Theater der Zeit

V. Theater

1. Institution

von Bernd Stegemann

Erschienen in: Kritik des Theaters (04/2013)

Assoziationen: Dossier: Tarife & Theater

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Fast jede Stadt im deutschsprachigen Raum mit 100000 Einwoh­nern und mehr hat ein subventioniertes Theater. Der historische Ursprung dieser umfangreichen kommunalen Kultur liegt in der Kleinstaaterei einer »verspäteten Nation«. Zuerst wollte jeder Provinzfürst neben seinem Miniatur-Versailles auch ein Hoftheater haben. Etwas später begann das aufstrebende Bürgertum, das Theater als öffentlichen Raum seiner Emanzipation und Selbstvergewisserung zu entdecken. Im bürgerlichen 19. Jahrhundert setzte sich dieser Wunsch mit wachsendem Wohlstand in immer neuen Theatergründungen und imposanten Theaterbauten um. Hatte Lessings Entreprise eines bürgerlichen Theaters in Hamburg noch nach wenigen Monaten Konkurs anmelden müssen, weil der Spielplan zu literarisch war – er spielte zu viele deutsche und zu wenige französische Dramen –, so wurde wenige Jahrzehnte später das Stadttheater zum Erfolgsmodell einer bürgerlichen Öffentlichkeit.

Die Theatergebäude, die im 19. Jahrhundert in großer Zahl gebaut wurden, stehen bis heute im Zentrum der Städte. Ihr Prunk, ihre Gestaltung der Zuschauerräume und das Verhältnis zur Bühne sind der steinerne Ausdruck dieses Selbstbewusstseins, in dem der Geist des »Theaters« gebannt, der bis heute angerufen wird, wenn für »das« Theater gekämpft wird. Der Querschnitt der Opéra Garnier in Paris zeigt beeindruckend die Gewichtung der Zuschauerinteressen. Ein Drittel des gesamten Gebäudes nehmen die repräsentativen Treppenhäuser und Foyers ein. Ein weiteres Drittel nimmt der Zuschauerraum mit seiner überbordenden Pracht ein. Das letzte verbleibende Drittel teilen sich die Bühne und die dahinter liegenden Garderoben, Werkstätten, Büros. Weniger als ein Fünftel des Gebäudes steht dabei dem Bühnenhaus zur Verfügung. Der Weg ins Theater ist der erste Theaterauftritt des Abends. Der Zuschauerraum wiederholt dieses Verhältnis, indem er aus den Balkonen und Logen kleine Bühnen macht, von denen aus man einen besseren Blick auf die anderen Besucher als auf die große Bühne hat. Schließlich ist der prachtvolle Zuschauerraum mit seinen vielen Privatbühnen durch einen opulenten Rahmen von der Theaterbühne getrennt. Ein schwerer roter Vorhang verbirgt zum Beginn der Vorstellung das dahinter erwartete Zauberreich des Theaters. Die ­Illusionsmaschinen bleiben verborgen wie die ungeschminkten Gesichter der Schauspieler und Schauspielerinnen, die erst in der Verwandlung zur Verlockung und Gefahr des geregelten Alltags werden. Ein Besuch in der Garderobe wird für die bürgerliche Existenz zum ersehnten und verwirrenden Einblick in die Gegenwelt der Kunst. Das Bühnenhaus ragt hoch über die Nachbarschaft und hält auf seiner Rückseite die bewachte Pforte ins Paradies verborgen, die sich nur wenigen Glücklichen öffnet. Das große Andere zum spießigen Alltag, das Künstlerkritik und Boheme beschworen haben und das der emotionale Kapitalismus heute in jedem Angestellten hervorrufen will, hier hat es eine greifbare räumliche Gestalt.

Der Fetisch der Waren in den Glaspalästen der Weltausstellungen und Warenhäuser findet in den Inszenierungen der virtuosen Seelen, schönen Körper, betörenden Stimmen und verführerischen Gefühlen auf der Bühne des 19. Jahrhunderts noch sein glamouröses Vorbild. Doch der Wettkampf um die Aufmerksamkeit hat begonnen. Die Inszenierung der Waren nutzt das theatralische Verfahren der Entrückung, die ein Begehren weckt, dessen Befriedigung erreichbar scheint, die aber nie vollständig zu erlangen ist. Kostbar liegen die Produkte der Industrie auf den kleinen Bühnen der Konsumtempel. Der Zugang zum Warenhaus ist durch Portale geschmückt, die auch in die Museen, Justizpaläste oder das Theater der Stadt führen könnten.

