Theater der Zeit

I. Schauspielen

Schauspielen

von Bernd Stegemann

Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)

Assoziationen: Schauspiel

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„Auf der Bühne verwirrte mich die ungewöhnliche feierliche Stille und Ordnung. Als ich aus dem Dunkeln der Kulisse in das volle Rampenlicht hinaustrat, wurde ich benommen und blind. Das Licht so grell, daß es wie ein Vorhang zwischen mir und dem Zuschauerraum hing. Ich fühlte mich vor der Menge geschützt. Doch bald hatte sich das Auge an das Licht gewöhnt, und nun wurde die Schwärze des Zuschauerraums noch furchtbarer, sein Sog noch stärker. Mir war, als wäre das Theater erfüllt, als richteten sich unzählige Augenpaare auf mich, bewaffnet mit Operngläsern. Sie schienen ihr Opfer zu durchbohren, und ich fühlte mich als Sklave dieser tausendköpfigen Menge, wurde untertänig, prinzipienlos und war zu jedem Kompromiß bereit. Ich hätte mein Innerstes nach außen kehren, ich hätte schmeicheln und der Menge viel mehr geben mögen, als ich zu geben hatte. Doch mein Innerstes war so leer wie noch nie.“1

Mit diesem Erlebnis aus dem Leben eines Schauspielschülers beginnen Stanislawskis umfangreiche Ausführungen seines „Systems“. Am Beginn der schauspielerischen Erfahrung steht das Lampenfieber. Der Moment, in dem der Mensch bemerkt, dass er beobachtet wird, versetzt ihn in eine existentielle Situation. Das Erwachen aus dem Schlummer der Naivität ist von einem Schreck begleitet. Auch die Stufen der Selbstbewusstwerdung des Kindes sind von diesem Erschrecken begleitet. Das spielende Kind realisiert noch nicht, dass sein Spielen von den Eltern wachsam verfolgt wird. Es taucht in die vorgestellte Realität des Spiels ein und vergisst sein Dasein in der anderen Welt, in der es ein Kind ist, das Teil einer menschlichen Gesellschaft werden soll. In der Versunkenheit des Spiels erfüllen sich verschiedene der Entwicklung förderliche Prozesse. Es werden motorische, psychische und kommunikative Fähigkeiten geübt und zugleich macht ein ursprünglich mimetisches Verhalten die Umwelt des Spiels zum Gegenstand desselben. Was den Tag über erlebt und beobachtet wird, kann zum |17|Thema eines Spiels werden. Im Sandkasten werden Straßen und Städte gebaut oder Sandkuchen gebacken. Emotionale Verhaltensweisen werden wiederholt und in der Realität des Spiels erkundet. Durch die spielerische und mimetische Weltaneignung bildet sich die menschliche Seele, und das Individuum erlernt seine sozialen Kompetenzen. Zu diesen gehören ab einer bestimmten Entwicklungsstufe die Hemmung und die Scham.

