Theater der Zeit

thema II: theaterland baden-württemberg

Eine Frage der Haltung

Konfrontation oder Integration? Pforzheim und Mannheim zeigen, wie Theater und Migration zusammenpassen

von Björn Hayer

Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)

Assoziationen: Baden-Württemberg Theater Pforzheim

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In einigen Städten brodelt es gewaltig. Während die einen den Migrationszustrom als eine Bereicherung für das gesellschaftliche Miteinander preisen, rufen andere den Untergang des Abendlandes aus. Und die Schauspielhäuser? Die sollen oder dürfen moderieren und den Dialog fördern. Leichter gesagt als getan. Wie man dieser hehren Aufgabe gerecht werden kann, zeigen zwei Theater, deren soziales Biotop kaum bunter sein könnte: Pforzheim und Mannheim, beides Städte mit hohem Migrantenanteil und nicht minder hohen Zustimmungswerten für die AfD.

In der badischen Goldstadt Pforzheim setzt man ganz auf Konfrontation und die Flucht nach vorn. Gelebt wird Integration, indem man die Geflüchteten direkt auf die Bühne holt. Zum Beispiel in Thomas Münstermanns Inszenierung von Brechts „Die Dreigroschenoper“, wo die „Neuen“ als Teil der Bettlerplatte das tragische Schicksal gesellschaftlich Ausgegrenzter verkörpern, das gewissermaßen auch ihr eigenes ist. Oder in dem Stück „Newcomer – Geschichten vom flüchtigen Leben“ unter der Regie von Antonia Schirmeister: Geprägt von der faschistischen Ideologie, sind die Protagonisten dieses Dramas, größtenteils dargestellt von jungen Geflüchteten, zu seelenlosen Gewaltmaschinen degeneriert. Es ist eine Parabel auf die Radikalisierung junger Menschen, wobei der Text bewusst mit einer Umkehrfigur spielt, insofern die Migranten als häufige Opfer von Diskriminierung nun zu Tätern werden – nicht, weil sie böse sind, sondern weil sie nicht aufgefangen werden. Obgleich die Handlung in den dreißiger Jahren spielt, wirft sie zentrale Fragen unserer Zeit auf: Was bringen jene, die hier Zuflucht suchen, mit? Was lastet auf ihren Schultern und welche Verantwortung haben wir als Wertegemeinschaft? Die Aussage ist klar: Nur indem wir uns auch der Geschichte der Ankommenden stellen, wird es möglich sein, deren Verhalten und Beweggründe zu verstehen.

Wer allzu schnell Abschiebungen und Grenzschließungen fordert, lässt den beschwerlichen Weg der Geflüchteten außer Acht. Daher stellt das Stadttheater Pforzheim auch in der kommenden Spielzeit mit „Die Frauen von Troja“ von Euripides (in einer neueren Fassung nach Walter Jens) den „Ur-Krieg aller Kriege, den Trojanischen Krieg, aus Sicht der besiegten Frauen ins Zentrum, wobei die sieben Jahre Krieg in Syrien, die Kriege in der arabischen Welt, miterzählt werden“, so der künftige Schauspieldirektor Hannes Hametner. Aber auch in der aktuellen Saison widmet sich das Haus mit Dietrich Wagners „Die Bürgermeisterin von Lampedusa“ auf differenzierte Weise dem Umgang mit den Schutzsuchenden. Auf drei Schauspielerinnen verteilt, gelingt es Hametner als Regisseur, die unterschiedlichen Seelen in der Brust der Politikerin angesichts des ungebremsten Zustroms zum Ausdruck zu bringen: Wut und Empathie wirken in dieser Frau, die wie keine andere mit dem Leid von Krieg und Verfolgung konfrontiert ist.

Einen physischen Eindruck jener tausendfachen Odysseen über das Mittelmeer oder den Balkan vermittelt das Ballett „Heimat- welten“, das Guido Markowitz bereits 2015 in der Schlosskirche aufführte. Spätestens seit Elfriede Jelineks fulminanter Gesellschaftsanklage „Die Schutzbefohlenen“ über die Asylsuchenden in der Wiener Votivkirche kommt den Sakralräumen im Kontext der Migrationskrise eine besondere Bedeutung zu. Sie repräsentieren Asyl und sind das Symbol der Mahnung an einen sich stets auf christliche Werte berufenden Westen. In Pforzheim stellt das Gotteshaus einen Ort der Offenbarung dar. Tragen die Tänzer in einem Moment noch ihre Partnerinnen auf dem Rücken, kann im nächsten schon wieder alles kippen. Dann wird der Altar zur Kampfarena für Duelle und Körper, deren spastisches Zucken von völligem Kontrollverlust zeugt. Das Trauma der Gewalt hat sich den Leibern augenscheinlich eingeschrieben.