Der Fortschritt in der Warenproduktion und ihrer Anpreisung hat mit den technischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts Schritt gehalten. Die Theatergebäude hingegen sind als Denkmäler der Kultur gepflegte Mahnmale einer bürgerlichen Repräsentation geblieben. Man mag sich heute über das prunkvolle, zentral gelegene Haus freuen und der abendliche Besuch bekommt dadurch einen festlichen Charakter. Die Mitarbeiter sind vielleicht stolz, an diesem berühmten und herausgehobenen Platz zu arbeiten. Im Theateralltag knirscht es jedoch immerfort zwischen seinen künstlerischen Versuchen, die gegenwärtigen Verhältnisse auf der Bühne zu inszenieren, und der architektonischen Überwältigung, die für gänzlich andere Wirkungsabsichten gebaut wurde. Ein psychologisches Kammerspiel in der Orchestra des Amphitheaters von Epidauros ist nicht weniger befremdlich als ein Drama von Shakespeare im Goldrahmen der vierten Wand.

Doch nicht nur die architektonischen Vorgaben des einzigartigen deutschen Theatersystems sind ein Relikt des 19. Jahrhunderts, auch seine Organisationsform entstammt noch feudalen Zeiten. Der Intendant war der vom Herrscher eingesetzte oberste Beamte in einer dem Hof unterstellten Behörde und manches Mal handelte es sich dabei um ehemalige Offiziere, die es gewohnt waren, große undisziplinierte Menschenmengen zu befehligen. Der Regisseur war sein verlängerter Arm im Chaos der Probe und die Schauspieler/Sänger waren begehrte und darum unberechenbare Diven oder sie gehörten zum rechtlosen Fußvolk der Zuträger für die Auftritte derselben. Die Werkstätten, Garderoben, Verwaltungen waren Teil des Theaters, so dass eine kleine Stadt in der Stadt entstand. Ausgerichtet auf die Produktion von abendlicher Unterhaltung waren die Arbeitszeiten der Theaterleute aufregend verschoben zum bürgerlichen Alltag. Keine der historischen Bedingungen, die zur eigentümlichen Gestalt des Stadttheaters als Manufaktur von Theateraufführungen geführt hat, ist heute noch gegeben und dennoch hat sich diese Struktur erhalten. Das Theater wird noch immer durch einen von der kommunalen Verwaltung eingesetzten Intendanten geführt, und alle administrativen, künstlerischen und handwerklichen Kompetenzen versammeln sich unter dem einen Dach der Institution Stadttheater.

Das Unbehagen an der Kunstproduktion im Stadttheater beginnt schon Ende des 19. Jahrhunderts und führt zu dem Gegenmodell des Künstlertheaters. Konstantin Stanislawski gründete zusammen mit Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko 1898 das Moskauer Künstlertheater, um dem desolaten Zustand der Schauspielkunst durch eine Verbindung von Schauspielausbildung und künstlerisch dominierter Theaterarbeit entgegenzuwirken. Die Erfolge sind bekannt: Es entstand das bis heute angewendete Schauspielsystem der Stanislawski-Methode und seine Inszenierungen haben den Maßstab für realistisches und naturalistisches Theater in der ganzen Welt gesetzt. Die Nachfolgegründungen von Künstlertheatern sind zwar selten, aber immer sehr folgenreich für die Theaterentwicklung: Bertolt Brechts »Berliner Ensemble«, Giorgio Strehlers »Piccolo Teatro di Milano«, Ariane Mnouchkines »Théâtre du Soleil« in Paris, die Schaubühne am Halleschen Ufer von Peter Stein und seinem Ensemble in Berlin, Peter Brook, Jerzy Grotowski, Anatolij Wassiljew, Pina Bauschs Wuppertaler Tanztheater und weitere Ikonen der Theatergeschichte haben das europäische Theater maßgeblich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmt. Die ästhetische Entwicklung, die Reflexion der Theatermittel, die Ausbildung der Schauspieler und Zuschauer und die Durchsetzung von Produktionsbedingungen, die für die erstrebte Qualität notwendig sind, gehen auf die Künstlertheater zurück. Von hier aus wurden Inszenierungen in die Welt geschickt, die nachhaltig das Verständnis des Theaters und seiner Möglichkeiten verändert haben. Ihre Arbeitsbedingungen waren und sind die Sehnsucht der Theatermacher, denn zusätzlich zu den künstlerischen Erfolgen traten sie auch mit fundierten Gedanken zur Theaterarbeit in die Öffentlichkeit. In der konzentrierten Arbeitsatmosphäre des Künstlertheaters sind Texte entstanden, in denen die Künstler selbst ihre Produktionsweisen, ihre Ästhetik und deren gesellschaftliche Bedeutung reflektieren konnten.

