Theater der Zeit

II. Kostümbildnerinnen und Kostümbildner im Gespräch

Das Kleid an sich muss kein gutes Kostüm sein

Ein Gespräch mit Sophie Reble

von Sophie Reble

Erschienen in: Lektionen 6: Kostümbild (06/2016)

Assoziationen: Kostüm und Bühne UNI.T (Theatersaal, Universität der Künste Berlin)

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Du bist 1985 in Zürich geboren. Was war der Grund für dich, ans Theater zu gehen?

Ich habe immer über Mode nachgedacht, war aber auch von Literatur fasziniert, irgendwie war das die logische Konklusion, Texte mit Mode oder Objekten zu kombinieren. Ich glaube, entscheidend war wirklich das Zusammenbringen von Literatur und etwas Haptischem und Künstlerischem. Ich war auf einem Kunstgymnasium. Damals machte man in der Schweiz vor dem Abitur eine eigene Arbeit, die Maturarbeit. Man konnte selber wählen, was man machen will, und ich habe einen Kostümentwurf zu Der Bär von Tschechow erarbeitet. 

Wie kam das, warst du in einer Theatergruppe?

Ich war als Kind in einer Theatergruppe, was ich sehr mochte, und später war ich kurz in einer Theater AG in einem Gymnasium in Zürich, wo mir aber zu viele Leute waren. Das Theater in Zürich war damals extrem gut mit Marthaler und Schlingensief. Es war eine faszinierende Welt, weil es so eine warme, charismatische Familie war, eine Gruppe von Menschen, die zusammen etwas erreichen wollte.

Gab es am Schauspielhaus eine Gruppe für Jugendliche?

Unter Marthaler weiß ich das nicht. Als Matthias Hartmann nach Zürich kam, gab es das Modell eines Praktikumsjahres, das Orientierungsjahr. Das habe ich mitgemacht und es war nach der Schule meine erste Theatererfahrung. Es wurden sechs Leute ausgewählt und wir waren dann Kleindarsteller in Kindermärchen und konnten in verschiedenen Stücken hospitieren. Ich habe bei Jan Bosse und seiner Kostümbildnerin Kathrin Plath hospitiert, was extrem prägend war, weil die beiden sehr eng miteinander arbeiten und sie sehr stark ihr Ding macht. Es war eine wahnsinnig gute Erfahrung. Danach waren wir auch in einer Produktion von Schorsch Kamerun mit dabei. Da hat Tabea Braun die Kostüme gemacht, die ich auch toll finde. Es war ein sehr gutes Jahr, um einen wirklichen Einblick zu bekommen, weil wir jeden Tag im Theater waren und alles aufgesaugt haben.

Wurde dieses Orientierungsjahr in der Schule organisiert?

Nein, vom Jungen Schauspielhaus und Annette Raffalt. Ich glaube, sie haben das am Burgtheater in Wien auch weitergemacht. Eigentlich war es für junge Leute gedacht, die Schauspiel machen wollen, aber ich bin trotzdem hingegangen und meinte, ich wolle Kostüm machen.

Das ist natürlich ein phantastisches Programm, damit man einen Einstieg findet. 

Wir konnten guten und gestandenen Theaterleuten beim Arbeiten zuschauen und übernahmen die Organisation von Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche, haben Open-Stage-Abende und sogar eigene Projekte organisiert. Dazu standen wir auch auf der Bühne – für mich war es gut, auch diese Seite kennenzulernen. Im Rahmen des Jungen Schauspielhauses gab es Inszenierungen, wo ich selbst Kostüm machen konnte. Das Jahr war gut, um alle Winkel eines Hauses kennenzulernen.

Wie ging es dann weiter?