Ja, das Pforzheimer Theater, eine kulturelle Phalanx inmitten eines sozialen Schmelztiegels, gibt der anonymen Einwanderung ein Gesicht und zeigt selbstbewusst die menschlichen Tragödien dahinter auf, die wir allzu oft verdrängen. Es profiliert sich als Begegnungsstätte des Verstehens und der Annäherung, wie auch der Intendant Thomas Münstermann verdeutlicht: „Ich wünsche mir unser Theater als ‚soziale Skulptur‘ und somit als interaktiven Treffpunkt für alle, die in der Stadt leben, unabhängig von Ethnien und sozialen Schichten. In einer Stadt wie Pforzheim, in der die AfD auf dem Vormarsch ist, positioniert sich das Theater mit solchen Beiträgen, die für ein vorurteilsfreies Miteinander innerhalb der Gesellschaft werben, notwendigerweise auch in politischer Hinsicht markant.“

Nicht minder souverän geht auch das Mannheimer Nationaltheater den Zuwanderungsdiskurs an. Dass es in der exzellenten Uraufführung von Peter Michalziks Groteske „Spiel ohne Grenzen“ (2016) dabei vor allem unsere Sehgewohnheiten und Urteilskraft auf die Probe stellt, erweist sich als ein großer Gewinn. In einem Quizshowsetting werden die Zuschauer, angeleitet durch einen smarten Moderator, Fragen rund um andere Kulturen, Kriminalität, Vorurteile und Immigration ausgesetzt. Munter wird eine Kochinsel in den Vordergrund der Bühne gerückt. Allerlei Ingredienzen der „Gerüchteküche“ kommen derweil in den Topf. Stimmt etwa, was wir aus dem Off hören? Sollen wir wirklich glauben, dass der Träger des regionalen AfD-Direktmandats in einem Interview die These vertritt, mit der Abschaffung des „Gender-Wahns“ könnten die Haushalte konsolidiert werden? Und wie glaubwürdig sind jene Aufnahmen eines Migranten, welcher in einem Video die Pracht des verrufenen Stadtteils Schönau preist. Ist das alles wahr oder doch nur Trug? „X-Faktor“ auf Kurpfälzisch: bahnbrechend lustig und in der Wirkung nachhaltig. Denn der Regisseur und Intendant Burkhard C. Kosminski versetzt uns raffiniert in eine metareflexive Position. Wir denken somit über die Art unseres Denkens nach.

Solcherlei Konzeptionen sind fern von jeglichem Mitleidstheater. Vielmehr spiegeln sie die Janusköpfigkeit der saturierten westlichen Gesellschaft. Wie demzufolge Anteilnahme an persönlichen Schicksalen Geflüchteter und Skepsis gegenüber bis Ablehnung von Migranten als anonymer Masse Hand in Hand gehen, zeigt auch die Kombination von Arthur Millers „Ein Blick von der Brücke“ und dem Stück „Mannheim Arrival“ (ebenfalls von Peter Michalzik). Während in Ersterem die Genese von Fremdenfeindlichkeit aufgearbeitet wird, fordert Letztgenanntes, das die individuellen Geschichten von Vertriebenen auf Basis von etwa dreißig Gesprächen zwischen dem Autor und den Betroffenen zum Thema hat, unsere Empathie ein. Erschienen ist zu diesem Projekt übrigens ein hervorragendes Dokumentationsbooklet mit einem mindestens ebenso hervorragenden Essay aus der Feder von Lukas Bärfuss: Der Gesellschaft sei ein optimistischer Zukunftsentwurf abhandengekommen. Während die einen in der Gegenwart verharren, üben sich die anderen in Kulturpessimismus, so der Schweizer Autor.

Ferner bieten Pforzheim und Mannheim diverse Workshops und Diskussionsforen an. Hier der „Interkulturelle Salon“ mit Formaten wie „Ehrenamt in der Flüchtlingsarbeit“, dort die „Kulturschule“ mit Projekten wie „Theater der Bilder“ oder „Pop & Weltmusik als verbindende Sprache“ – Aktionen, die gut ankommen und den demokratischen Geist fördern. Eine Situation, bei der alle profitieren.

Wirklich alle? Spielt man bei aller Begeisterung und Hochachtung für das lobenswerte Engagement der Bühnenstätten zum Schluss einmal den advocatus diaboli, so fällt doch mehr oder weniger eine Asymmetrie ins Auge. Schnell ist in den Inszenierungen und Projekten ein Feind benannt. Was beide Schauspielhäuser eint, ist ein gemeinsames Dagegenhalten. Für Toleranz und gegen Ausgrenzung, völlig klar. Aber genügt das? Werden mit dieser Form des politischen Theaters nicht jene Milieus in ihrer Haltung bestätigt, die ohnehin eher das Ideal einer pluralistischen Lebenskultur im Sinn haben? Wem nützt – wie gesagt: provokativ gefragt – eine Dramatik des Gutmenschentums, wenn es dazu führt, dass die „Guten“ sich noch besser fühlen und die „Schlechten“, die Zweifler, außen vor bleiben? Letzteren macht man es leicht, sich als die Geprellten in Szene zu setzen. Dass man ihnen wieder nicht zugehört habe und sie erneut Opfer des Establishments geworden seien, werden sie wahrscheinlich sagen. Wirklich die Risse in der Tektonik einer Gesellschaft zu kitten bedeutet, sich an die Bruchstellen zu begeben und auch den Kontakt zu all jenen zu suchen, die dem öffentlichen Diskurs abhandengekommen sind. So leicht sollte man es den Kritikern nicht machen. Insofern ist Theater gut beraten, wenn es auch die Kontroverse noch etwas entschlossener und vielleicht noch ein wenig offener sucht. Dann gelangt Idealismus im Übrigen auch zu seinem Wert, weil er kämpft und nicht nur besungen wird. Pforzheim und Mannheim haben dafür eine wichtige Voraussetzung geschaffen, nämlich eine selbstbewusste Haltung, auch wenn es stürmisch wird. //

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