Theater der Zeit

Bericht

Publikumsbeteiligung und Kapitalismuskritik

Ein Landschafts-Bürger:innentheater in Nossen steht beispielhaft für das sächsische Projekt „X-Dörfer“, mit dem Kulturinitiativen in ländlichen Räumen entwickelt und gefördert werden

von Michael Bartsch

Assoziationen: Sachsen Staatsschauspiel Dresden

Das Vorabfoto von „Unter Nossen“. Foto Milan Ihl
Das Vorabfoto von „Unter Nossen“Foto: Milan Ihl

Anzeige

Aus den geöffneten Fenstern der Pestalozzi-Grundschule im sächsischen Nossen dringt flotter Gesang mit Klavierbegleitung auf die Straße. Eine bunt gemischte Theatergruppe von etwa einem Dutzend Personen probt in der Aula gerade das „Investorenlied“. „Das Geld wird im Berg gemacht – Rendite wächst über Nacht“, solche Zeilen bleiben hängen. Regisseurin Esther Undisz schimpft nur, dass die Strophenanfänge kaum zu verstehen seien. Also nicht einfach nur Volkstheater, auch wenn eine Runde Bergmannsschnaps gereicht wird. In das Stück und die Liedtexte verpackt ist auch ein Grundkurs Kapital und Geldwirtschaft, Geld, das angelegt werden und arbeiten müsse, „sonst dreht es Dir den Rücken zu“.

Das hier geprobte Laienspiel wird beispielsweise im Amtsblatt der Stadt mit dem Titel „Unter Nossen – Eine Stadt im Blaurausch“ angekündigt. Für Kenner eine Anspielung auf den Roman „Unterleuten“ von Juli Zeh. Am 23. Juni soll es premierenreif sein, fünf Vorstellungen sind geplant. Eine kleine Sensation für die durch Eingemeindungen auf reichlich 10 000 Einwohner:innen angewachsene Stadt, vielen nur durch das Autobahndreieck bekannt. Bis etwa 2001 spielte das Mittelsächsische Theater Freiberg/Döbeln noch gelegentlich hier im Schloss, erinnert sich Tilo Staudte. Er war damals Ausstattungsleiter und ist nun bei diesem Bürger:innentheater wieder dabei.

Seither ist Nossen „theaterfrei“. Das störte einen äußerst rührigen Musiker und ehemaligen Lehrer an der Pestalozzi-Schule, den mittlerweile 68-jährigen Roland Taffel. Auf diesen „taffen“ Typen geht bereits das inzwischen etablierte Blues- und Rockfestival im Kloster Altzella am Ortsrand zurück. Mit dem Mittelsächsischen Jugend- und Kulturverein kümmert er sich auch um Schüler:innenbands. „Wir hätten hier gern mal wieder Theater“, soll er einen Wunsch an die Stadtverwaltung herangetragen haben und damit auch bei Bürgermeister Christian Bartusch auf offene Ohren gestoßen sein.

 

Dieser Wunsch traf sich mit einem 2022 gerade anlaufenden sächsischen Projekt namens „X-Dörfer“. Es wird formal von der Bürger:Bühne des Dresdner Staatsschauspiels getragen. Kopf des Vorhabens aber ist Miriam Tscholl, die ab 2009 zehn Jahre lang eben diese Dresdner Bürger:Bühne leitete und ihr zum Ruf eines bundesweiten Vorbilds verhalf. Mittlerweile arbeitet sie frei, inszeniert unter anderem an den Münchener Kammerspielen, blieb Sachsen aber nicht nur mit ihrem Hauptwohnsitz in Freital nahe Dresden treu. Dort, wo sie am Berg mit ihrem Gefährten ein altes Scheunengrundstück nach und nach ausbaut, erzählt sie vom Werdegang der „X-Dörfer“-Idee.

Sie hat einen Vorlauf in zwei Landschaftstheaterprojekten der Bürger:Bühne in der Sächsischen Schweiz. Die Bühne schwärmte 2013 aus und ging auf das gar nicht so flache Land der Sandsteinfelsen am Zirkelstein. Reinhardtsdorf-Schöna wurde damals bundesweit bekannt, weil die NPD bei Wahlen hier ein Viertel der Stimmen holte. Durchsichtig missionarisch aber war das Riesenspektakel „Fall aus dem All“ überhaupt nicht angelegt, obschon es dabei auch um von Außerirdischen beeinflusste Wahlen ging. Um die siebzig Einwohner:innen inklusive Bürgermeister spielten neben den Profis in den Hauptrollen begeistert mit, und die von Schauplatz zu Schauplatz wandernden zahlreichen Besucher:innen genossen ein mehr als vierstündiges originelles Vergnügen. Nach einem weiteren Jahr zog sich Dresden zwar wieder zurück. Aber die Saat ging auf. Ein regionaler Verein übernahm und führt die „Sandsteinspiele“ bis heute in eigener Verantwortung erfolgreich fort.