Versucht man sich zu erinnern, wann man das erste Mal Scham empfunden hat, werden Situationen wieder lebendig, in denen man plötzlich eines doppelten Bewusstseins gewahr wurde. Eben empfand man sich noch in naiver Deckung zwischen dem eigenen Bewusstsein und Tun, plötzlich wird einem bewusst, dass das eigene Tun, der eigene Körper, die eigene Stimme Gegenstände der Beobachtung und Bewertung durch andere Menschen sind. Meistens ist diese Erfahrung eingebettet in eine Situation, in der die Umwelt ein Verhalten des Kindes beurteilt und dadurch eine Differenz zwischen der kindlichen Selbstwahrnehmung und der Fremdwahrnehmung durch andere Menschen eröffnet. Im positiven Fall dient die Fremdbeobachtung der Stärkung des Selbstbewusstseins: Die Kuchen im Sandkasten sind aber besonders gelungen. Im erzieherischen Fall wird eine Differenz eröffnet, in der das Kind als anders und defizitär dargestellt wird. Es muss erzogen werden: Andere Kinder spielen in der Sonne Fußball, während du im Schatten Sandkuchen backst. In der plötzlichen Erkenntnis, dass schattiges Sandkuchenbacken ein weniger gelungenes Leben verspricht, als im Sonnenschein mit anderen Kindern hinter einem Ball herzurennen, entsteht die Scham über das eigene Tun und damit über die eigene Existenz. Jeder weitere Verbleib im Sandkasten benötigt nun eine zusätzliche Energie. Das ursprünglich naive Spiel wird zur Demonstration eines Verhaltens, das sich in Opposition – Ich backe weiter – oder in Opportunismus – Ok, ich renne auch hinter dem Ball her – zur elterlichen Erziehung befindet. Deren Bemühungen bestehen in diesem Beispiel in einer Sorge um die Konkurrenzfähigkeit des Kindes. Damit folgen sie einem Bild des Menschseins, das diesen als durch Rivalitäten bestimmtes Lebewesen charakterisiert. Der Mensch ist von Natur aus ein „leeres Gefäß“, das in der Sozialisation mit Wünschen, Gedanken und Bewertungen „gefüllt“ wird. Kommt ein anderes Kind in den Sandkasten und sieht die bunten Förmchen |18|und das Glück des Kindes, das mit diesen spielt, will es sofort genau diese Förmchen auch haben. Bis vor wenigen Augenblicken wusste es von solchen Spielmöglichkeiten noch nichts. Der Anblick des offensichtlich gelungenen Daseins im Spiel macht die dazu nötigen Spielsachen zum Zentrum des eigenen Begehrens. Ein klarer Wille formuliert sich: Ich will auch glücklich sein und dazu benötige ich genau diese Förmchen. René Girard nennt dieses Verhalten in seiner Anthropologie2 die Aneignungsmimesis. Die Gegenstände in der Welt bekommen ihren Wert für die Menschen dadurch, wie begehrenswert sie sind. Je mehr Menschen etwas als wertvoll erachten, desto wertvoller wird es für den Einzelnen. Die Eskalation der Konflikte ist also vorprogrammiert. Spiele, wie etwa Fußball, bilden dieses Verhalten ab und geben ihm eine Form, in der die Rivalität geübt und zugleich ohne blutige Folgen ausagiert werden kann. Der Streit um die Förmchen im Sandkasten hat hingegen keine spielerische Komponente, sondern ist tiefer Ernst und kann von den beteiligten Kindern nur unter lautem Gebrüll ausgetragen werden. Hier gibt es keine Lösung, sondern nur Sieger und Verlierer. Denn je schwieriger das begehrte Objekt zu erlangen ist, desto mehr wird es begehrt. Das Mosaik der ungezählten Scham erzeugenden Momente und die Erfahrung, dass das eigene Wollen sozial bedingt ist und von sozialen Begrenzungen diszipliniert wird, bildet das Gerüst menschlichen Verhaltens.

II.

„Es gibt eine ursprüngliche schauspielerische Attitüde, eine schöpferische gestaltende Reaktion gewisser Naturen gegenüber den Eindrücken des Lebens.“3 Spätestens seit dem Beginn der Neuzeit, also seit dem 17. Jahrhundert, wird der Menschen als doppeltes Wesen beschrieben: Er hat einen Körper, aber auch einen Geist. Mit dem Körper ist er an die Naturgesetze gebunden. Er kann krank werden und sterben. Die Seele hingegen steht jenseits dieser harten Gesetze. Sie ist keinem Naturgesetz unterworfen. Ihre Gedanken und Träume tragen sie in Sekunden zu allen Orten der Welt und |19|darüber hinaus. Sie ist zumindest nach christlichem Glauben unsterblich und von Gott gegeben. Ist der Mensch einmal als ein so gedoppeltes Wesen gedacht, entstehen in der Folge weitere Aufspaltungen. Der Mensch ist ein Naturwesen und hat zugleich ein soziales Wesen. Hat er Hunger und Durst, ist er dennoch in der Lage, die knappe Nahrung zu teilen. Er ist Teil einer bestimmten Familie, hat eine Stellung in der Welt und verfügt über mehr oder weniger reale Macht, symbolische Macht und intellektuelle Macht. All diese Eigenschaften gründen sich auf bestimmten Verhaltensweisen und produzieren wieder bestimmte Verhaltensweisen.

