Multifunktional vom Scheitel bis zur Sohle
Erinnerungen von Helferei-Urgestein Ulrich Gerster
von Ulrich Gerster
Erschienen in: Zwischen Zwingli und Zukunft – Die Helferei in Zürich (09/2022)
Assoziationen: Schweiz
Der Kern des Hauses an der Kirchgasse 13 ist seine Vielfältigkeit, vom Scheitel bis zur Sohle ist das Gebäude multifunktional: Es ist Wohnhaus, Haus der Kirche und Quartiertreffpunkt, ist Ort der Begegnung und Restaurant. Und natürlich Kulturhaus mit Veranstaltungen, mit Theater, Performances, Literatur, Kino, Podiumsdiskussionen, Musik und Ausstellungen. Für all das gibt es fünf Räume, die jeder mieten kann. Der grösste, die Kapelle, hat Platz für bis zu 250 Personen, der kleinste, das Anna-Reinhart-Zimmer, nur für sechs.
Die Funktionen sind ineinander verflochten und vermischt und auch mal in Konflikt zueinander. Unten im Foyer treffe ich auf Nachbarn. Andere suchen einen Raum, den ihre Firma für ein Seminar am Nachmittag gemietet hat. Gleichzeitig bastelt jemand mit Martin Wigger an einer Installation und bereitet seine Veranstaltung am Abend vor. Und dazwischen ist Daniel Hotz, der die Raumvermietungen organisiert. Und ich bin da als Bewohner und wohlwollender Zuschauer, der denkt: «Schön, läuft!»
Die Idee des Architekten und die Realität
Im Umbau von 2012 bis 2014 hat man versucht, die Funktionen ein wenig auseinander zu beineln. Die Idee ist, dass die Bewohner:innen durch das Gartentor gehen, um durch den Innenhof, an Briefkästen und Klingeln vorbei, zu ihren Wohnungen zu kommen. Diesen Zugang gab es vorher nicht, wir sind alle durch dasselbe Treppenhaus. So viel zur Theorie. Praktisch gehe ich nach unten hinaus, durchs Foyer auf die Kirchgasse, wenn ich Richtung Limmat will. Und wenn ich Richtung Kunsthaus möchte, gehe ich oben raus, durch den Hof.
Klar, bei den Baumassnahmen spielte auch der Lärmschutz eine Rolle. Aber ich mag die Offenheit des Hauses, und mich stört es überhaupt nicht, wenn es etwas lauter ist – das gehört dazu, wenn man mitten in der Stadt lebt. Mich stört es auch nicht, dass ich im Treppenhaus auf Leute treffe, die nicht hier wohnen. Oder dass jemand an unserer Tür klingelt, der nicht uns sucht, sondern einen Raum, der gemietet wurde. Die Helferei ist ein
tolles Haus, wunderschön gelegen in der Mitte von Zürich. Wir sehen in den Pfarrgarten, auf die Kirchgasse, auf das Grossmünster – wo sollte man sonst wohnen wollen in Zürich?
Von Anfang an: Haus mit Programm
Natürlich habe ich die Helferei von Anfang an als Haus mit Programm kennengelernt. Wir sind 1992 eingezogen, direkt aus unseren Studentenwohnungen. Das ist furchtbar lange her. Aber schon damals hatte das Haus mit Irene Gysel und Ines Buhofer eine programmatische Leitung. Seither hat sich viel verändert, aber nicht plötzlich und ruckartig, sondern schleichend. Denn die Idee, wie man das Haus mit soziokultureller Arbeit prägen will, hat sich natürlich entwickelt im Lauf der Zeit. Sie ist stark abhängig von den Menschen, die das Programm leiten. Es ist ein Unterschied, ob sie von der Theologie herkommen, von der Ethnologie oder vom Theater. Jeder brachte eigene Netzwerke mit, ein eigenes Publikum und eigene Formen.