Danach habe ich über Tabea Braun Barbara Ehnes kennengelernt, die Ausstattungsleiterin an den Münchner Kammerspielen war. Die haben eine feste Kostümassistentin gesucht und Tabea meinte, dass ich nicht studieren muss, sondern dort assistieren soll. Ich habe dort zwei Assistenzen gemacht und Barbara Ehnes meinte dann, ich müsse in Berlin studieren. Die erste Prüfung, die ich machen konnte, war in Hamburg und fast zeitgleich bin ich mit Barbara zu einer Diplompräsentation an die UdK gegangen und habe mich mit Florence getroffen. Ich hätte in Hamburg anfangen können, aber Barbara Ehnes meinte, lieber Berlin.

Und warum hat sie gesagt, du musst nach Berlin gehen?

Ich glaube, sie meinte, dass es hier eine offenere Ausbildung gibt als in Hamburg. Vielleicht fehlt mir das Handwerkliche jetzt ein bisschen, aber ich war nicht am Nähen oder Schnittentwurf interessiert.

War es die richtige Entscheidung zu studieren und nicht nur Assistenzen zu machen? Ich glaube, es wäre beides gegangen. Ich habe vor dem Studium nie viel gezeichnet und während des Studiums musste ich einen Tag in der Woche zeichnen. Ich habe eine lockere Hand bekommen und habe keine Angst mehr davor, es ist zu einem Mittel geworden. Ich hatte ein Semester Zeit, mich mit einem Stück oder einem Stoff auseinanderzusetzen und bekam dann von Antje Kaiser als Dramaturgin inhaltlichen und theoretischen Input. Außerdem habe ich andere kennengelernt, die sich für das Gleiche interessieren. Es war schön zu merken, dass es andere gibt, die über dasselbe nachdenken. 

Hilft es beim Studium, wenn man schon viel Theatererfahrung hat?

Für mich war es sehr gut. Dieses Jahr am Schauspielhaus Zürich war wie ein theaterwissenschaftlicher Schnelllehrgang. Ich habe einen guten Überblick über das zeitgenössische Theater bekommen, weil dort sehr gute Leute waren. Ich habe jedes Stück gesehen und das war wie ein Lehrbuch. Im Studium konnte ich mir überlegen, was ich machen will.

Es hat also die eigene Position im Bereich Kostüm gestärkt, weil man Erfahrungen gemacht hat und die Abläufe kennt. Im Studium kann man auch mal einen Schritt zurücktreten und ganz anders über Theater nachdenken und überlegen, was man selber beisteuern will.

Ich wusste vorher schon, dass Kostüm allein nicht alles können muss, sondern ein Teil im System ist und nur in Verbindung mit dem Schauspieler, dem Licht, dem Raum und dem Text zu etwas wird. Es ist ein sehr wichtiger und schöner Teil, der aber erst in der Verbindung mit dem Rest zu etwas noch Schönerem und Größerem wird. Wenn man das nicht weiß, verheddert man sich in der Vorstellung, was das Kostüm alles machen muss, und man vergisst, dass ein Mensch darin steckt.

Ist das eine Gefahr beim Studium, dass man das vergisst?

Ich glaube schon. Dadurch entstehen manchmal Komplexe, weil man denkt, dass das Kostüm nicht als wichtig angesehen wird und man nur irgendetwas erfüllen oder beliefern muss. Das ist von der falschen Seite her gedacht, weil es im Gegenteil ganz viel unterstützen und machen, aber nicht alleine funktionieren kann und muss. Ich finde es schade, wenn man denkt, dass das Kostüm größer sein muss als der Rest. Ich glaube schon, dass es die Gefahr im Studium gibt, weil man im Kostüm denkt und damit in dem Moment auch alleine ist und sich dann ausbreitet.

Gab es bestimmte Unterrichtsformen, die du für dich neben dem Zeichnen wichtig fandest? Gab es während des Studiums Kooperationen, bei denen du das, was du kennengelernt hast, nämlich dass es nur in der Gemeinschaft funktioniert, ausprobieren konntest? Oder war es eher eine Auszeit, in der du dich auf dich konzentriert hast? 