Das Stadttheater profitierte von dieser Erforschung des Theaters und litt zugleich darunter. Die Produktionsbedingungen des Künstlertheaters waren eine ständige Herausforderung für die Manufaktur. Der Zeitrahmen der Proben und die Konzen­tration des Ensembles auf nur eine Produktion sprengten immer wieder die Anforderungen des Repertoirebetriebs. Die abgemessene Probenzeit sowohl für das Neuerfinden wie auch die Zwänge des Einstudierens zu nutzen, überforderte häufig deren Möglichkeiten. Im Künstlertheater ist der Schauspieler Teil eines Ensembles, das gemeinsam an einer neuen Aufführung arbeitet. Mitbestimmung auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen institutionellen Verfassungen ist die notwendige Folge. Wenn alle am selben arbeiten, sind alle füreinander kompetente Partner. Ganz anders am Stadttheater, denn hier ist der Schauspieler zuerst einmal Angestellter einer Institution, der in zahlreichen Produktionen eingesetzt werden können muss. Eine vielfältige Verwendbarkeit ist Voraussetzung für den Stadttheaterspieler. Ähnliches gilt für die Stellung des Regisseurs, der im Künstlertheater deutlich stärkeren Einfluss auf die Produktionsbedingungen hat und dabei zugleich wesentlich besser in die Abläufe und das Ensemble eingebunden ist. Die Erkundungen ins theatralische Neuland, die die Künstlertheater begonnen haben, machten den Regisseur zur zentralen Entscheidungsinstanz. Wenn eine neue Spielweise erprobt wird, sind die Schauspieler auf Anleitung und Beobachtung von außen angewiesen. Die Probe erfährt eine grundsätzliche Erweiterung, da sie nicht mehr dem Einstudieren der notwendigen Verabredungen unterworfen ist. Die Probe wird zu einer künstlerischen Arbeit, in der das Schauspielen gemeinsam untersucht, neu und wieder gefunden wird. Die Probe wird zum Zentrum der theatralischen Arbeit. Hier bildet sich das Ensemble als ein gemeinsam spielendes Kollektiv von Schauspielern, die über eine gemeinsame Sprache, Meinung und Technik verfügen. Hier wird die Erfahrung gemacht, dass Theatererfindungen nur im Kollektiv entstehen können.

Der Versuch, eine solche Probenarbeit im Stadttheater zu wiederholen, führt zu den stresshaften Veränderungen im Beruf des Regisseurs. War er ursprünglich dafür verantwortlich, die Aufführung zu organisieren, so wollte und sollte er nun die Probe dafür nutzen, das Theater neu zu erfinden. Diese Entwicklung stellt Regisseure wie die Institution vor immer neue Probleme: Die Probenzeiten sind immer zu kurz, die Schauspieler müssen sich auf immer neue Spielweisen »einlassen«, auch wenn die Abendvorstellung dann wieder etwas anderes verlangt, die ästhetischen Anforderungen an Bühne, Licht, Kostüm etc. wachsen unendlich, da jede Aufführung ein Originalkunstwerk sein möchte, und die Stoffwahl folgt immer öfter Spielplanzwängen und -überlegungen als dem ästhetischen und technischen Stand des Ensembles.

Die Regisseure des Stadttheaters versuchen mit sehr unterschiedlichem Geschick und Erfolg, ihre Produktionsbedingungen in ein Künstlertheater en minature zu verwandeln. Folgerichtig wird das Stadttheater zum bevorzugten Kampfplatz des Regiewillens. Hier könnte es die richtigen Produktionsbedingungen geben, wenn die Institution nicht in den Verkrustungen des 19. Jahrhunderts stecken würde, hier gibt es Schauspieler, die sich entwickeln könnten, wenn sie nicht nachmittags das Weihnachtsmärchen spielen müssten und hier gibt es ein Publikum, das durch neue Theaterformen zu provozieren ist. Diese Phase des Regietheaters mit seinem strukturellen Konfliktpotenzial hat seit den 1960er Jahren ihren Höhepunkt und scheint langsam an ihr Ende zu kommen. Die gegenwärtige Situation ist von drei verschiedenen Strömungen bestimmt: Die Institution des Stadttheaters beginnt die Suche nach dem zukünftigen Theater anders zu organisieren. Die Impulse aus den Künstlertheatern, soweit es sie überhaupt noch gibt, erlahmen. Und drittens schließlich werden durch die postmodernen Ästhetiken und ihrer Vorliebe für diskursive Kunst die Erarbeitung von Theater und die dafür notwendigen Mittel grundlegend verändert.