Der Priester übt sich in Askese, Gebet und Seelsorge. Sein Habitus wird bescheiden, konzentriert und gottgefällig sein. Dieser Habitus folgt aus der Wahl eines bestimmten Lebens und der dafür notwendigen Ausbildung. Zugleich ist dieser Habitus aber als gesellschaftliche Rolle unabhängig vom einzelnen Priester in der Welt vorhanden. Er bietet eine Form, in der die langjährigen Übungen des Glaubens gerinnen können, und bietet zugleich ein äußeres Korsett, in dem die individuellen Zweifel und Besonderheiten einen Halt und eine Erkennbarkeit erfahren. Der Habitus des Priesters ist aus der einen Perspektive, der des gläubigen Menschen, keine Rolle, sondern der Ausdruck eines Amtes. Aus der Perspektive einer soziologischen – also ungläubigen – Analyse ist dieses Amt eine gesellschaftliche Rolle, die in zwei Richtungen zugleich wirkt. Sie gibt dem Träger dieser Rolle ein Modell, an dem er sein Verhalten und Handeln orientieren kann, und sie gibt ihm eine erkennbare Stellung in der Welt, die der Orientierung seiner Umwelt dient. Um das Amt des Priesters als öffentliche Rolle bekleiden zu können, braucht es also einen schauspielerischen Anteil. Selbst im Kloster unter Gleichgläubigen könnte nicht auf jede Form der Darstellung des Glaubens verzichtet werden, die notwendig ist, wenn dieser in einer Öffentlichkeit auftreten soll.

Anhand der Frage, ob die Feier der Messe ein ritueller Akt, ein Glaubensakt oder eine Theatervorstellung ist, lässt sich das Verhältnis von Funktion und Schauspiel beispielhaft zeigen. Die Messe ist ein ritueller Akt, da sie nach einem wiederkehrenden Ablauf vollzogen wird. Jede einzelne Handlung in diesem Ablauf ist festgelegt und ruht auf einer langen Tradition, die den einzelnen Handlungen eine Bedeutung verleiht. Im Zentrum der katholischen |20|Messe steht die Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi. Sie ist damit eine rituelle Wiederholung des ersten Abendmahls, das Jesus vor seiner Verhaftung mit seinen Jüngern gefeiert hat. Zugleich ist die Feier der Messe ein Glaubensakt, da die dort verhandelten Behauptungen nur erlebbar sind, wenn der Besucher der Messe gläubig und damit Teil der christlichen Gemeinschaft ist. Dem Ritual könnte man ohne Glauben folgen und durch das Erlebnis des gemeinsamen Singens, der räumlichen Überwältigung, der Predigt des Priesters etc. eine gemeinschaftsstiftende Erfahrung machen. Als heilige Messe ist sie jedoch nur erlebbar, wenn sie von einem Gläubigen mitvollzogen wird. Dieser erlebt das Ritual als Vollzug seines Glaubens, der sich darin immer wieder neu bekräftigt und seiner Zugehörigkeit zur Gemeinde versichert. Nur wer an die tatsächliche Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi glaubt, erlebt das Ritual als heilige Messe. Diese Kraft des Glaubens an eine unmöglich erscheinende Veränderung ist der Anteil, den der Gläubige an dem Gelingen der Messe erbringen muss. Völlig anders ist das Erlebnis der Messe als Theatervorstellung. Hier wird ein zuvor aufgeschriebener Text in einer bestimmten Art und Weise inszeniert und von einer Schar von Darstellern aufgeführt. Da die Zuschauer Teil der Aufführung sind, handelt es sich um die Inszenierungsform des Happenings. Der Priester spielt die Rolle des die Messe feiernden Priesters mehr oder weniger überzeugend. Seine Stimme ist voll und sein Gesang einnehmend, oder er wirkt unsicher, seine Gesten einstudiert und seine Stimme zittert vor Aufregung. Eine gute oder schlechte, eine mitreißende oder eine langweilende Messe sind die Folge. Der Vorschlag an einen unsicher und gehemmt wirkenden Priester, doch Schauspielunterricht zu nehmen, wäre plausibel und unverschämt zugleich.4