Im allerersten Semester gab es die Bühnentage, wo jeder sein eigenes Ding auf der Bühne im UNI.T auslegen konnte. Das Kostüm war das Wichtigste, was auf der Bühne stand. Es war super, das mal zu sehen und zu machen. Danach waren die Semester für mich sehr gut, die eigentlich sehr trocken wirkten. Ein Semester haben wir den Menschenfeind durchgearbeitet und ein Semester Die Orestie. Da war man zwar auch alleine, aber wir hatten Antje Kaiser als Dramaturgin. Vielleicht bin ich auch ein Spezialfall, weil ich sehr früh angefangen habe, neben dem Studium mit Laurent Chétouane zu arbeiten und diesen trockenen Papierentwurf im Studium in Relation mit der praktischen Arbeit mit ihm gebracht habe und sich das wechselseitig bereichert hat. Für mich war es sehr wichtig, in den Semesterferien oder neben dem Studium immer wieder Projekte zu machen, die mich gezwungen haben, aus meiner Welt rauszugehen und in Kontakt zu treten. Es war aber auch wichtig, diese Zeit alleine zu haben, ohne Werkstätten, Haus und Team. Ich habe schlussendlich auch nur drei Jahre studiert und dann sehr viel gearbeitet und erst später mein Diplom gemacht. 

Ich möchte auf die Arbeit mit Laurent Chétouane zu sprechen kommen, weil er eine sehr eigene Art und Weise hat, zu inszenieren. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt auch in Hinblick auf das Kostüm. Wie kamt ihr zusammen?

Als ich in München assistiert habe, habe ich ein Stück von ihm gesehen, Schatten von Jon Fosse. Ich wusste nichts über ihn und seine Arbeit und habe es mir völlig unvoreingenommen und naiv angeschaut. Ich fand es unglaublich, was für eine Ruhe im Saal war und was die Inszenierung gleichzeitig für eine Aggression ausgelöst hat. Es gab eine Stille und das Publikum hat angefangen zu schreien. Die Schauspieler standen ruhig auf der Bühne und haben gesagt: „Ich muss jetzt gehen“, und das Publikum hat zurückgeschrien: „Geht jetzt endlich!“ Ich habe mich gefragt, wie so eine Stimmung eine solche Aggression auslösen kann und ich habe noch nie so tolle Kostüme gesehen wie in diesem Stück. Dadurch bin ich auf ihn aufmerksam geworden. Ein Freund von mir, der an der UdK Bühnenbild studiert hat, hatte bei ihm hospitiert. Laurent hat in der Zeit angefangen, mit Tänzern in sehr viel kleineren Produktionen zu arbeiten und er suchte dafür eine Kostümbildnerin. Mein Freund hat mich dann empfohlen. 

Was hat die Aggressionen der Zuschauer ausgelöst?

Im Stück wird wiederholt gesagt: „Ich muss jetzt gehen.“ Es gibt immer wieder die gleichen Sätze und die wurden verlangsamt gesprochen. Es wurde nichts gespielt oder repräsentiert. Es war das da, was da war. Das macht wohl aggressiv, wenn man sich nicht darauf einlassen kann. Bei mir hat es das Gegenteil bewirkt. Das war eines der ersten Male, wo ich nicht nervös im Theater saß, sondern beruhigt und mit viel Zeit, einfach zu schauen, zu hören, zu denken und zu fühlen. Da war nichts, was nicht hätte da sein sollen. Keine Gesten, nichts, was mir vorgespielt wurde, kein Fingerzeig, nichts, was ich lesen musste. Es war einfach alles konkret. Die Kostüme waren so, als habe ich sie schon gekannt. Sie waren wie Erinnerungen und ich wusste, dass ich das kenne. Wie Bilder aus Träumen, die man eigentlich nie gesehen hat, aber gut kennt. Man kennt sie, aber wenn man anfängt zu beschreiben, weiß man, dass man sie eigentlich noch nie wirklich gesehen hat.

