6. Die „volkseigene Erfahrung“
von Wolfgang Engler
Erschienen in: Authentizität! – Von Exzentrikern, Dealern und Spielverderbern (03/2017)
Man kann umso unangestrengter ‚man selber‘ sein, je mehr man seiner Sache, seines Lebens sicher ist. Das war lange ein Oberschichtenprivileg, an Reichtum, vornehme Geburt gebunden. Die weitaus meisten lebten unter beschwerlichen Verhältnissen, von ihrer Hände Arbeit. Ihr Blick lag auf dem Hier und Jetzt; was hinter der nächsten Kurve lag, war schwer auszumachen. Als Lohnabhängiger eine sozial respektable, materiell halbwegs gesicherte Existenz führen – diese Rechnung ging für die Mehrheit erst im 20. Jahrhundert auf, in der Ära des ‚Teilhabekapitalismus‘. Aber selbst dann verzog sich der Schatten der Ungewissheit nie ganz und seit Jahrzehnten wächst er wieder.
Das war in den staatssozialistischen Gesellschaften Ost-Mitteleuropas grundlegend anders.46 Umfassender noch, unentrinnbarer zudem als in den Arbeitnehmergesellschaften des Westens bestimmte die Arbeit das Leben der Menschen. Geld war so wenig kapitalisierbar wie Grundbesitz, Aktien standen nicht zum Kauf, aus verzinsten oder ererbten Vermögen ließ sich in der Regel keine materielle Existenz ableiten und selbst die Ausnahmen unterlagen der Arbeitspflicht. Als einzig legitime Art der Daseinsführung begründete Erwerbsarbeit das soziale Sein der Menschen ökonomisch, rechtlich, kulturell. Ohne Stelle im Erwerbssystem keine anerkannte Position in der Gesellschaft; wer abseits stand oder davon ausgeschlossen wurde, trug die Konsequenzen ‚asozialen‘ Lebenswandels. Der Mensch war zur...