Beobachten wir in einem normalen Berliner Café eine Bedienung und vergleichen diese Beobachtungen dann mit dem Verhalten eines Kellners in einem teuren Restaurant, so fallen bemerkenswerte Unterschiede auf: Beide vollziehen im Prinzip die gleichen Tätigkeiten, sie nehmen eine Bestellung |21|entgegen und bringen nach mehr oder weniger langer Zeit die gewünschten Speisen und Getränke. In dem einen Fall werden die Wünsche beiläufig, teilweise nachlässig oder durch vertrautes Duzen entgegengenommen. Im andern Fall wird der Auswahl der Speisen und Getränke mit einer ernsten, bedeutsamen Miene gelauscht und als persönliche Wünsche des Gastes ohne Notizblock memoriert. Welcher der beiden Kellner schauspielert mehr? Auf den ersten Blick würde man sagen: der Kellner im Nobelrestaurant. Doch bei näherer Betrachtung fällt eine weitere Unterscheidung auf: Beide Kellner haben eine Rolle eingenommen, die sie ihrer Umgebung und ihrem Selbstbild gemäß gestalten. Die Rolle des noblen Kellners ist durch eine Vielzahl von Verhaltensweisen wie Berufskleidung, Körperhaltung, Abläufe des Servierens etc. vorgegeben. Diesen Anweisungen gemäß erlernt der Mensch seine Rolle, in der er sich dann mehr oder weniger souverän bewegen kann. Im Fall der lässigen Cafébedienung hingegen gibt es praktisch keine Vorgaben. Jeder Aspirant muss aus der Beobachtung seiner Kollegen und nach seinem eigenen Verständnis sinnvoller Arbeitsabläufe sein Auftreten zurechtlegen. Er hat somit keinen Schutz durch ein vorgegebenes Rollenverhalten. Er steht mit seiner privaten Person für das Gelingen seiner Tätigkeit ein. Seine Verstellung in der Rolle des Kellners ist weniger formal, sondern resultiert aus seinem persönlichen Bedürfnis, eine Form für sein privates Verhalten in dieser öffentlichen Situation zu finden. Er spielt im Alltagstheater eine „naturalistische“ Variante des Kellners, während der durch Konventionen und Regeln angeleitete eine „formale“ Variante des Kellners spielt.

Über die Fähigkeit, das eigene Verhalten der Situation gemäß zu verändern, verfügen die Menschen als soziale Wesen in großem Maße. Diese Fähigkeit zur mimetischen Tätigkeit äußert sich in zwei unterschiedlichen Bereichen menschlichen Verhaltens. Zum einen wird eine Tätigkeit durch Nachahmung erlernt. So wird z. B. das Brotbacken durch die Ausführung der notwendigen Handgriffe erlernt. Der andere Lebensbereich neben diesen herstellenden Tätigkeiten umfasst die menschlichen Handlungen. Wer in ein Geschäft geht, um ein Brot zu erbetteln, muss seinen Wunsch formulieren. Ob er dann auch sein Ziel erreicht, ist prinzipiell ungewiss. Der Verkäufer könnte ihn missverstehen, ein Feind des Bettelns sein oder sich |22|als Menschenfreund zeigen. Das Handeln hat, da es auf das Verhalten anderer Menschen bezogen ist, unendliche Variationen und unvorhersehbare Konsequenzen. Im Alltag wird diese Kontingenz – es gibt viele Möglichkeiten, aber keine Notwendigkeit – durch Verabredungen begrenzt. Beim Bäcker kann man sehr wahrscheinlich Brot kaufen, aber nur manchmal erbetteln. Doch bleibt jede Handlung im Gegensatz zur herstellenden Tätigkeit von der offenen Zukunft abhängig, die das erwartete Verhalten des Anderen bedeutet. Wird nun mimetisch dieses Handeln erlernt, werden die Darstellung und der Ausdruck des Wollens zum Gegenstand der Wiederholung. In dieser mimetischen Tätigkeit kommt zur reinen Wiederholung der Handlung eine bewusste Veränderung hinzu. Wer das erste Mal in einer ungewohnten Umgebung versucht, eine eben beobachtete Handlung zu wiederholen, vollzieht diese konzentrierter, deutlicher und darum theatralischer als der alltäglich so Handelnde.