Was waren das für Kostüme?

Das waren abstrakte und spielerische Kostüme. Einer hatte ein Tutu an, eine andere ein T-Shirt und eine Strumpfhose mit einer Unterhose drüber. Das Schönste war eigentlich Brigitte Hobmeier in einem gelben Kleid, was ein bisschen zu groß war, aber irgendwie auch nicht, es war wie hingeschnitten. Im Nachhinein weiß ich, dass es aus dem Fundus gezogen und einfach so gelassen wurde. Es war ein wahnsinnig schönes Gelb.

Das hatte wahrscheinlich auch mit dem Licht zu tun.

Es gab wahrscheinlich sehr gutes Licht, aber ich glaube, es hatte mit der Präsenz zu tun und der Ruhe, mit der die Kostüme getragen wurden. Durch diese Präsenz bekamen die Kostüme an den Körpern einen Wert. Sie wurden zu Objekten, wie auch ein Stuhl ein Objekt ist. Das Kleid wollte nichts zeigen, nichts abbilden und nichts stellvertreten. Es war einfach dieses Kleid, so wie der Stuhl der Stuhl ist und das Wort, was gerade gesprochen wird, das Wort ist.

Laurent Chétouane trennt die Mittel. Er trennt die Bewegung von der Sprache und die wiederum vom Raum und den wiederum vom Licht und das wiederum vom Kostüm. Diese Eigenwertigkeit, die das Kostüm bekommen hat, war wahrscheinlich das, was die Erinnerungsbilder ausgelöst hat.

Ich glaube, dieses Kleid war wirklich ein typischer Fund, man würde es sich nicht ausdenken. Man zieht es aus dem Fundus und denkt, was für eine schöne Farbe. Dann nimmt man es mit, zieht es an, es ist ein bisschen zu groß und man hätte es auch nicht so gefärbt, aber es ist genau richtig. Zudem weiß ich jetzt auch, dass die Schauspielerin das Kleid hasste. Ich will nicht, dass Schauspieler meine Kostüme hassen, aber das hat auch eine Reibung verursacht. Es ist ein Objekt und das ist das Schöne. Die Grundlage ist nackt und jedes Kleidungsstück ist ein Objekt. Das geht nur, wenn diese Art von Präsenz und Bewusstsein im Raum ist und es so getragen wird. Das Kleid an sich muss kein gutes Kostüm sein. Es ist nur ein gutes Kostüm, wenn es in den Zusammenhang gebracht wird.

Wie ist die Zusammenarbeit mit Chétouane, wie sprecht ihr darüber und wie kommt ihr zu einer Findung?

Ich habe nur ein Stück mit Schauspielern mit ihm gemacht, ansonsten Tanz. Bei den Tänzern probt er recht lange. Bei Duos drei Monate und bei größeren Stücken fünf Monate. Da bin ich oft am Anfang der Proben da, weil das der Moment ist, wo das Stück schon im Raum ist, aber niemand weiß, was es ist. Es ist aber immer schon da, weil die Leute und Körper aufeinandertreffen, ohne sich zu kennen, unvoreingenommen, oft wie Tiere. Dazu steht schon das Thema oder der Stücktitel im Raum. Dann wird das Stück entwickelt und nach einem Monat fange ich an, Bilder zu sammeln, die wir uns dann gemeinsam anschauen. Da geht es noch nicht um konkrete Ideen. Es kann das Licht sein oder ein Stein auf dem Bild oder ein Gesichtsausdruck. Irgendwann muss ich dann über meinen Schatten springen und etwas reingeben. Manchmal haben wir eine konkrete Idee und probieren die aus. Meistens ist die erste Idee im Raum sofort langweilig, weil es eben eine Idee ist, vielleicht als Bild funktioniert, aber nichts Bewegliches hat, die Tänzer nach einer Minute schon woanders sind und das Kostüm dieses Bild bleibt. Es muss eine Offenheit haben. Es ist eine Setzung und so, wie ich dieses Stück zeigen will, aber gleichseitig darf es nichts festhalten. Dann probieren wir aus und meistens sind es die Fehler, die dann schön sind.

