Theater der Zeit

Ein gefährliches Rätselspiel: Der Mieter von Roland Topor. Regie Blanka Rádóczy

Residenztheater München Premiere am 24. November 2018, Bühne Blanka Rádóczy, Kostüme Andrea Simeon, Dramaturgie Angela Obst, Musik Benedikt Brachtel

von C. Bernd Sucher

Erschienen in: Radikal jung 2019 – Das Festival für junge Regie (04/2019)

Assoziationen: Blanka Rádóczy Roland Topor Residenztheater

Foto: Armin Smailovic

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„Meine szenische Fantasie ist ausschließlich ans Bühnenbild gekoppelt; ich habe ziemlich genaue Vorstellungen davon, was eine Bühne für mich können muss und nach welchen Regeln sie funktioniert. Meistens muss ich mich dann als Regisseurin dazu zwingen, diese Regeln einzuhalten. Manchmal ist das schwer, manchmal verliere ich den Überblick, aber wir alle arbeiten als Team, es gibt meistens jemanden, dem das rechtzeitig auffällt. Es gibt also eine Grundidee für den Raum. Beim ‚Mieter‘ waren das die Gänge im Treppenhaus. Dazu kommen dann die Details. Während ich den Grundriss entwerfe, denke ich gleichzeitig über Einrichtung und Requisiten nach. Diese werden dann oft zu inhaltlichen Leitmotiven. Und diese sind entscheidend für die Inszenierung. Dasselbe gilt für Musik und Kostüme.“

Für ihre Inszenierung von Roland Topors „Der Mieter“ im Marstall des Bayerischen Staatsschauspiels hat sich Blanka Rádóczy eine leere, rechteckige Spielfläche bauen lassen, begrenzt in der Tiefe durch eine Wand mit nur einer Tür – dahinter, die Zuschauer entdecken sie sehr bald: eine Toilette. Links, neben der Eingangstür für das Publikum, zwei große vollgestopfte Müllcontainer, die wohl nie geleert werden; rechts die Mauerwand des Marstalls. Vorn, vor der Zuschauertribüne, liegen ein Paar Matratzenkissen, daneben ein Kleiderständer, wie wir ihn aus Warenhäusern kennen, behängt mit billigen, bunten Frauenfummeln, sehr florale Muster. Es sind die Kleider der Selbstmörderin, in deren Wohnung Trelkovsky einziehen wird, nachdem der Vermieter ihn nach langen, demütigenden Gesprächen als Mitbewohner akzeptiert hat: keine Damenbesuche, keine laute Musik, keine Feten, keine Beschwerden.

Roland Topors Roman „Der Mieter“ – im französischen Original trägt er den Titel „Le Locataire chimérique“ – ist ein surrealer Horrortrip. Roman Polanski, der 1976 daraus einen zweistündigen Film machte, interessierte der Thriller; die junge Blanka Rádóczy versucht einen anderen Weg der Vergegenwärtigung. Sie strebt nicht so sehr eine Krimi-Spannung an als vielmehr eine Verunsicherung der Wahrnehmung – auf den Spuren von Franz Kafkas „Verwandlung“. Sie inszeniert einen Alptraum, in dem Figuren hereinhuschen – wie zum Beispiel eine Putzfrau, die mit einem Wischmopp zu Gange ist, mal im Klo sich zu schaffen macht, mal um die große unbespielte Mittelfläche schlurft, die, abgedeckt mit einer Plane, am Ende des Mieters Grab wird – ist es ein Innenhof? Oder der Nachbar, ein skurriler Typ, absonderlich gekleidet; geheimnisvoll und androgyn, sich dem neuen Mieter anbiedernd und ihn zugleich mephistophelisch ins Verderben lockend. Man wird aus allen fünf Figuren nicht klug. Sicher ist nur eines: Wer auch immer in dem Haus wohnt, der Neue gilt ihnen allen als ein Störenfried, der so wenig wie die anderen begreift, was Topors These ist: Leben heißt stören! Akzeptierten der Vermieter, der Nachbar, die Nachbarin und Stella, die Trelkovskys Nähe sucht, so wie er die ihre, diese Grundvoraussetzung, sie würden den Mieter nicht als einen Eindringling brandmarken, ihn aus der Gemeinschaft drängen und schließlich in den Selbstmord treiben. Wundersam, mit welch diskreten Mitteln Blanka Rádóczy diese hilflos-schüchternen Versuche, Zärtlichkeit zu fordern und zu geben, beschreibt. Ihr Kopf auf seiner Schulter; ein Nesteln an seiner Jacke. Angst bestimmt die Liebessehnsüchte der beiden. In dieser Welt ist jeder Gang, jede Geste Gefährdung.