Nun gibt es innerhalb dieses Spielraums der Nachahmung Variationen, die das Gespieltsein selbst in den Blick rücken. Ist ein Kellner in dem studentischen Café z. B. besonders devot und zuvorkommend, ironisiert er dadurch das aus seiner Sicht unnatürliche Verhältnis zwischen konsumierenden Studenten und bedienenden Studenten. Er spielt eine Persiflage des Kellners. Sein Schauspielen bekommt einen subversiven Charakter, indem es im Vollzug der Handlung einen Kommentar zur Situation liefert. Im Alltagstheater reagieren die meisten Menschen sehr sensibel auf jede Art von Theatralisierung. Es gibt im gesellschaftlichen Miteinander Regeln und Maßstäbe für ein rollenadäquates Verhalten, die genau beobachtet und durch zahlreiche Sanktionen durchgesetzt werden. Der seine Rolle ironisierende Kellner hat sicherlich wenig Zukunft in dem Café. Sein Versuch, die Distanz zwischen sich als Privatperson und dem Zwang der dienenden Rolle möglichst groß zu machen, wird als Aggression empfunden. Trotz der Tatsache, dass wir wissen und erkennen, dass die meisten Verhaltensweisen in unserer Umwelt Teil einer sozialen Rolle sind, reagiert unsere Wahrnehmung auf jede Variante und Nuance des schauspielerischen Umgangs damit. Wir unterscheiden offensichtlich zwischen dem schauspielerischen Vermögen, das erforderlich ist, um die unterschiedlichen sozialen Rollen einnehmen zu können, und einem schauspielerischen Vermögen, das |23|genau diese Rollen thematisiert. Die perfekte Darstellung des professionellen Kellners wird im Alltag als unsichtbare schauspielerische Leistung goutiert, während die schauspielerische Demonstration der eigenen Person in der Rolle des Kellners als Zumutung empfunden wird. Die verstellte Stimme, ein besonderer Gang, eine seltsame Körperhaltung, ein verzerrtes Gesicht, ein ungewöhnliches Sprechen und ungezählte andere Möglichkeiten können aus einer „normalen“ Handlung einen theatralischen Vorgang machen. Im Alltagstheater werden diese Mittel häufig eingesetzt, um einer Verhaltensaufforderung in einer Situation humorvoll oder kritisch auszuweichen. Ist ein Zusammentreffen besonders förmlich und steif, können aufgerissene Augen und ein leichtes „uiuiui“ die Situation als steif und förmlich rahmen. Man unterläuft hiermit die Verhaltenszumutung und löst entweder ein entspanntes Lachen oder pikierte Blicke aus. Die Alltagstheatralisierungen US-amerikanischer Filmschauspieler sind inzwischen zur Form geronnene Verhaltensweisen, die gerne im Alltag kopiert werden. Sie sind leicht nachzuahmen, da sie eine hohe Expressivität mit einfachen Emotionen verbinden. Das schauspielerische Vermögen hierfür entspricht eher der Nachahmung einer vorgegebenen Rolle als der Erfindung eines persönlichen Ausdrucks. Die Kodifiziertheit der Gesten und Betonungen lässt sie fast wie ein Ausdrucksvokabular erscheinen, das schnell verfügbar ist und gerne angenommen wird. Die Sprechweise deutscher Synchronstimmen hat zu dieser Kanonisierung wesentlich beigetragen. Das Missverständnis in der schauspielerischen Tätigkeit liegt häufig in der Verwechslung dieser beiden Ausdrucksarten – Wiederholung des kodierten Ausdrucksvokabulars und Fähigkeit zum individuellen Ausdruck –, die dem Alltagstheater entlehnt sind.

III.