Was sind das für Fehler?

Ich habe irgendwann gemerkt, dass alle Kostüme, die ich für ihn gemacht habe, aus Fehlern entstanden sind. Ich kann mich noch an ein Kleid erinnern, dass ich am Morgen total schräg abgeschnitten habe und es war dann genau richtig, als die Tänzerin es angezogen hat, weil es im Saum eine Verschiebung hatte. Oder ich wollte etwas färben und fixieren und habe zu früh Essig drübergekippt, wodurch sich Marmorierungen entwickelt haben, und das war genau richtig. Ich glaube, das ist auch das, was die Tänzer machen. Sie müssen etwas loslassen, sich fallen lassen und etwas machen, was sie vom Kopf her nicht kontrollieren. Darin liegt die Schönheit der Arbeit, glaube ich.

Bei Chétouane soll sich eine szenische Präsenz einstellen, die sich auf der sprachlichen Ebene nicht mehr erfassen lässt. Findet das auf der Kostümebene auch statt? 

Wahrscheinlich ja, aber auch nicht ganz. Es entsteht etwas, was man nicht greifen kann, und dann kann man es aber wieder in Relation setzen und ausarbeiten. Man kann es sozusagen wieder in die Hand nehmen. Aber das machen die Tänzer auch. Bei allen geht es darum, eine Idee zu haben, die loszulassen, das dadurch Gefundene wieder zu denken und zu gestalten und wieder loszulassen, bis man nicht mehr weiß, was woher kam, wem gehört. 

Normalerweise ist ein Kostüm ein Zeichen und eine Unterstützung des Schauspielers, der Interpretation eines Regisseurs. Bei euch will es einer Präsenz zur Erscheinung verhelfen und kein Zeichen sein. Das würde ich gerne noch genauer wissen, nehmen wir zum Beispiel das Tanzstück Sacre du Printemps.

Grundsätzlich geht es bei der Arbeit immer darum, die Tänzer oder Spieler mit dem Kostüm nicht zu verstecken oder einzukleiden, sondern vielmehr darum, sie zu entblößen. Sie könnten nackt sein, aber da Nacktheit schon wieder nicht nackt ist, sondern wahnsinnig aufgeladen, da wir in unserer Gesellschaft mit der Konvention leben, uns nicht öffentlich nackt zu zeigen, müssen die Kostüme eine Art von Nacktheit herstellen. Nacktheit im Sinne von Neutralität, Offenheit. Das Kostüm darf ihnen nichts geben, woran sie sich festhalten können, was vielleicht in konventionelleren Arbeiten der Fall ist. Sie sollen sich wohlfühlen, aber nicht sicher; sie können einen Bezug zu den Kleidungsstücken haben, aber nicht feste Ideen. Und trotz dieser Neutralität und Unscheinbarkeit sind die Kostüme eine große Setzung für mich und lösen viel aus. 