Die Zahl der Neuproduktionen im Stadttheater hat sich allein im Schauspiel von 3387 in der Spielzeit 1991/92 auf 5106 in der Spielzeit 2007/8 gesteigert. Die Tendenz zur Überproduktion hält nicht nur an, sie beschleunigt sich immer weiter. Die Gründe hierfür sind interessant und werfen ein bedenkliches Licht auf das Selbstbewusstsein der Theatermacher. Offenbar wird befürchtet, dass die einzelne Produktion nicht mehr genügend Zuschauer hat, um mit einer gleichbleibenden Zahl von Premieren jeweils die Zuschauerzahlen des Vorjahres zu erreichen. Es muss also mehr angeboten werden, um das schwindende Interesse an der einzelnen Aufführung zu kompensieren. Nach dem Prinzip der Schrotflinte steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch Treffer erzielt werden, zugleich sinkt der Relevanzdruck auf die einzelne Produktion, wenn sie in einem Reigen von zahlreichen anderen Premieren steht. Auch will die Theaterleitung den vielen jungen begabten Nachwuchskünstlern Arbeitsmöglichkeiten eröffnen. So finden sich immer ein kleiner Text, der uraufgeführt werden will, ein noch unbespielter Raum im Theater und ein nicht vollständig ausgelasteter Schauspieler. Schließlich grassiert auch in der Theaterleitung der Schrecken des Müßiggangs. Ein Betrieb, der nicht mit 150-prozentiger Belastung fährt, setzt Rost an, so meinte ein legendärer Intendant der 1990er Jahre. Die Arbeitsbelastung ist bei den projektgestählten, unternehmerisch denkenden Mitarbeitern in der Kulturindustrie zu einer fiktiven Größe geworden, die unendlich steigerbar scheint. Wer wirklich für seine Arbeit brennt, der braucht keine Ruhe, an diese Parole wurde auch schon vor ihrer flächendeckenden Übernahme durch den emotionalen Kapitalismus im Theater geglaubt. Das Gespann aus zwanghafter Aufmerksamkeitssteigerung, Überforderungsfuror, Chancenvergabe und Horror Vacui machen aus dem Stadttheater einen Musterschüler neoliberalen Wirtschaftens. Wer bei sinkenden Subventionen seinen Output steigert, steht auch vor den Rechenknechten der Stadtverwaltung gut da.

Eine wohl ungewollte Pointe dieser Produktionssteigerung besteht für den Regisseur darin, dass der Druck, der einst durch seine künstlerischen Forderungen auf den Apparat ausgeübt wurde, sich nun gegen ihn selbst kehrt. Er wird zum Verantwortlichen für das Gelingen einer Inszenierung, indem er auf die karger werdenden Produktionsbedingungen künstlerisch reagieren muss: Kein Geld fürs Bühnenbild, schon Peter Brook schrieb irgendetwas vom Leeren Raum. Zu wenige Schauspieler, wir spielen Shakespeare aus dem Geist der Spieltruppe, in der jeder alle Rollen spielen kann. Knappe Probenzeit, eine rasante Strichfassung hilft und einiges kann auch an der Rampe stehend abgelesen werden. Und wenn nichts mehr hilft, die Musik auf dem iPhone des Regisseurs ist schnell verfügbar und wird ihre Wirkung tun. Diese kalte Beschreibung deckt sich natürlich nicht mit der Innensicht der Theatermacher, deren Begabung häufig darin besteht, eben aus den beschränkten Bedingungen den größten Zauber entfesseln zu können. Diese kalte Beschreibung soll hingegen den Schleier eines sentimentalen Künstlerklischees zerreißen. Man sollte nicht die Fähigkeit des Theaters, aus Blech Gold machen zu können, verwechseln mit der effi­zienzgetriebenen Planung einer Theaterleitung. Denn auch hier gilt die Dialektik von Herr und Knecht. Die Überforderung des Apparats wie der darin arbeitenden Künstler führt zu dem Ausdruck der knechtischen Authentizität.227 Diese kann für den Zuschauer zu einem Genuss werden, aber auch wie ein Unfall in der Überforderung wirken. Die Intendanten, die einen solchen Weg einschlagen, um »interessantes« Theater zu machen, sollten sich zumindest darüber Rechenschaft ablegen, dass sie aus der Position der Herrschaft die Vernutzung von Menschen und Kunst betreiben.