Die alltagstheatralischen Ausdrucksmöglichkeiten haben ihre Entsprechung in der schauspielerischen Tätigkeit, die sich innerhalb des Theaters und der Theatergeschichte entwickelt hat. Gegenstand der Mimesis können neben den Varianten des Alltagstheaters auch traditionelle Darstellungsformen sein. Der tänzerische Ausdruck z. B. beim Karneval, der hinter der Verkleidung der Maske eine Enthemmung und Entgrenzung der individuellen Rollen |24|in eine anonyme Gemeinschaft ermöglicht, hat seinen entfernten Vorläufer im rituellen Maskenspiel, aus dem die griechische Tragödie hervorgegangen ist. Die Darstellung von Figuren in der Tragödie, die in einer ganzkörperlichen Verkleidung und Maske mit tänzerischen, gesanglichen und rhetorischen Ausdrucksmitteln gespielt wurden, erinnern von Ferne an das priesterliche Amt, der im reichen Gewand die Sätze, Bewegungen und Melodien aus einer langen Tradition vergegenwärtigt. Die Lust an der Nachahmung und karikaturhaften Überzeichnung, wie sie im Alltagstheater häufig vorkommt, findet in der Commedia dell’Arte eine Theaterform, die sich virtuos dieser Fähigkeiten bedient. Die Figuren der Commedia sind dem Alltag entlehnt. Ihre wesentlichen Züge sind in den Ausdruck einer Maske, einer Körperhaltung und einem Verhaltensvokabular zu einer lebendigen Kunstfigur konzentriert. Diese Figur gehört ihrem Spieler, der sie nach den Anforderungen der Dramaturgie der Handlung agieren lassen kann. Der Text, der hierfür verwendet wird, ist weitestgehend improvisiert. Der Schauspieler ist als „Besitzer“ seiner Figur autonomer Spieler und Autor der Theatervorstellung. Meistens beginnt ein junger Schauspieler seine Lehre bei einem älteren Kollegen, der ihn in die Techniken, Tricks und Geheimnisse seiner Figur einweiht. Im Laufe seines Lebens perfektioniert er die Darstellungsmöglichkeiten seiner Figur, die sich dann in jeder Situation ihrer eigenen Logik gemäß pointiert und richtig verhalten kann. Dieses Verständnis von Schauspiel unterscheidet sich prinzipiell vom Bild des Schauspielers, wie es in der Renaissance entsteht. Parallel zu Shakespeares dramatischer Neuerfindung des Theaters formt sich ein neues Bild des Schauspielers, der sich als Menschendarsteller begreift. Hervorgegangen aus einer Melange von Gauklern, Commedia-Spielern und Jahrmarktsschreiern, bildet sich die Fähigkeit, mithilfe eines geschriebenen Textes komplexe menschliche Verhaltensweisen darstellen zu können. Die Neuerungen dieser Entwicklung sind grundlegend und bestimmen bis in unsere Gegenwart das Bild des Schauspielers. Der Schauspieler ist nicht mehr Vertreter nur einer Figur, über die er die künstlerische Hoheit hat, sondern er wird zum „leeren Gefäß“, das immer wieder neue Rollen darstellen können muss. Zugleich verliert er die Möglichkeit, den Text seiner Figur selbst erfinden zu können. Seine Figur existiert nicht mehr durch seine Anwesenheit auf der Bühne, |25|sondern sie existiert zuerst durch den geschriebenen Text eines Autors. Die Erfindung der Figur und der schauspielerischen Mittel, die zu ihrer Darstellung notwendig sind, haben ihren Ursprung nicht mehr in der Phantasie und Erfahrung des Schauspielers, sondern werden nun vom geschriebenen Rollentext inspiriert und erzwungen. Es entsteht die Notwendigkeit, eine Theatervorstellung durch Proben vorzubereiten. Der Rollentext muss auswendig gelernt werden, und es gebraucht Zeit, um die verschiedenen Situationen, in denen die Figur handeln und erleben muss, zu begreifen und zu üben. Die schauspielerischen Fähigkeiten verlagern sich – im Vergleich zum Commedia-Spieler oder zum antiken rituellen Maskenspiel – von der lebenslangen Perfektionierung einer Darstellungstechnik hin zu einem permanenten Neuerfinden menschlicher Verhaltensweisen und Ausdrucksmöglichkeiten.

Mit der Renaissance beginnt im Theater die Zeit, in der der Schauspieler ein professioneller Menschendarsteller wird. Da sich das Bild des Menschen in den Epochen sehr stark voneinander unterscheidet, sind die schauspielerischen Mittel seiner Darstellung einem steten Wandel unterworfen. Mit dem sich wandelnden Menschenbild verändern sich zugleich Mode und Geschmack, denen dann auch das Theater unterworfen ist. Die Vorlieben und Abneigungen, in welchem schauspielerischen Gewand die menschlichen Tragödien und Komödien den Zuschauern gefallen, sind so veränderlich wie alles andere in der Welt. Und dennoch bleibt ein Ereignis für das Theater und das Schauspiel wesentlich. Menschen spielen vor Menschen, um diese zu berühren, zu begeistern, zu belehren und zu unterhalten. Dieser Wunsch unterscheidet das Schauspiel von anderen öffentlichen Ereignissen wie etwa einer Sportveranstaltung, einer politischen Rede oder einer heiligen Messe.