Auch dass ich immer mit Alltagskleidung arbeite ist eine klare Setzung. Es ist bei der Arbeit sehr wichtig, das Publikum einzubeziehen. Das Publikum muss sich mit den Tänzern identifizieren können. Es sind zwar die Tänzer, die auf der Bühne stehen und tanzen, aber nur durch die Verbindung zum Publikum entsteht etwas. Bei Sacre habe ich viel mit Schminke ausprobiert. Einen angemalten Hals kann ich plötzlich wieder als Hals betrachten und wahrnehmen, oder ein auf das Gesicht gemaltes Gesicht. Leichte Verschiebungen und Verdopplungen. Wie auch mit der Farbigkeit, manchmal wirkten die Oberteile und Hosen und Socken alle ganz schwarz, hatten was Uniformiertes, Kriegerisches, dann wiederum sah man ganz klar die verschiedenen Farbnuancen. Durch die kurzen Hosen bekamen sie auf eine Art ihre Beine zurück. Beine sind bei Tänzern oft nur dazu da, Stand zu geben. Das war ein schönes Erlebnis, weil ich über Nomaden oder Nomadismus nachgedacht habe und über Bilder von Piraten gestolpert bin. Ich fand ein Bild von einem Mann mit einer kurzen Hose auf einem Schiff. Ich dachte: kurze Hosen! Ich habe mich selber fotografiert und mit Laurent darüber gesprochen. Er fand es gut, aber heikel. 

Warum heikel?

Es ist ungewohnt, mit nackten Beinen zu tanzen. Die Proben sind so fein und sensibel, ich habe sogar mal einen Tänzer zum Weinen gebracht mit einer Hose, die ich ihm gegeben habe. Ich hatte also schon ganz lange diese sechs kurzen Hosen auf meinem Tisch und habe auf den richtigen Moment gewartet. Der kam, als ein Tänzer seine Hose hochgezogen hat, weil er meinte, dass er seine Beine zum Tanzen braucht, da habe ich ihnen die Hosen gegeben. Das war eine schöne Zusammenkunft von Probenprozess und Kostümprozess. Dann standen sie auf einmal alle mit ihren nackten Beinen da. Für mich ist es eine große Setzung, diese Art von Tanz in Alltagskleidung zu zeigen. Ob man in Turnschuhen oder mit nackten Füßen tanzt, ist ein riesiger Unterschied. Es geht sehr viel um Schönheit. Es geht nicht um Schönheit als marmorne Perfektion, sondern um Schönheit als Lebendigkeit. Für mich entsteht Schönheit eben auch gerade dadurch, dass diese Art von Tanz und Präsenz in Alltagskleidung gesetzt ist. Dann bekomme ich als Zuschauerin eine aktive Position, weil ich mich mit dem Performer verbinden kann und selber Momente von Schönheit und Falten und Lichteinfälle entdecken kann.

Wie gehen die Darsteller damit um?

Ich habe gerade in Stockholm ein Stück mit einem norwegischen Regisseur gemacht, der Student von Laurent war. Er arbeitet anders, aber auch mit dieser Präsenz. Das war auch ein Jon-Fosse-Stück, Das Kind. Das war eine schöne Erfahrung. Es war ganz klar, das, was die Schauspieler tragen, sollen keine Zeichen und keine Figuren sein, aber trotzdem ist es nicht privat und trotzdem ist es ein Kostüm. Ich hatte das Gefühl, dass jeder einzelne Schauspieler sich schön findet. Alle hatten das gleiche Grundgefühl, wenn sie auf die Bühne gegangen sind, sahen aber alle total anders aus. Es wird oft abschätzig betrachtet, dass sie alle nur gut aussehen wollen. Natürlich wollen sie gut aussehen, aber das ist auch nicht schlimm und es heißt nicht, dass alle gleich aussehen müssen. Man muss diesen Punkt finden, wo sie in den Spiegel schauen und es gut finden. 

Wie kommst du dahin?

Tausend Anproben. Alles anprobieren und reden. Ganz viele verschiedene Sachen auch anprobieren. Das Schöne in Stockholm war auch, dass es keine richtige Bühne gab. Es war in den Dramaten in einem kleinen Jugendstil-Saal. Sie kamen wie Arbeiter auf die Bühne, die zusammen eine Geschichte erzählen und Texte sprechen. Sie sind auf eine Art sie selber, aber haben trotzdem Kostüme, wo man ganz klare Figuren sieht. Dadurch, dass es nicht als Zeichen dasteht, habe ich das Gefühl, dass ich als Zuschauer eine aktive Position habe, weil ich selber entdecke.