Der Erschöpfungsfuror hat heute jede Nische erreicht. Die leere Zeit, die einst als Muße galt und eine Lücke in der Realität ließ, durch die die Musen den Künstler inspirieren konnten, ist ausgefüllt mit Arbeit. Jeder Schritt muss im neuen Geist der Arbeit in zwei Richtungen abgesichert werden. Der Arbeitende muss sich selbst vollständig einbringen (emotionaler und kognitiver Kapitalismus) und die Arbeit selbst muss sich in einem nicht abreißenden Fluss von Evaluationen bewähren. Bestenlisten, Preise (monetäre und symbolische) und Wettbewerbe strukturieren den unübersichtlichen Markt des Theaters wie des Konsums. Wenn die freie Szene inzwischen für sich in Anspruch nimmt, die Avantgarde des Theaters zu sein, so ist sie in der Form des projektbasierten Ausbeutungsregimes schon lange die kapitalistische Avantgarde: Kein Vertrag gilt über das aktuelle Projekt hinaus und jeder muss sich in jedem Moment bewähren. Die Erfindung einer institutionellen Zeit, die Arbeitsräume schafft, die über das einzelne Projekt hinaus eine Freiheit bieten, wird von diesem neuen Geist der Arbeit gleich mehrfach in Frage gestellt. Die Eigenlogik aller Institutionen, ihren eigenen Fortbestand über die Funktion zu stellen, für die sie einst gegründet worden sind, wird als ständiger Bremsschuh für neoliberale Beschleunigungen erfahren. Wenn die konkrete Feststellung eines Konfliktes zwischen den Interessen der Institution und den Interessen der Kunst dazu genutzt wird, um den Bestand der Institution abzubauen, übernimmt die Kunst das neoliberale Denken in seiner naivsten Form. Der Abbau findet dabei auf sehr unterschiedlichen Ebenen statt: Die Überforderung durch die Menge der Projekte belastet das Arbeitsklima, denn wenn alle mit dem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert werden, tritt der Kampf um die Erfüllung des Pensums vor die Frage nach dem Sinn. Die Verdrängung der Sinnfrage durch den entfesselten Wettbewerb steht dann im Theater wie in der Gesellschaft wohl am Beginn der Beschleunigungslust. Zum anderen erlahmt nicht nur das künstlerische Potenzial in der Dauerabfrage, sondern auch die Mittel des Theaters, die dabei wie Rettungsringe benutzt werden, zerbröseln, ohne den Raum für weitere Entdeckungen zu öffnen. Wie soll ein Ensemble sich entwickeln, wenn jeder Einzelne in einem Strudel von Projekten funktionieren muss? Nicht nur das Spielvermögen wird lahm in der Überforderung und findet seine Rettung in den Effekten der Authentizität und den Tricks des Performativen. Das Miteinander des Ensembles hat zu wenig Raum, in dem es entstehen könnte. Doch solange der Gewinn an Selbstwert sich durch die Quantität der Produkte bestimmt, wird die wenig entwickelte Lust am Gemeinsamen immer dagegen verlieren.

Wer einmal mit einer Theaterleitung über die Frage der Überproduktion gesprochen hat, stößt in eine schlecht verheilte, aber gut versteckte Wunde. Der Abwehrreflex gegen ein Weniger ist existentiell. So wie im Kapitalismus Nullwachstum mit Niedergang und Rezession mit Untergang assoziiert wird, ist eine Spielzeit mit weniger Produktionen das nicht entschuldbare Eingeständnis eines Erlahmens der künstlerischen Energien. Wer ein Weniger fordert, fordert immer zuerst seinen eigenen Kopf. Denn zugleich mit dem Wachstumsdiktat erhebt augenblicklich die Frage nach dem Sinn des Theaters ihr Haupt, wenn ein Freiraum im Betriebsablauf droht. Wie dieser zu füllen ist, wenn die Arbeit nicht mehr nur als Schritte zu einer nächsten Produktion zu legitimieren ist, ist zum größten Rätsel geworden. Was soll man tun, wenn man nicht mehr das Ziel einer Premiere vor sich sieht? Wie soll man kreativ sein ohne Produktionsdruck? Der Rückzug ins private Dasein, die Abkehr von den Mühlen des Betriebs erscheinen häufig als einziger Ausweg aus dem Kreislauf der Vernutzung. Dabei hätte das subventionierte Theatersystem mit seinem breiten Umfeld von Kunsthochschulen und Kunstförderungen noch genügend Ressourcen, um eine Beschäftigung mit der Kunst zu ermöglichen, die nicht im Tagesgeschäft der Proben- und Aufführungsarbeit gefangen ist. Diese Ressourcen sind unerschlossen, da sie von den Praktikern im Hochbetrieb ihrer Karrieren nicht als notwendig erachtet werden. Und sie erscheinen unsichtbar, da die einfache Frage, womit man sich eigentlich beschäftigt, wenn man sich mit Theater beschäftigt, in einem vollständigen Nebel versunken ist. An der Nebelbildung tragen neben der Betriebsamkeit die postmodernen Theorien einen wesentlichen Anteil. Zugleich hat ihr Theorieduktus eine hohe Zugangsbeschränkung errichtet, die dem schwindenden Interesse der Theaterkünstler an theoretischen Fragen eine immer willkommene Ausrede bietet, sich nicht damit beschäftigen zu müssen. Der Kreislauf aus Beschleunigung der Produktion, Entkoppelung von Theorie und Kunst und affirmativer Wiederholung des emotionalen Kapitalismus in den diskursiven Künsten des Performativen müsste erkannt werden, um das darin verborgene Potenzial zu einer Entwicklung des Theaters zu nutzen. Im Augenblick erscheint das Theatersystem kurz vor einem Kollaps. Der begründet sich nicht in den schrumpfenden Subventionen, sondern in der Haltung der Theatermacher und Theatertheoretiker. Vielleicht sind das die letzten Zuckungen eines Sterbenden, wie es jüngst ein berühmter Autor und Dramaturg meinte. Vielleicht handelt es sich um eine Phase der Desorientierung, in der das Neue sich vorbereitet. Denn hier kommt der zentrale Grund für das Ende des Künstlertheaters ins Spiel.