Die Absicht, spielerisch die Aufmerksamkeit einer Ansammlung von Menschen auf sich zu lenken und möglichst lange bei sich zu behalten, stellt die Lust und die Herausforderung des Schauspiels dar und seine größte Schwierigkeit. Aus dem Alltag ist das Phänomen bekannt, dass ein plötzliches Ereignis die Aufmerksamkeit einer Menschengruppe bannt. Im grausamen Fall ist es ein Unfall, im komischen ein seltsames Missgeschick. Die schauspielerische Wiederholung einer solchen Plötzlichkeit stellt den Darsteller |26|vor große Probleme. Der Weg, der durch die Erfindung des Schauspielers als Menschendarsteller eingeschlagen wurde, führt jedoch ins Zentrum dieses Problems. Da das Publikum durch die Vorführung menschlichen Verhaltens fasziniert werden soll, muss die Vorführung dieses Verhaltens durch genau die Qualität auffallen, die menschliches Verhalten auszeichnet: seine Unberechenbarkeit. Eine plötzliche große Geste kann innerhalb einer Gruppe zu einem Verstummen der Gespräche führen. Alle Blicke richten sich auf denjenigen, der durch diese Geste auf sich aufmerksam gemacht hat. In diesem Moment ist die theatralische Situation etabliert. Alles, was nun folgt, wird unter der Behauptung wahrgenommen, dass der Eine vor den Vielen etwas zeigen wird. Nun beginnt die Arbeit des Theaters, das geweckte Interesse lebendig zu halten. In der Commedia-Spielweise wird dieses durch eine Komik der Voraussehbarkeit erzeugt: Eine am Boden liegende Bananenschale wird ihre Wirkung tun, und die Vorfreude darauf ist schon der halbe Genuss. In der Menschendarstellung seit der Renaissance ist das Interesse an der Menschen-Spielweise ungleich komplizierter. Die Verfeinerung in der Wahrnehmung menschlichen Ausdrucksvermögens ist Folge und Herausforderung der Darstellung des Menschen auf der Bühne. So wie wir im Alltag ein feines Gespür für die Glaubwürdigkeit des Verhaltens unseres Gegenübers haben, so reagieren die Zuschauer auf die beiden Ebenen des Schauspiels höchst sensibel. Sie nehmen den spielerischen Anteil ebenso wie den darstellerischen Anteil daran als Genuss oder als Ärgernis wahr. Das gelungene Schauspiel zeichnet sich durch eine verblüffende Auflösung des unlösbaren Widerspruchs aus, dass etwas absichtlich Gezeigtes wie unabsichtlich passiert wirkt. Das Ausrutschen auf der Bananenschale kann ebenso reales Ereignis werden wie die differenzierten Gefühle hinter der Vierten Wand in einer vorgestellten Situation. Beiden ist gemein, dass sie geübt und verabredet sind. Und beiden ist gemein, dass sie in der theatralischen Behauptung vor Zuschauern stattfinden. Und beide können gelingen oder als schlechtes Theater ausgebuht werden. Wie teuflisch dieses Verhältnis in der Seele des Menschen gestrickt ist, hat Heinrich von Kleist in seinem Aufsatz über das „Marionettentheater“ in ein Bild gefasst. Den Ausgang aus dem so beschriebenen Gefängnis des Narzissmus suchen die unterschiedlichen Schauspielmethoden in den ästhetischen Prämissen |27|ihrer jeweiligen Epochen. „Ich badete mich, erzählte ich, vor etwa drei Jahren, mit einem jungen Manne, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er mochte ohngefähr in seinem sechszehnten Jahre stehn, und nur ganz von fern ließen sich, von der Gunst der Frauen herbeigerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit erblicken. Es traf sich, daß wir gerade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf dem Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch eine Entdeckung er gemacht habe. In der Tat hatte ich, in ebendiesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiderte – er sähe wohl Geister! Er errötete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehen lassen, mißglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außerstand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: –

Von diesem Tag, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte.“5

Konstantin Stanislawski: „Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst“, in: Stanislawski Reader, hg. von Bernd Stegemann, Berlin 2007, S. 23.

2

René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt am Main 1992.

3

Georg Simmel: „Zur Philosophie des Schauspielers“, in: ders.: Das individuelle Gesetz, Frankfurt am Main 1987, S. 79 (Quelle 3).

4

Ein Dokument genau eines solchen Versuchs ist Thomas Kabel: Handbuch Liturgische Präsenz. Zur praktischen Inszenierung des Gottesdienstes, Gütersloh 2003. Hier werden die Gesten, Gänge und Abläufe der einzelnen liturgischen Abschnitte eines protestantischen Gottesdienstes dargestellt. Der Ablauf eines Gottesdienstes wird wie ein Regiebuch mit praktischen Hilfen abgebildet. Ob es sich um eine Messe handelt, wenn diese Aufzeichnungen von einem Schauspieler genau nachgespielt werden, bleibt ein theologisches Problem.

5

Heinrich von Kleist: „Über das Marionettentheater“, in: ders.: Erzählungen, Frankfurt am Main 1986 S. 478 f.

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