Dieser Moment der Anprobe, der in vielen Wiederholungen stattfindet, ist ein Raum, den man als Kostümbildner viel zu wenig hat und dadurch entsteht oft eine zu schnelle Setzung, eine zu schnelle Entscheidung oder ein nicht ausbalanciertes Ineinandergreifen von optischen und szenischen Prozessen. Wie forderst du das ein? Bittest du um mehr Zeit zum Anprobieren, nimmst du dir die Darsteller vor? 

Ja, ich nehme sie mir, wenn ich sie haben kann. Das ist ein Punkt, bei dem ich gucken will, wie ich das anders machen kann. In Stockholm beispielsweise ging es, weil ich nichts habe anfertigen lassen. Ich habe nur Sachen ändern lassen. Das hat mir viel mehr Zeit gegeben. Ich musste nicht zu Probenbeginn ein Konzept abgeben. Ich habe noch Sachen bis zur Generalprobe geändert. Es liegt also an mir und der Offenheit der Schauspieler und des Regisseurs. Ich habe nicht unbedingt ein gutes Gefühl dabei, zu wissen, in Stockholm gibt es diese unglaublich gute Kostümabteilung, aber ich gehe einkaufen und nutze sie nicht. Das ist eine wichtige Frage, wie man Zeit haben kann, um Sachen auszuprobieren, aber gleichzeitig diese Abteilungen nutzt.

Arbeitest du auch mit anderen Regisseuren und ist es da anders?

Ja, ich arbeite noch mit Ivna Žic, das ist eine Schweizerin, die ich im Orientierungsjahr kennengelernt habe. Mit ihr ist es ganz anders. Wir haben in Kiel Clavigo gemacht und da wurde alles genäht. Die Probenkostüme waren ziemlich eins zu eins. Das hatten die vom ersten Tag an und es ist auch so geblieben. Das war auch sehr spannend, weil es extreme Kostüme waren. Es war wie eine Garderobe, die sich durchgespielt hat. Die eine hatte nur das Sakko an und sonst nichts, der andere hatte nur die Hose an und sonst nichts. Es war wie ein Puzzle. Das war ein klares Konzept und die Schauspieler hatten sechs Wochen Zeit, es zum Leben zu bringen. Das Kostüm hat ihnen ein Körpergefühl gegeben, weil sie sehr nackt waren, aber es hat ihnen keine Rollen oder Figuren gegeben. Es hat eigentlich das Gleiche gemacht, wie auch die anderen Kostüme, über die wir gesprochen haben, nur auf eine extrem entgegengesetzte Art. Die Schauspieler wurden in ein Konzept, in einen Gedanken reingesetzt. 

Sophie Reble, geboren 1985 in Zürich, studierte Kostümbild an der Universität der Künste in Berlin. Seit 2010 besteht eine intensive Zusammenarbeit mit dem Regisseur und Choreographen Laurent Chétouane. Sie entwickelt die Kostüme für seine Tanzstücke die u. a. am Hebbel Theater Berlin, am Kaaitheater Brüssel, am Baltijskij Dom St. Petersburg, bei der Ruhrtriennale und an der Tanzbiennale in Venedig gezeigt werden. Im Bereich Schauspiel verbindet sie eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Regisseurin Ivna Žic, zudem arbeitet sie mit dem Regisseur Johannes Holmen Dahl und der Künstlerin und Musikerin Lea Letzel. Neben ihrer Tätigkeit als freischaffende Kostümbildnerin arbeitet sie an eigenen Performanceprojekten vor allem in Zusammenarbeit mit Caroline Creutzburg, die auf vielen Festivals gezeigt wurden, u. a. Theatermaschine Gießen, Bestof100Grad, Outnow! Festival Bremen, Freischwimmer Festival.

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