Theater der Zeit

Essay

Haut-an-Haut

Zu Geschichte, Konzept und Werken von Overhead Project

von Melanie Suchy

Erschienen in: Arbeitsbuch 2022: Circus in flux – Zeitgenössischer Zirkus (07/2022)

Assoziationen: Zirkus

Mijin Kim in der Produktion „CIRCULAR VERTIGO“. Eine Koproduktion von Overhead Project mit dem Ringlokschuppen Ruhr.
Mijin Kim in der Produktion „CIRCULAR VERTIGO“. Eine Koproduktion von Overhead Project mit dem Ringlokschuppen Ruhr.Foto: Stephan Glagla

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Immer zu zweit. Aber man muss sich darauf nicht festlegen. Eingespielt heißt nicht zusammengeklebt, und Spielregeln lassen sich verändern. Overhead Project hat sich verändert, grundlegend, und ist sich treu geblieben. Das ist eine der Besonderheiten der Kompanie. Sie fing 2008 an als Label zweier Akrobaten, Tim Behren und Florian Patschovsky; inzwischen leitet Tim Behren sie allein. Als das Duo 2009 nach Köln zog und schon gleich das Publikum bei einem kleinen Tanzfestival begeisterte – die Tanzkritikerin ebenso –, musste es sich zunächst als Einheit mit eigenem ­Namen erklären. Denn es trat auf mit einem zehn­minütigen Duett aus dem Gruppenstück „[How To Be] Almost There“ des Freiburger Ensembles HeadFeedHands. Overhead Project, als Produktionspartner benannt, hatte sich aus geografisch-strategischen Gründen in der Großstadt niedergelassen. Die Idee ging auf für die beiden, Hand-auf-Hand, Füße auf Händen und kopfüber. Mit diesem wunderbaren „How“-Duett fuhren Behren und Patschovsky etliche Preise ein: auf Tanzfestivals! Der zeitgenössische Tanz hat viele Spielarten, auch weil er sich gern Impulse und Elemente von überall pflückt, neugierig, selbstkritisch. Aber dass jemand dem anderen auf die Schultern steigt wie im Schlafwandel, als schaue er über die Wolken der eigenen Träume hinaus, oder sich nachtmahrartig auf die Knie des Sitzenden hockt, diese Meisterung der Balance in einer Landschaft umgekippter Stühle, das hatte man so noch nicht gesehen. Akrobatik ohne Zwischen­applaustriumph. Tanz einer Beziehung, die auf engstes Vertrauen baute.

Wie ein Signaturstück wirkte das Duett. Die Overheads stiegen in die Tanzwelt ein mit dem dort ungewöhnlichen Prinzip, sich Choreograf:innen dazuzuengagieren, damit diese Stücke mit ihnen und gewissen Prinzipien der Zirkuszunft erarbeiteten. Reut Shemesh, in Köln lebende Israelin, schuf so das dunkel märchenhafte, erschütternde Duo „The boy who cries wolf“ für und mit den beiden. Wieder ein Spiel mit dem Imaginären, mit Erscheinung. Diesmal mit Erinnerung an Verlust, zwei Körper beieinander, die sich bestens kannten und doch fremd waren.

Doch Overhead Project enterten die Tanzszene nicht als Outsider. Tanz war ja Teil ihres Studiums an der Ecole Supérieure des Arts du Cirque in Brüssel (ESAC), wo sie sich kennenlernten und als Partnerakrobaten zusammenfanden. Sie bietet, neben dem Centre ­National des Arts du Cirque (CNAC) im französischen Chalons en Champagne, in Europa die angesehenste Ausbildung im Nouveau Cirque.

Neuer Zirkus. In Deutschland muss sich das Genre noch erklären. Doch seit einigen Jahren tut sich was, nicht zuletzt, weil sich Gruppen wie Overhead Project dafür einsetzen, mit ihren Performances oder auch mit der Gründung einer Initiative Neuer Zirkus, schließlich eines Bundesverbands Zeitgenössischer Zirkus und der Etablierung von Kreationsstrukturen und Festivals. Aber wie kamen die zwei jungen Männer nach Brüssel?

Von Anfang an und anders

Ein kurzes Loblied auf die Kinder -und Jugendzirkusse. Behren und Patschovsky fingen so an. Der eine in ­Tübingen, der andere in Heidelberg. Er mochte am Zirkus das Bewegen, sagt Tim Behren heute, und die Auftritte. Bühne! Außerdem durfte er umstandslos auch bei der Seilspringakrobatik mitmachen, als einziger Junge unter lauter Mädchen. Eine offene Atmosphäre. Aber, erzählt er, ein bisschen komisch wurde er in der Schule angesehen: Du machst Zirkus? Sogar zum Beruf wollte er das machen. Von dem, was in Brüssel gelehrt und gezeigt wird, war er fasziniert. ­Allerdings merkte er schnell, dass eine Karriere „als Rädchen in einer riesigen Entertainment-Maschine“, wie sie gewisse weltweit agierende Zirkusunternehmen seien, nichts für ihn wäre. Er sah sich immer schon auch als Choreograf, als Kreator, „und ich mag es, wenn Zirkus irgendwie nahe ist, wenn man die Blicke sieht, wenn man in die Augen schauen kann“.

Die Nähe

Als dann Tim Behren und Florian Patschovsky 2015 ihre erste abendfüllende Arbeit für Overhead Project inszenierten, entstand „Carnival of the Body“. Sie hatten eine Doku über Wrestling auf Arte gesehen. Das war ein Impuls. Der gespielte Größenwahn, das Kampftheater, die ruppigen Duelle, grelles Licht, vom Bombast zur banalen Banane in der Pause: Das ergab eine vielschichtige Performance, auch über Männerbilder.