„Die eigene Expertise zur Verfügung stellen für Leute, die etwas vor Ort machen wollen!“ Dieser Leitsatz von Miriam Tscholl zeigt, dass sie unverändert vom Geist der kulturellen Wiedererweckung ländlicher Räume ergriffen ist. Nicht Fertigprodukte aus den großen Städten exportieren, sondern lokal gewachsene Wünsche, ja Bedürfnisse in den sprichwörtlich abgehängten Gebieten aufgreifen und entwickeln. „Die großstädtische Szene tut sich schwer auf dem Land“, konstatiert sie aus Erfahrung. Die beiden Ausflüge in die Sächsische Schweiz waren deshalb nach ihrer Einstufung „eines der sinnvollsten und konsequentesten Projekte der Bürger:Bühne“. Für seine Vita, für sein Renommee tue man sich allerdings keinen Gefallen, wenn man aufs Land geht. „Ich habe für mich entschieden, dass mir das egal ist!“

Die Problematik kultureller Teilhabe in ländlichen Räumen sei zwar von der Kulturpolitik längst erkannt. Es fehlten aber Mittel, Strukturen und Beratung, daran etwas zu ändern. Die örtlichen DDR-Kulturhäuser wurden nach 1990 größtenteils abgewickelt, Betriebe als organisatorische und finanzielle Träger brachen weg, beklagt die in Freiburg im Breisgau aufgewachsene Miriam Tscholl.

So entstand die Idee eines Angebots, einer Ausschreibung, bei der sich eben „X Dörfer“, aber auch Kleinstädte bewerben können. Sie wuchs schon im Rahmen der Bewerbung Dresdens zur europäischen Kulturhauptstadt 2025, um die Landeshauptstadt stärker mit dem Umland zu vernetzen. Hier scheiterte Dresden 2019 zwar. Die erste Ausschreibungsrunde 2022 aber blieb, in diesem Frühjahr folgte eine zweite.

Die Teilnahmebedingungen sind denkbar einfach gefasst. Bewerben können sich Kultureinrichtungen und Vereine, aber auch spontane bürgerschaftliche Initiativen und Laien. Sie sollten nur aus Orten kommen, die nicht weiter als sechzig Kilometer von Dresden entfernt liegen und nicht mehr als 40 000 Einwohner:innen haben. Auf der Homepage des Staatsschauspiels erscheint die entsprechende Grafik deshalb wie ein Globus mit Dresden als dem Mittelpunkt der Welt, im Norden durch die brandenburgische „Arktis“ und im Süden durch die tschechische „Antarktis“ begrenzt.

 

Unbegrenzt ist hingegen die Vielfalt der kulturellen Genres, auf denen man sich betätigen möchte. Auch wer einen Frisörsalon kulturell aufwerten möchte, kann das tun. Neben der künstlerischen Hilfe durch Miriam Tscholl und der organisatorischen durch Claudia Leutemann vom Staatsschauspiel steht auch seitens des Freistaates ein nicht genau bezifferter niedriger sechststelliger Unterstützungsbetrag für alle bewilligten Projekte zur Verfügung.

Auf diese Weise trafen sich im Vorjahr die Wünsche von Roland Taffel und Freund:innen in Nossen mit dem X-Dörfer-Angebot. In der Aula der Pestalozzi-Schule erzählen Theaterfreundinnen und –freunde und die beauftragte freie Regisseurin Esther Undisz von den Anfängen. Zunächst schien es, als stießen die Werbeflyer und Inserate im Amtsblatt und in der Zeitung kaum auf Interesse. Zum Schnupperworkshop im vorigen Oktober erschienen aber plötzlich mehr als dreißig Personen. Ein Wochenende lang wurde elementares Schauspielhandwerk geübt, musiziert und mögliche Auftrittsorte inspiziert. Der langgezogene Markt galt spontan als Favorit, aber ein Vater äußerte Bedenken: „Für das erste Jahr ist er uns zu groß!“ Man entschied sich für den Schlossgraben, an dem rund hundert Sitze platziert werden sollten.

Auch über das Sujet wurde gemeinsam gesprochen. Ein Krimi ist immer populär, aber möglichst ohne Leiche, einen Regionalbezug und damit historische Anklänge sollte man auch entdecken. Die Nossener Bürger:innen protestieren gegen den Einwand, dies sei ja noch nicht die klassische erzgebirgische Bergbauregion. 1168 begann im nur zwanzig Kilometer entfernten Freiberg mit reichen Silberfunden das so genannte „Berggeschrey“ und damit der wirtschaftliche Aufstieg Sachsens. Das biete Nossen auch, sagen sie, etwa den fünfzig Kilometer langen Rothschönberger Stollen.

Esther Undisz schrieb also einen Text, der keineswegs nur Vergangenheit beschwört. Inspirieren ließ sie sich auch von ostdeutschen Erfahrungen nach der Wende und einem aktuellen Investoren-Luftschloss im nahen Döbeln. Der Schweizer Batteriehersteller Blackstone wollte dort Akkumulatoren aus dem 3D-Drucker produzieren. 25 Millionen Euro Fördergelder standen in Aussicht, aber die angeheuerte Belegschaft sitzt seit einem Vierteljahr zu Hause.