Es kommt zu einem Wechselspiel zwischen der Leitung, der Struktur, dem Haus und der Umgebung – das ergibt immer neu ein Konglomerat und Gesamtbild. Ungefähr 1997 kam ich in die damals begleitende Kulturkommission, die auch bei einem Wechsel die Leitung auswählte. Als Mitglied der Kirchenkreiskommission und dort zuständig für das Ressort Kultur und Bildung kümmere ich mich immer noch um die Helferei. Wir haben von der Kirchgemeinde der Stadt Zürich den Auftrag, das kirchliche Leben in den vier ehemaligen Kirchgemeinden – Prediger- und St. Peter-Kirche, Gross- und Fraumünster – zu organisieren. Die Kommission trägt die Helferei in dieser Funktion mit und versucht die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass das Haus sich entfalten kann. Das hat bisher immer geklappt. Denn das Haus ist tolerant, es verträgt vieles. Und die Kirchenkreiskommission auch. Man muss der Leitung den Rücken freihalten, dann funktioniert fast alles.
Immer Diskussionen, wie kirchlich Kulturarbeit sein soll
Bisher hatte noch jede neue Leitung eine relativ lange Experimentierphase, bis sie gemerkt hat, was wie in diesem Haus und in Zürich funktioniert und wie sich das Haus im kulturellen Gefüge positioniert, umstellt von all den anderen kulturellen Institutionen. Richtige Diskussionen gab es nur einmal um einen Dritte-Welt-Laden im Erdgeschoss, weil sich die Betreiber:innen politisch sehr deutlich positionierten und äusserten. Das würde heute wohl anders ablaufen. Und es gab immer die Frage, ob die Kulturarbeit in der Helferei einen kirchlichen Aspekt haben muss. Vielleicht war dieser weniger virulent, als Ines Buhofer und Irene Gysel das Haus leiteten: die eine Theologin und die andere später Kirchenrätin.
Die verschiedenen Leitungen
Die Zeit unter der gemeinsamen Leitung von Ines Buhofer und Irene Gysel bis 1995, die Ines Buhofer bis 1999 allein fortgesetzt hat, war theologisch geprägt. Ihre grossen Themen waren Armut, Frauenbewegung und Feministische Theologie und deren Blick auf die Geschichte. Es gibt immer Veranstaltungen, die man nicht mehr vergisst. Eine der letzten grossen von Ines Buhofer war Teil der Ausstellung «Wenn Bettelmönche bauen», die war auf vier Stationen in Zürich verteilt. Die Station in der Helferei nutzte den ganzen öffentlichen Teil des Hauses und behandelte die Beginen und andere Frauengemeinschaften des Spätmittelalters. Die Geschichte der Frauen in spätmittelalterlichen Orden und Kirchen ploppt seither immer wieder in der Stadt auf. In den Kontext gehören auch die erste Publikation zu Zürichs letzter Fraumünster-Äbtissin Katharina von Zimmern, an der Irene Gysel beteiligt war, und Arbeiten zu Zwinglis Ehefrau Anna Reinhart.
Cornelia Vogelsanger, Religions- und Kulturethnologin, gab dem Haus bis 2008 ein neugieriges Profil. Sie hat viel über ostasiatische Räume und Kunst gearbeitet. Bei ihr gab es auch klassische Podien und Gespräche, aber in Erinnerung blieben mir kleine, sehr interessante Formate, die mir Neues offenbarten. Zum Beispiel kam regelmässig jedes oder jedes zweite Jahr ein Schamane, der ein Pfeifenritual zelebriert hat. Cornelia Vogelsangers Interesse war ethnologisch, nicht esoterisch zu verstehen. Sie näherte sich über Begegnung und Teilnahme dem Fremden, Unbekannten. Das Publikum wurde nicht zum Schamanismus bekehrt, vielmehr wurde ihm etwas nahegebracht, das aus einem anderen Kulturkreis stammt.
Dort, wo heute die Küche ist, war früher der Jugendraum. An der offenen Feuerstelle fanden Gespräche statt mit vielleicht zehn, zwölf Leuten. Dort hörte ich, ich schätze im Jahr 2000, zum ersten Mal den Begriff der «Festung Europa» und Überlegungen darüber, was es heissen würde, wenn ein europäisches Kriegsschiff das erste Flüchtlingsboot versenken würde. Das Thema ist heute längst im allgemeinen Bewusstsein angekommen, aber in meinem Bewusstsein war es damals sicherlich nicht. Cornelia Vogelsanger hat auch den Namenswechsel von «Helferei» in «Kulturhaus Helferei» veranlasst. Das hat das Profil des Hauses wesentlich geschärft und wirkt bis heute.