Die Theaterwissenschaft hat in einer doppelten Bewegung seit den 1980er Jahren die Deutungshoheit über die Theatermittel übernommen und in der »angewandten Theaterwissenschaft« die Produktion von Theater gleich selbst in die Hand genommen. In einem für die Geisteswissenschaften einzigartigen Vorgang wird nun Theorie und Praxis miteinander verquickt. Um die Besonderheit zu ermessen, stelle man sich ein Institut für Kunstgeschichte vor, in dem die Studierenden die Kunstwerke, über die sie ihre wissenschaftlichen Arbeiten verfassen, zuvor selbst produziert haben, oder eine Literaturwissenschaft, in der die zu interpretierenden Texte selbst verfasst sind. Der Sonderfall der »angewandten« Theaterwissenschaft wird von ihr selbst als normale Folge postmoderner Ästhetiken und als eine notwendige Reaktion auf das Erlahmen des künstlerischen Theaters verstanden. Die Theorien des Poststrukturalismus und des Performativen bilden die Grundlage für die Theaterproduktion, deren praktische Anwendung dann von denselben Theorien wieder in Texte zurückverwandelt werden kann. Der Kreislauf aus Theater und Wissenschaft funktioniert gut und der Output an Texten und Aufführungen wächst schnell und stetig. Was es für die studierenden Theatermacher und ihren Innovationsgeist bedeutet, wenn alle ihre Erfindungen und Werke sich aus den Texten der Kulturwissenschaften speisen und zugleich theaterwissenschaftlich analysiert und damit zur Geschichte des Theaters umgeschrieben werden, wäre eine eigene Untersuchung wert. Oder etwas zugespitzter formuliert, wie ist »angewandte Theaterwissenschaft« als Kunst noch möglich nach den kanonisierenden Büchern der Theaterwissenschaft? Helfen da nur weitere Selbstreferenzen oder muss sich doch der Blick von der Fixierung auf das eigene Medium lösen und wieder die Mimesis von Menschen und Realität erlauben? Zumindest für den diskursiv vorgebildeten Zuschauer eröffnen die Anwendungen der Theaterwissenschaft über die Wiedererkennung der angewendeten Theorien hinaus wenig Welt. Vielleicht kommt damit die einstige Evolutionsbeschleunigung einer theorieinspirierten Kunst in die selbe Verlangsamung wie die handwerklichen Künste.

Denn was bei dieser Selbstbefruchtung von Theater und Theaterwissenschaft unberücksichtigt bleibt, ist die Arbeit des Schauspielens. Da die angewandten Theaterwissenschaftler in den wenigsten Fällen über eine schauspielerische Ausbildung verfügen, werden die Fähigkeiten des Performens genutzt, die eben da sind: Eine zu leise Stimme ist entweder eine spannende Grenzerfahrung zum Nichthören oder man nimmt ein Mi­krofon. Ungelenkes Stehen und Gehen kann entweder als authentischer Ausdruck inszeniert werden oder man setzt sich auf einen Stuhl. Fehlende Spielimpulse sind kein Manko, da sie nicht zum falschen Spiel des »Schultheaters« führen, und ein schwaches mimetisches Vermögen vermeidet peinliches Als-ob-Thea­ter. So stehen auf den Studiobühnen der Theaterwissenschaften junge Menschen meistens in ihrer Alltagskleidung im Scheinwerferlicht und performen die Erkenntnisse des Seminars vor Zuschauenden, die im selben Seminar saßen. Eine ideale Theatersituation also: Akteure wie Zuschauer verfügen über einen gleichen Wissenshorizont, mit dem in der Theatersituation spielerisch Einvernehmen und Differenzen erzeugt werden können. So ist die Erforschung theatraler Ausdrucksformen möglich, da ohne Verwertungsinteressen der Macher und durch die Insider-Erwartungen der Zuschauer ein homogenes Feld des Wissens zur Verfügung steht, in dem Differenzierungen anders probiert und feinnervig reflektiert werden können.

