova, gar kein Auto. Es gibt auch kein Lenkrad und sowieso keine Requisiten. Was es gibt: Pantomimisches und Verfremdungseffekte, entpersonalisierte und chorisch aufgefächerte Figuren, die Distanz der Schauspieler zur Rolle und zum Gegenstand. Losung des dichten Abends: Glotzt nicht so betroffen!
Es ist ein Abend tiefer Verunsicherung. „Wie spielt man eigentlich Krieg?“, fragen sie, zum Beispiel sich und uns, auf grünem Kunstrasen sowie vor und zwischen einem Dutzend vom Schnürboden baumelnder Birkenstämme. Als wär’s ein Stück von Tschechow. Und Alina Rank könnte hier auch, im langen geschlitzten Rock, im ärmellosen Oberteil, als Ranjewskaja oder Arkadina durchgehen. „Ich bin Natalia“, setzt sie stattdessen wiederholt an. Als Alter Ego der Autorin und Prima inter Pares im Ensemble platziert sie Sätze aus dem zerfetzten Eröffnungsmonolog, in dem sich die „miese Schriftstellerseele“ an der Front in einen Soldaten verliebte. Immer wieder wird sie abgewürgt: „Später!“, raunt man ihr zu. Sie wird einfach von den Ereignissen überrollt.
Unterdessen geht das Sextett in die Hocke, um drei minderjährige Frauen zu sprechen, die was mit anti- oder prorussischen Soldaten anfingen. Zu fünft geben sie eine orthodoxe Großmutter, die Ukrainer für Faschisten hält. Eric Wehlan muss ins Bärenkostüm schlüpfen, bevor ein Schuldirektor von einer Militärpatrouille des Separatismus verdächtigt wird. Und Stephan Ullrich stirbt im Unterrock mehrfach den Tod einer Henne: überfahren von einer Frau, die naiv genug ist, sich den Besitzern zu stellen, einem tumben Bauernpaar, das sie ausnehmen will wie eine Weihnachtsgans.
Marek Egert geifert die Bäuerin auf die Bühne, Alina Rank und Jeanne Le Moign tauschen permanent Täter- und Opferrolle in einer handgreiflich erzählten Vergewaltigungsszene. Empathie findet stets statt, Einfühlung wird vermieden. Die Kunst hält Abstand zur Wirklichkeit, um der Anmaßung zu entgehen, wir könnten wirklich nachempfinden, was da vor sich geht. Und so lässt Klemm intensive Momente wie eine Zirkusnummer enden: „Hepp!“, rufen sie, wie Artisten.
Das geschieht im Bewusstsein, dass Kunst die Welt nicht rettet. Davon (und von zerstörten Straßen) schreibt Natalia Vorozhbyt im aktuellen Epilog, den sie im Oktober aus Kyjiw nach Bamberg schickte. Alina Rank spricht ihn unpathetisch und unaufgeregt, macht keine Gardinenpredigt daraus, obwohl es darin auch um Gardinenstangen und Vorhänge für die renovierte Wohnung geht: „Wenn ein Atomschlag uns erwischt, dann bleiben von uns unsere Texte, Bilder, unsere Musik, unsere Filme. Anstelle von mir bleiben meine Texte. – Ich will anstelle meiner Texte bleiben!“
Dann gackert sich die Henne aus der Grube, zurück ins Leben. Und so rückt sich ein Theater, das sich ernst nimmt, aber nicht zu wichtig, gleichsam selbst den Kopf zurecht. //