Im Anfang März fertiggestellten Text geht es um einen ähnlichen Hype. Elemente wie Lithium und Kobalt werden für die Akkumulatoren- und Chipproduktion benötigt und verzaubern gegenwärtig alle, die von Elektromobilität und Digitalisierung die frohe Zukunft erhoffen. Und sie wecken die Gier, mit ihrer Förderung viel Geld zu verdienen. Unter Nossen liegt nämlich eine angeblich vielversprechende Menge Kobalt. Ein cleverer Investor ist gerade dabei, die Nossener:innen zum Erwerb von Anteilsscheinen zu überreden, um danach schürfen zu können. Die Sachsen aber erweisen sich als einigermaßen helle und wittern die Abzocke. Wie es ausgeht, wird noch nicht verraten. Es sei jedenfalls die Frage, wer sich von wem übers Ohr hauen lässt, lächelt der stämmige Tom Jähnigen vielsagend. Und Stephan Hans, der als dieser Investor Paul den meisten Text hat, orakelt nur: „Die Liebe siegt!“

 

Omnia vincit amor also. Der vorgeschlagene Arbeitstitel „Berggeschrey und Kapitalismuskritik“ fasse den Plot treffend zusammen, stimmen alle zu. Schließlich würden die immer sichtbareren Grenzen unserer Lebens- und Wirtschaftsweise auch in den Familien diskutiert, kommentiert Tom. Dann setzte sich am 1. April die Regionalausgabe der Sächsischen Zeitung auch noch mit einem Aprilscherz auf den Theatertext drauf. Sie veräppelte die Leser:innen mit einem angeblichen Kobalt-Fund unter dem Nossener Schloss – wie im Theaterstück.

Für ein solches Stadtspektakel setzen die Spielerinnen und Spieler gern Zeit und Energie ein. „Das Probentempo ist schon ziemlich sportlich“, seufzt die resolute Ursula Müller-Reinfandt aber nur leise. Sie spielt die handfeste Wirtin des Imbisses „Zur Cosel“. Die legendäre Mätresse des noch berühmteren Kurfürsten August, genannt „der Starke“, kam 1716 auf ihrem schweren Weg der Auslieferung von Halle nach Dresden nämlich durch Nossen.

„Man wächst mit dem Projekt“, lächelt der junge Stephan, der als der böse Kapitalist Paul den meisten Text zu lernen hat. Damit hat Schülerin Elsa Staudte kein Problem. „Wenn für die Schule zu viel zu tun ist, lerne ich ihn eben in der Probe nebenbei.“ Elsa schwärmt spontan vom „Miteinander über Generationen hinweg“. Sie ist die Tochter von Ausstatter Tilo Staudte, der derzeit „von Fundus zu Fundus eilt, um günstig Kostüme und Requisiten zu beschaffen“. Dritter im Team ist der Dresdner Musiker Bertram Quosdorf, der die Songs komponiert hat und die Laienmusiker:innen anleitet.

 

Muss Nossen überhaupt kulturell wachgeküsst werden? Ist Nossen ein X-Dorf? Ja und nein, eine Frage, die den Lokalpatriotismus berührt. Viel sei nicht los, meinen die einen. Andere verweisen auf die Freilichtbühne, wo aber nur Konzerte stattfinden, und vor allem auf das als Veranstaltungsort beliebte ehemalige Kloster Altzella. In den 1990er Jahren versuchte der Künstler Batuz hier eine internationale „Société Imaginaire“ zu etablieren, überwarf sich aber mit den Förder:innenern des Freistaates Sachsen.

Esther Undisz verweist auf die integrierende Wirkung solcher Spektakel für die eingemeindeten X-Dörfer rings um Nossen. „Prüfen, wer sich mit wem verbinden kann“, gehört auch zu den Prinzipien von Projektleiterin Miriam Tscholl. An jedem Ort treffe sie andere Verhältnisse an. „Manche haben einen fertigen Plan und brauchen Geld, andere stehen mit einer Idee am Anfang, einige haben ein großes Haus und wollen es füllen.“ Jedenfalls reise sie nie wie eine Staubsaugervertreterin mit einem fertigen Produkt an. „Es haben auch mehr Versuche keinen Erfolg als die geglückten“, muss sie konstatieren, was meist am ehrenamtlichen Aufwand liegt.

Unter mehr als dreißig Bewerber:innen waren in diesem März vier neue Projekte erfolgreich. In der Sächsischen Schweiz wird die historische Heymannbaude wiederbelebt, in Weistropp entsteht eine Kindertheatergruppe, in Radebeul ein Selbstbetätigungsprojekt für Jugendliche, in Klingenberg eine Jugendband „Combo Irrationale“. Fünf Projekte werden weitergeführt, neben Nossen zum zweiten Mal ein großes Pirnaer Schreibfestival im September. Bei der Auswahl spielt die Aussicht auf Beständigkeit eine wichtige Rolle, darauf, dass das Projekt ein Selbstläufer wird wie vor Jahren der Sandsteinspiele-Verein in der Felsengegend um den Zirkelstein. Die beweglichen und engagierten Nossener:innen könnten ihnen nachfolgen.

Erschienen am 31.5.2023

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz
Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York