Ein vergleichbarer Forschungsraum steht den künstlerischen Ausbildungen der Theaterberufe nicht zur Verfügung. Hier wird die Studienzeit mit dem Einüben handwerklicher Fertigkeiten des Spielens und Sprechens, körperlicher Übungen und dem Erlernen theatergeschichtlicher Grundkenntnisse und dramaturgischer Regeln gefüllt. Die Dominanz des »Könnens« in diesen Ausbildungen resultiert aus der Erfahrung des Schauspielens, die darin besteht, im Moment des Auftretens die Situation von Spielen und Zuschauen aktiv formen zu können. Um sich diese Situation »nehmen« zu können, wie es im Jargon der Schauspielausbildung heißt, sind Fähigkeiten und Fertigkeiten ein notwendiges Lernbedürfnis. Der eigene Entschluss zum Impuls und das Reaktionsvermögen auf die Impulse der anderen stehen in einem spielerischen und darum immer wechselseitigen Verhältnis zueinander. Selbstaktivierung und Erlebnisvermögen müssen, wenn sie in der Stress-Situation der Bühne lebendig bleiben wollen, mit handwerklichen Übungen entwickelt werden. Das passive Aushalten der performativen Spielweisen steht hierzu in einem komplexen Widerspruch, da in der Praxis des schauspielerischen Vorgangs die Grenzen zum Geschehenlassen und die Emergenzeffekte des »Es spielt« immer schon vorhanden sind.228 Sie werden aber in den mimetischen Formen des Schauspielens anders reflektiert als in dem Schausein knechtischer Authentizität. Die aktive Gestaltung der Situation wird in der Schauspielausbildung als die größere Herausforderung empfunden und von daher umfangreich geübt. Die einseitige Dominanz des Aushaltens gegenüber der aktiven Darstellung beruht auf einer ästhetischen Präferenz für das Performative, die bei der Entwicklung schauspielerischer Kompetenzen nur eine Nebenrolle spielt. Die Berührungsängste zwischen den Schauspieltechniken und ihrer performativen Anwendung werden schon im Studium wechselseitig gepflegt und bleiben meistens auch darüber hinaus bestehen.

Das Verhältnis zwischen der angewandten Theaterwissenschaft und dem künstlerischen Theater ist dementsprechend kompliziert. Die wissenschaftlichen Texte werden von den Theaterpraktikern allzu selten gelesen. Umgekehrt beschäftigen sich die theaterwissenschaftlichen Texte nur in einem sehr geringen Maß mit den Produktionen des Stadttheaters. Die theaterwissenschaftlichen Produktionen hingegen erreichen über Festivals langsam das Stadttheater und führen dort zu Irritationen und neuen Anforderungen an die Produktionsbedingungen. Die gegenwärtig markanten Neuerungsimpulse kommen immer seltener aus den Vorbildern des Künstlertheaters oder den Produktionen des Stadttheaters. Die Mischung aus ängstlicher Abwehr durch das traditionelle Theater und auftrumpfender Propaganda durch die Textflut der Theaterwissenschaft führt jedoch zu einem verqueren Kontakt. Die Arbeit des Schauspielens wird von dieser weitestgehend ignoriert und damit auch die Tradition der in ihnen überlieferten Techniken abgelehnt. Auf der anderen Seite ist der Vereinnahmungsversuch des Stadttheaters allen Produktionsformen gegenüber von geringer künstlerischer Sensibilität. Der Zusammenhang von Produktionsbedingung und ästhetischer Arbeit wird wenig reflektiert. Der manufakturielle Rhythmus aus Probenzeiten, Premieren und Repertoire wird zur Wahrung des Betriebsfriedens und eines effizienten Outputs allzu oft gegen jede künstlerische Vernunft aufrechterhalten. Der Kampf der Avantgarde gegen die Institution der Kunst wird im Stadttheater täglich neu verloren. Die innerbetrieblichen Niederlagen sind dabei das kleinere Problem. Die Verinnerlichung ökonomischer Denkweisen im Effizienzdenken (Fordismus) und in der postmodernen Form der Ästhetik (Postfordismus) macht die schöne Provokation, sein Leben ändern zu müssen, zur unendlichen Anpassung ans immer Neue des Bestehenden.

