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Der Riss im Bild
Der Intendant des Schauspiels Leipzig, Enrico Lübbe, über Theater als gesellschaftliche Selbstverständigung und die Spur der Wut im Gespräch
von Enrico Lübbe und Gunnar Decker
Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)
Assoziationen: Akteure Schauspiel Leipzig

Herr Lübbe, das Schauspiel Leipzig hat die aktuelle Spielzeit sehr grundsätzlich als gesellschaftliche Selbstverständigung angelegt, man denkt fast an Brechts Forderung einer „großen Aussprache“. Wer sind wir, woher kommen wir, wohin wollen wir? Mit der Adaption von zwei großen Prosavorlagen, Peter Richters „89/90“ in der Regie von Claudia Bauer und Lutz Seilers „Kruso“ in der Regie von Armin Petras, eröffneten sie vergangenen Herbst die Spielzeit. Hinzu kommt nun in Ihrer Regie das Doppelprojekt von Aischylos’ „Persern“ und „Die Maßnahme“ von Bert Brecht und Hanns Eisler. Das klingt nach kompakter Geschichtsstunde. Ist das nicht selbst für die „Heldenstadt“, als die Christoph Hein Leipzig eine historische Sekunde lang erblickte, eine Überforderung?
Es ist ja kein Frontalunterricht! Und wir wollten auch nicht bloß DDR-Geschichten erzählen, sondern fragen von der Gegenwart aus: Wie ist es gekommen, dass diese Gesellschaft so wurde, wie sie heute ist?
So zerrissen?
Genau. Was man auch an den großen Kontroversen, Entscheidungen und Wahlen der vergangenen Monate merkt, die Europa und die Welt bestimmt haben und die oft nahezu fünfzig zu fünfzig ausfielen. Weswegen uns diese Thematik auch nächste Spielzeit weiter beschäftigen wird. Die Spuren und Fragen, die wir dabei verfolgen, erreichen aber auch sehr verschiedene Zuschauerschichten. Wir merken das am Publikum, das sich in den letzten vier Jahren sehr verändert hat. Der Altersdurchschnitt liegt bei etwa 38 Jahren, das ist sehr jung. Sehr viele Besucher kommen zum Beispiel aus Connewitz, Schleußig, der Südvorstadt oder Plagwitz, einem vormaligen Arbeiterbezirk, heute ein Studentenund Künstlerviertel. In Leipzig gibt es unter anderem die Hochschule für Grafik und Buchkunst, die Universität, die Hochschule für Musik und Theater – das sehr junge Publikum von dort zeigt dann auch eine besondere Aufmerksamkeit für Elemente von bildender Kunst auf der Bühne. Ähnlich sind die Verstärkungseffekte durch die Nähe zum Gewandhaus. Es gibt sehr verschiedene kulturelle Milieus in Leipzig und die spielen eine große Rolle für die Art, wie wir hier Theater machen können.
Wie muss man sich angesichts dieser kompakten Geschichtsfragen die Reaktionen eines – allein altersmäßig – doch sehr disparaten Publikums vorstellen?
Wenn wir „89/90“ von Richter spielen, wirkt das auf Zwanzigjährige nicht selten wie das „Opa erzählt vom Krieg“ in unserer Generation. Das ist für sie sehr weit weg. Und die älteren, die Überfünfzigjährigen, zucken oft nur mit den Schultern, weil das, was Richter in seinem Roman verhandelt, damals außerhalb ihres Blickfeldes lag. Viele haben gar nicht mitbekommen, was in der Wendezeit bei den 14- bis 18-Jährigen – das ist auch meine Generation – los war. Die ältere Generation fühlt sich eher von Seilers „Kruso“ angesprochen. Hier spiegeln sich ihre Bedrängnisse und Sehnsüchte wider, wie Weggehen oder Dableiben, Mitmachen für die Karriere oder oppositionell sein, dafür zum Außenseiter werden und sich auf Hiddensee als Tellerwäscher durchschlagen. Überhaupt diese Melancholie der Vorwendezeit, dieses fortwährende Verlassenwerden von Freunden und Arbeitskollegen, während man selbst völlig verunsichert ist, wie – und wo – man weiterleben soll.
So ging es mir auch, wobei es mir ein Rätsel ist, dass das Buch trotz Seilers hochartistischer Sprache so erfolgreich wurde. Aber die Perspektive der 16-Jährigen auf die Wende ist tatsächlich bis jetzt zu kurz gekommen, mir fällt als gleichrangig nur Clemens Meyers „Als wir träumten“ ein, dieser trotzige Klageruf einer vergessenen Generation.
Dabei sind das die heute Vierzigjährigen! Wie denken und empfinden sie, wie prägt sie diese Zeit heute in ihrem Selbstverständnis? Das wollten wir herausfinden.