Menschenbilder, das ist eine der Grundlagen beim Nachdenken über Zirkus im Rahmen der Zirkusdramaturgie, erläutert Tim Behren, der sich einige Jahre später am CNAC in Frankreich in Dramaturgie Circassienne spezialisierte. Sie reflektiere die Ursprünge des Zirkus, seine Traditionen, die herkömmlichen Formen, die ja heute parallel existieren zu den Formen des Neuen (seit den 1970er Jahren) und des ab 1996 sogenannten Zeitgenössischen Zirkus. Das Vorführen, mittels Steigerung, wie ein Mensch ein Objekt, ein Tier oder seinen Körper beherrscht, die Virtuosität als Wert, die Rollen von Frauen und Männern: Was zu Stereo­typen geworden ist, stellt im Grunde erst der Zeitgenössische Zirkus infrage und baut in diesem Bewusstsein andere Bilder. Verteilt die Rollen neu. Hinterfragt das körperliche Können. Geht anders, experimenteller mit Zeit und Raum um. Spielt mit visuellen und musikalischen Dramaturgien. Nimmt sich politische Themen vor. Dies alles jedenfalls ist bei Overhead Project der Fall. „Was kommunizieren wir eigentlich?“, so die selbstkritische und aufmunternde Frage, die Behren sich stellt.

Wer sind wir?

Auch die Kompanie hat sich intern verändert. Eine ­große Veränderung war, als Florian Patschovsky, der ab 2018 eigene Wege als Performer ging, aus der Kom­panie ausstieg. Im gegenseitigen Einvernehmen, nach zehn Jahren mit acht gemeinsam entwickelten Arbeiten. Das gelinge nicht jedem Akrobatenduo in der ­Zirkuswelt, merkt Behren an. Er arbeite seitdem umso enger mit dem langjährigen künstlerischen Kernteam zusammen, dem Berliner Komponisten Simon Bauer und der Brüsseler Lichtdesignerin Charlotte Ducousso sowie weiteren Tänzer:innen, Akrobat:innen, auch Philosoph:innen und Dramaturg:innen. Das Austauschen von Perspektiven, Lernen voneinander, Recherchieren und Experimentieren – so entwickelte er seine erste Stücketrilogie „Geometrie und Politik“. Den Sitzanordnungen bestimmter parlamentarischer Systeme entsprechend, kamen dabei eine im Rund organisierte, eine mit gegenüberliegenden Bänken und eine frontal präsentierte Performance heraus: „Surround“, „My Body is Your Body“ und „What is left“.

Was übrig bleibt

Die Choreografien selber spielten dann nicht Demokratie oder Despotie, sondern fanden ihre je eigen­tümlichen Wirkweisen von räumlichen Anordnungen und Relationen, handelten also auch von Macht, von Kraft, von Metamorphosen, Haltungen, Schwüngen, Gängen. Und immer wieder: von Blicken. In „Surround“ kam 2017 noch die Bewegung des Publikums hinzu, das zeitweise die Spielfläche querte, hin und her, über der ein schweres Ding kreiselte und pendelte. Das war das Pauschenpferd, von der Decke hängend, seines Standes enthoben. In der Luft.

Aus diesem gezähmten, doch bedrohlichen Hundertkilo-Objekt wurde 2021 in „Circular Vertigo“ ein Partner. Mijin Kim, bei Overhead Project von der Tänzerin zur Tanzakrobatin geworden, geht behutsamer mit ihm um, berührt, lauscht, sitzt, hängt daran. Fliegt mit ihm. Anders als im Tanz agiert man im Zirkus ja meistens mit Objekten (siehe dazu Behrens Artikel in VOICES). Oder die Beziehung, die präsentiert wird, ist die von Mensch zu Mensch, aber mit strikt zugewiesenen Funktionen. Solche Hierarchien aufzulösen oder statt einseitiger Manipulation ein Abwechseln von Dominanz einzuführen, grundiert auch von Recherchen in der Philosophie: Dies ist Behren ein Anliegen, auch für seine neue Trilogie, die mit „Circular Vertigo“ begann: „Mensch, Hyperobjekt und Transformation“.

Den zeitgenössischen Tanz transformiert der Zirkus auch hiermit: der Vergrößerung des Aktionsraums in die Luft. In die Höhe. Kippen zwei aufeinander stehende Personen aus der Vertikale ein wenig nach vorn oder hinten oder kreiseln, ohne zu stürzen, packt ­dieses Momentum die Zuschauenden stärker, körperlicher, als es ein einzelner Stehender täte. Damit spielt etwa „What is left“ (2021). Diese Art des fast unmittelbaren Kontakts oder gar die Einbeziehung des Publikums prägen die Stücke von Overhead Project.

Zu den vielen Anerkennungen, die Overhead Project bekommen hat, zählt die Auswahl zum TANZPAKT-Projekt des von Tim Behren 2019 in Köln gegründeten und geleiteten CircusDanceFestivals, aber auch die mit 15 000 Euro dotierte George-Tabori-Auszeichnung 2022 des Fonds Darstellende Künste. Tatsächlich arbeite er am liebsten in der freien Szene, sagt Tim Behren. Auch an vier Stadttheatern haben er und Patschovsky Auftragsstücke geschaffen, unter ganz anderen Produktionsbedingungen und größerem Zeitdruck.
Behren gibt sich und dem Team für neue Overhead-Stücke ein- bis eineinhalb Jahre, „fast ein Luxus“, doch im Vergleich zu internationalen Zirkusproduktionen kurz, sagt er. „Das Suchen ist ein großer Teil in den ­Arbeitsprozessen, das Interesse am Nicht-Wissen oder Doch-nicht-Wissen, sich zu trauen, das auszuhalten, irgendwo zu landen, wo man es nicht für möglich ­gehalten hätte.“­

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