Theater und Wissenschaft stehen währenddessen beleidigt voreinander und versäumen dabei das Potenzial ihrer gegenseitigen Inspiration. Das künstlerische Theater empfindet die Beleidigung, dass es von seiner zuständigen Wissenschaft geringgeachtet wird. Und die Wissenschaft hält das konventionelle Theater für theorieunwürdig und für wenig lernbereit. So verpassen beide Seiten die Chance, das Verhältnis von Theorie und Praxis anders denken und agieren zu können, als allein aus der Selbstreferenz der Theorie oder der Tradition der Praxis.

Die Entfernung des postdramatischen Theaters von den Fragen des Schauspielens und die Verquickung seines Theorieapparats mit der postfordistischen Ökonomie machen die Theaterwissenschaft zu einem schwierigen Partner bei der notwendigen Arbeit an der Kritik des Theaters. Die Gewichtung auf Performance statt auf Schauspielen, die Ablehnung der mimetischen Tätigkeit und die Leugnung, dass im Theater durch das Schauspielen für das Publikum etwas anderes als das Theater selbst erscheinen kann, sind die Folgen der oben beschriebenen Muster postmodernen Denkens. Die Beschneidung, die von der Postmoderne an menschlicher Souveränität vorgenommen wird, wird von der zugehörigen Kulturtheorie in ihrer eigenen Praxis wiederholt, ohne dabei ausreichend reflektiert zu werden. Die implizite Hochschätzung postmoderner Lebensformen verhindert die Erkenntnis, dass es eine enge Verbindung zum neuen Geist des Kapitalismus gibt. Und so sind auch die Theaterformen, die aus diesen Theorien gespeist werden, affirmativ oder indifferent zum umfassenden Problem des gegenwärtigen Kapitalismus. Sie wiederholen sein Kreativitätsdiktat in der Gestaltung der Produktionsbedingungen wie in der Ästhetik. Die Forderung nach Zerschlagung der Institutionen und Zersplitterung in projektbezogene Produktionsteams, die in der Radikalität der Kunst unterstützenswert sein kann, wird so zur wohlfeilen Losung, die von einem neoliberalen Unternehmensberater ebenso erhoben werden kann wie von den lautesten Fürsprechern der Postdramatik.229 Der proskriptive Ansatz postdramatischer Theaterwissenschaft, der sich in seinen Texten wie seinen Anwendungen zeigt, wiederholt die Verkehrung postmoderner Theorien, die ihr Verhältnis zur spezifischen Entfremdungen der Spätmoderne als Feier der Kontingenz ebenso bevormundend formuliert.

Ist die Kunst der Mimesis aus dem Theater vertrieben, ist es ein leerer Raum für Konzeptkunst. Ist die Institution des Stadttheaters erst einmal zerstört, können ohne zeitlichen Verzug die finanziellen Zuwendungen eingespart werden. Die Entwicklung der Institutionen des Theaters kann also kaum in ihrer Auflösung bestehen. Sie stehen vielmehr vor dem dialektischen Problem, der Beschleunigung des Effizienz- und Kreativitätsdiktats künstlerisch zu begegnen ohne sich dem Gegner anzuverwandeln. Tempo machen und einfallsreich sein ist kein Akt des Widerstands, sondern das vom Markt Erwartete.

Die Zukunft des Theaters kann nur immer wieder neu aus seinem Zentrum erwachsen: dem Aufeinandertreffen von Schauspielen und Zuschauen. Die Produktivkraft des Schauspielens wird von den diskursiven Theaterformen weder erkannt noch wird an ihrer Entwicklung gearbeitet. Im Schauspielen liegen nicht nur die Fundamente des Theaters, sondern auch eine der letzten Widerstandskräfte gegen die Gegenwart: Das anarchische Potenzial des Spielens; die mimetische Kraft, eine Welt jenseits der Realität erscheinen zu lassen; eine Arbeit, die nicht in der Entfremdung von Herr und Knecht ausgebeutet wird; und ein Erfindungsreichtum, der nicht vom Diktat des kognitiven und emotionalen Kapitalismus angetrieben wird. Das Stadttheater mit seinem hektischen Treiben immer neuer Regisseure vernutzt diese Energie mehr, als dass sie an ihrer Erfindung oder gar Entwicklung Anteil hätte. Die Theaterwissenschaft, egal ob in ihren Texten oder ihren Anwendungen, lässt diese Quelle weitestgehend unbeachtet. Das Künstlertheater, das einst aus dem Gedanken einer Entwicklung des Schauspielens die Arbeitsbedingungen so umgestaltet hat, dass das miteinander spielende Ensemble zum Zentrum des Theaters wird, ist fast verschwunden. Übrig geblieben ist davon nur die neue Machtinstanz des Regisseurs.

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