Die Altersdiagnose stimmt, auch ich gehörte damals zu denen, die unmittelbar nach der Wende meinten, mit sich erst einmal genug zu tun zu haben. So ging es allen ab Mitte zwanzig, die sich beruflich und als bundesrepublikanische Neu-Staatsbürger erst einmal umorientieren mussten. Dass die Wende-Utopie so traumlos endete, das war auch unser eigenes Versagen – etwas, das uns die wenige Jahre Jüngeren dann bereits wieder als Opportunismus vorwarfen.
Diese Jugendlichen sahen ihre Eltern, die vielleicht bis eben zur DDR-Elite gehörten, moralisch diskreditiert und oft arbeitslos, registrierten überall um sich herum die Wendementalität bloß noch als doppelt feigen Opportunismus (innerhalb eines Jahres, mit kurzer Unterbrechung, vom Ja-Sager wieder zum Ja-Sager, bloß nun unter gegensätzlichem Vorzeichen). Das ließ sie auf Autoritäten aller Art sehr verächtlich blicken, auch mit Ekel. Ich habe das als Jugendlicher in Schwerin selbst erlebt. Da gab es einerseits die große Freiheit, die Anarchie des Übergangs von der einen zur anderen Staatsform mit großartigen, bis dahin unvorstellbaren Dingen, die mit Selber-Machen und Selber-Können zu tun hatten, aber eben auch ungeheuer viel Gewalt in dieser Jugendkultur.
Aber beides bemerkten die Erwachsenen nicht, auch die Schule nicht – oder wollte man ganz einfach bei aller eigenen Unsicherheit und Existenzangst nicht auch noch mit den Problemen Minderjähriger zu tun haben?
Tatsächlich wollte man oft auch nichts bemerken, darum ignorierte man das. Die Generation von Peter Richter traf die Wende völlig ungeschützt. Davon erzählt der Abend mit aller polarisierenden Wucht.
Was waren Ihre ersten Bilder aus dem Westen?
Das erste prägende Westbild waren im November 1989 Scharen von Ost-Parkas, die sich vor einem Sexshop in Lübeck drängten. Das wirkte schon ziemlich entfesselt.
Gewiss auch etwas billig, wenn man eben noch meinte, eine Revolution gemacht zu haben! Aber vielleicht haben wir auch einfach ein zu pathetisches Bild von geschichtlichen Umwälzungen? Der 89er Herbst hat im Vergleich zu anderen gewaltsamen Triebentladungen von Massen in der Geschichte doch etwas überaus schnell nüchtern Gewordenes. Nicht bei allen, aber der Mehrheit, die sich mit der schnellen D-Mark begnügte. Eine Minderheit versuchte, in neuen Nischen ihren Lebenstraum unter den anderen Bedingungen zu verwirklichen – etwa eine eigene Zeitung zu machen, eine, wie man sie selbst immer schon lesen wollte. Aber die Massenkultur ging über solche idealistischen Minderheitenprojekte gleichgültig hinweg. Hat das nicht auch immer noch nachwirkende Folgen auf das geschichtliche Selbstverständnis der verschiedenen Generationen?
Ja, darum die notwendige Spurensuche, die sich durch unser Programm zieht. Richter fragt, das finde ich wichtig, auch vor dem Hintergrund von Pegida und AfD, nach dieser Wendegeneration, die ihre Wut vielleicht immer noch mit sich trägt, ohne dass ihre Erfahrungen bislang einen Ausdruck fanden. Welches Erbe an Gewalterfahrung haben wir mitgenommen? Und in welchen Extremen äußert sich das?
Kann man sich aus dem Griff der Geschichte befreien, wird man ihr gegenüber jemals frei? Da ist Brecht/Eislers „Die Maßnahme“ durchaus eine Schocktherapie für alle kommunikationsselig auf Konsens und soziale Gerechtigkeit gestimmten Irgendwie-Sozialdemokraten von heute – also die Mehrheitsgesellschaft. Hier wird mit aller Militanz von Ideologie die Machtfrage gestellt, tritt ein ebenso rituell wie sinnlos geopferter „Genosse“ auf – allerdings ohne als einzelner Mensch wirklich vorzukommen.
„Die Maßnahme“ trägt man als in der DDR Sozialisierter gleich mehrfach mit sich. Dieses „Lehrstück“ war ja ein Mythos, weil es nicht aufgeführt wurde. Für die RAF war „Die Maßnahme“ übrigens eine Art Bibel, die Rechtfertigung des Terrors als höhere Notwendigkeit. So konnte man wohl nur in Gegenden denken, in die Stalins Schatten nicht reichte. Aber hier im Osten trifft diese durchexerzierte reine Lehre des Kommunismus immer noch auf eine besondere, erlebte Erfahrung. Jegliches Mitgefühl in „Die Maßnahme“ gilt als eine Versuchung, die dem Feind nützt, also ist Mitgefühl mit leidenden Menschen im Zweifelsfalle schon Verrat an der Partei. Es ist dieses „Die Partei ist mehr als die Summe der einzelnen Genossen, sie ist gottgleich, darum hat sie immer recht“. Oder wie es in Brechts „An die Nachgeborenen heißt“: „Wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein.“ Dafür gibt die Bühne von Etienne Pluss das prägende Bild vor: halb undurchdringliche Mauer, halb Altar, auf dem Menschen geopfert werden.