Andrea König war auch Ethnologin, sie kannte Cornelia Vogelsanger, aber das erfuhren wir erst später. Sie kam aber aus einer ganz anderen Ecke, hatte als ehemalige Delegierte des Roten Kreuzes und Fernsehjournalistin eher eine politisch-journalistische Sicht auf die Dinge. Ihr Programm konzentrierte sich auf sehr, sehr grosse Veranstaltungen, die manchmal an zwei Tagen zwei- oder sogar dreihundert Leute ins Haus brachten. Und die zum Beispiel das Thema Japan, Brasilien, Naher Osten oder Aktionen des Roten Kreuzes von mehreren Seiten her betrachteten. Man erfuhr viel über die Politik und die Gesellschaft Japans, konnte aber auch Sushi essen, wenn ich mich recht erinnere.
Ihr Wirken kulminierte in dem wohl grössten Aufreger, den wir hier in der Helferei je hatten: in der Foto-Wanderausstellung «Breaking the Silence». Die Organisation israelischer Veteran:innen berichtet anhand von Fotos, was die Soldat:innen im Armeedienst in der Zweiten Intifada in den besetzten Gebieten erlebt haben – freundlich ausgedrückt. Ein Tabubruch.
Da war die Hütte proppenvoll, zehn Tage lang. Bei der Eröffnung standen wir wie die Ölsardinen. Die Ausstellung wurde überall bekämpft, wo sie gezeigt wurde. Eine grosse Nummer mit dem entsprechend grossen politischen Getöse drum herum. Botschafter, die sich beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten beschwerten, warum die Helferei bei so etwas unterstützt werde, und Parlamentarier, die das EDA dazu aufforderten, sich von der Ausstellung zu distanzieren. Diese Preisklasse. Den Rest kann man sich vorstellen. Andere Veranstalter hatten abgesagt, weil sie sich daran nicht die Finger verbrennen wollten. Auch wir wussten natürlich, dass das ein heisses Eisen war, aber niemand kam auf die Idee zu sagen: «Das kommt nicht in Frage.» Auch Andrea König war stark genug, sie fand: «Genau das ist aber doch mal interessant.» Das war der Kulminationspunkt ihrer Tätigkeit, da kam alles zusammen. Ihre Stärke zeigte sich auch im Rahmenprogramm, in der Dichte der Diskussionen und Veranstaltungen.
Martin Wigger jetzt kommt ganz klar vom Theater, da hat er seine Netzwerke. Auch deswegen haben wir ihn gewählt. Wir wollten jemanden, der die Arbeit wie eine Intendanz aufzieht, jemand, der ein Haus programmatisch bespielen kann. Intendant:innen bringen Inhalte und Publikum zusammen – diese Idee gefiel uns. Martin Wigger ist etwas gelungen, was vorher viele versucht haben: Er hat Gäste, Mitarbeitende und Publikum deutlich verjüngt. Auch in der Helferei war das Publikum tendenziell überaltert und klassisch bildungsbürgerlich, teils kirchennah und dem Grossmünster verbunden, teils aus den umliegenden Quartieren. Martin Wigger hat über seine Netzwerke und über eine Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) relativ schnell junge Kulturschaffende und Studierende ins Haus gebracht. Die jungen Kunstschaffenden bringen ihre Kumpels mit – und plötzlich sind überall junge Leute. Überhaupt öffnet sich das Haus für Menschen und Kreise, die früher weniger beteiligt waren.
Gut, vielleicht vermisst jetzt jemand seinen Seniorennachmittag. Die finden immer noch in der Helferei statt, teilweise aber auch in anderen Häusern des Kirchenkreises. Denn weil es immer weniger Mitglieder gab und deshalb die Veranstaltungen immer schwächer besucht wurden, hat man 2019 die vier Pfarreien von Predigerkirche, Grossmünster, Fraumünster und St. Peter zum Kirchenkreis eins/Altstadt zusammengeschlossen.
Martin Wigger hat auch neue und experimentellere Formen gesucht. Er hat diese ganze soziokulturelle Arbeit – schreckliches Wort, aber das trifft es – partizipativer organisiert. Es geht jetzt mehr ums Mitmachen, weniger ums Zuschauen. Das prägt sicher Martin Wiggers Zeit hier.