Ich frage mich immer, spricht Brecht hier bewusst das Ungeheuerliche aus, setzt er darauf, dass man erschreckt auffährt aus dem sicheren Gefühl, dennoch für die gute Sache zu stehen, oder exerziert er das selber ideologisch durch als Notwendigkeit der Geschichte, die nun mal grausam war und es auch bleiben wird?
Über Ziel-Mittel-Dialektik ist ja im Leninismus viel geredet worden. Ich persönlich empfinde „Die Maßnahme“ nicht als Infragestellung, weder von Ziel noch Mittel. Und womit sie arbeitet, ist eine Faszinationskraft, eine Ästhetik, die eine machtvolle Bewegung ausstrahlt. Eine materielle Gewalt, die selber Geschichte macht und mit starken Symbolen arbeitet, siehe den „Kontrollchor“, der selbst im Dunkeln bleibt, aber das Publikum wie zum Verhör mit großen Strahlern blendet.
Gehört das nicht auch zur „Ästhetik des Schreckens“, von der Ernst Jünger in anderem Zusammenhang, dem des Krieges, sprach?
Gewalt, die für viele Menschen nichts als Leid bringt, sieht in bestimmter Beleuchtung und aus großer Entfernung eben auch schön aus, damit muss man rechnen. Wir wollten die hermetische Inszenierung der Macht bei Brecht/Eisler nicht kommentierend auflösen, das wäre uns zu einfach vorgekommen. Deshalb die Videoanimationen von fettFilm, um die Künstlichkeit, das Abstrakte der Gewalt ins Bild zu bringen. Auch das Akustische war dabei wichtig, etwa der Beifall des Kontrollchores, den das Neue Deutschland früher in seiner Parteitagsberichterstattung als „lange anhaltend“ vermerkt hätte – und der dann immer wie auf ein unhörbares Kommando hin abbricht.
Eine gespenstische Inszenierung. „Die Maßnahme“ wirkt ja wie eine Art theatralische Mobilmachung, die schon totalen Charakter erlangt: Sie lässt keinen Widerspruch zu, nimmt auf suggestive Weise gefangen. Da scheint es tatsächlich nur ein Dafür oder Dagegen zu geben, Freund oder Feind. Und dann kommt in dem Abend der Schnitt ...
... und man fällt in ein Loch!
War das beabsichtigt, dass man mit dem Beginn der „Perser“ erst einmal Mühe hat, zu sich zu kommen, sich auf eine ganz andere Betriebstemperatur einzulassen, langsamer, dunkler, monologischer?
Der Schnitt war gewollt. Jetzt muss sich jeder wieder selbst orientieren, liegt die Last auf jedem allein. Die „Perser“ und ihre Hybris sind gleichsam der Kommentar zu „Die Maßnahme“. Die siegreichen Phasen von Geschichte scheinen immer nur Zwischenspiele des Scheiterns zu sein.
Was in Ihrer so erfolgreichen vierten Spielzeit als Intendant des Schauspiels Leipzig als gewiss nicht unwichtige Facette immer wieder ins Auge fällt, sind die Bühnenbilder, die eine enorme künstlerische Präsenz haben, von Irina Schicketanz in „Baal“ bis zu Etienne Pluss in „Die Maßnahme/Die Perser“, Hugo Gretler in „Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen“, Andreas Auerbach in „Metropolis“ und „89/90“, Olaf Altmann in „Kruso“ oder Ramallah Aubrecht in „Peer Gynt“. Und nun ein neuer Name für die neue Spielzeit: Titus Schade. Was ist da zu erwarten?
Titus Schade ist Maler und ein Schüler von Neo Rauch, der in seinen Bildern eine ganz eigene Ästhetik entwickelt hat. Wir haben ihn in der Galerie Eigen + Art entdeckt, mit seinen Arbeiten wie „Die große Hochwarte“, Radierungen wie „Die kalte Stadt“ und Ausstellungen wie „Schwarzes Licht“. Er hat eine seltsame Art, die man vielleicht als hyperrealistisch und hyperartifiziell zugleich beschreiben kann. Das hat etwas sehr Reflektiertes und Collagenhaftes, was uns dazu gebracht hat, ihn zu fragen, ob er sich nicht vorstellen kann, das Bühnenbild zu Elfriede Jelineks „Wolken.Heim“ für uns zu machen. Das wird eines von drei Stücken sein, mit denen wir die Diskothek, unsere neue Zweitspielstätte, zur neuen Spielzeit eröffnen werden.
Schades Bilder sind monochromatische Stadtlandschaften, aber ohne Menschen. Wirkt das nicht fast schon post-apokalyptisch?
Genau die darin liegende Provokation, die ja aus einer großen Melancholie zu erwachsen scheint, hat uns gereizt. Man sieht Fachwerkhäuser bis in kleinste Detail abgebildet – und fragt sich, wo sind die Bewohner? Die Frage gehört unbedingt auf die Bühne. //