Das Fremde fasziniert Blanka Rádóczy. „Als ich ‚Teorema‘ inszeniert habe, haben wir uns damit beschäftigt, was passiert, wenn ein Fremder auftaucht und das bestehende System, da war es eine Familie, dadurch zerfällt. Im ‚Mieter‘ taucht Trelkovsky als Fremder auf und wird von der Gruppe, vom System aufgesaugt, im Prinzip passiert also das Gleiche, nur ist im ‚Mieter‘ die Gruppe stärker als die Einzelperson.“

Aber wie kommt es so weit? Ist es ihr Plan oder sein verzweifelter Versuch, zur Gruppe zu gehören? „Im Buch verfolgen wir Trelkovskys Leben durch seine Erzählung. Und in dieser Erzählung gibt es immer seltsamere Träume und Bilder. Es passiert im Fluss. Es findet eine Realitätsverschiebung in Schritten statt. Und irgendwann landen wir in seiner inneren Welt, in seiner Fantasie. Dort, wo es nur noch Bilder, Geräusche gibt. Das äußere Ich tritt in den Hintergrund und das Innere zeigt sich. Diese Wendung hat mich interessiert.“

Was Wunder, dass Blanka Rádóczy in ihrem kafkaesken Rätselspiel mit Geräuschen arbeitet. Betritt Aurel Manthei, der den verdrucksten, zunehmend verunsicherten Mieter spielt, sein Zimmer – es ist jener türenlose Ort, wo die Matratzen liegen –, dann knarzen die Dielen. Überlaut aus Lautsprechern. Manchmal erklingen Musiken, Fetzen von Melodien nur. Unwirklich auch sie. Realitätsfern.

Hat Blanka Rádóczy während der Arbeit an die Stilmittel des absurden Theaters gedacht? – „Ich kann mich erinnern, dass ich das Kapitel über das absurde Theater in Theatergeschichte toll fand. Wenn ich über diese Frage nachdenke, erkenne ich natürlich gewisse Parallelen zu meinen Arbeiten. Der Moment des Wartens, die Ausdehnung von Zeit, die Wiederholung und die Darstellung des Unsichtbaren sind durchaus Themen, die mich sehr interessieren. Die Reduzierung der Sprache, die Aufwertung anderer Theatermittel wie Bühnenbild, Musik und Kostüm und Figuren, die sich wie Marionetten in einem schleifenartigen System bewegen, entsprechen sowohl meinem Theatergeschmack als auch meinem Bild von der Welt. Außerdem habe ich als Assistentin von Anna Viebrock auf unzähligen Proben von Christoph Marthaler gesessen, das war sehr prägend.“ Blanka Rádóczy mag Langsamkeit und sie lehrt die Zuschauer, wie Christoph Marthaler, eine andere Zeiterfahrung als die alltägliche.

Sie wurde in Pécs in Ungarn geboren und wuchs in Ungarn und der Schweiz auf. Nach dem Abitur in Basel besuchte sie den einjährigen Vorkurs der Schule für Gestaltung, darauf folgte eine Jahreshospitanz im Bereich Bühnenbild am Theater Basel, hier traf sie Anna Viebrock und Christoph Marthaler. Anschließend studierte sie an der Universität für angewandte Kunst Wien in der Klasse für Bühnen- und Filmgestaltung. Während und nach dem Studium arbeitete sie in zahlreichen Produktionen als freischaffende Bühnenbildassistentin von Anna Viebrock: am Theater Basel, bei den Wiener Festwochen, an der Volksbühne Berlin, am Schauspielhaus Hamburg und am Schauspiel Köln. Als Diplomarbeit drehte sie ihren ersten Animationsfilm. Obwohl sie danach erfolgreich drei Jahre lang als Bühnen- und Kostümbildnerin reüssierte, entschloss sie sich zu einem weiteren Studium und begann im Sommersemester 2014 das Studium Regie für Schauspiel und Musiktheater an der Theaterakademie August Everding in München. Hier entstand, neben anderen, ihre Inszenierung von „Dekalog VI“ nach dem gleichnamigen Film von Krzysztof Kieślowski. „Teorema“ nach Motiven von Pier Paolo Pasolini war ihre Bachelor-Inszenierung, die beim Körber Studio Junge Regie in Hamburg gastierte und dort den Publikumspreis gewann. Sowohl in den Projektarbeiten als auch in „Der Mieter“ kann man bemerken, dass diese Regisseurin eine große Lust hat, Geschichten zu erzählen und dafür Menschen zu gewinnen, denn sie glaubt an die Kraft und die Nachhaltigkeit von Theater: „Solange Menschen im Theater zusammenkommen, um gemeinsam eine Erfahrung zu machen, die keinen ökonomischen Mehrwert hat, ist es politisch. Ich glaube, es ist eine große Leistung. Und darüber hinaus muss Theater gar nichts leisten. Kunst und Leistung ist keine gute Kombination. Es gibt da eine Sache, die das Theater zwar nicht leisten muss, aber kann: das Zeitempfinden zu verändern. Ich glaube, das könnte heutzutage als politisch gelten. Zumindest ist es unserer Lebensweise entgegengesetzt.“

Blanka Rádóczy ist eine überzeugte Teamspielerin: „Theater macht man nicht allein. Ich könnte eine lange Liste schreiben, wer in einer Produktion wirklich wichtig ist. Darauf gibt es allerdings nur eine knappe Antwort: alle. Und damit gibt es oft ein Problem, denn wenn alle wichtig sind, dann kennt man sich im Stadttheater einfach nicht mehr aus. Ich finde (auch) Dramaturgen sehr wichtig. Die Zusammenarbeit ist sehr unterschiedlich und es ist oft schwer, eine gemeinsame Sprache zu finden. Und wenn diese zum Anfang nicht gefunden wird, dann sollte man es lassen. Ich wünsche mir eine enge Zusammenarbeit, in der offen und ehrlich kommuniziert wird. Ich wünsche mir jemanden, der mich von Anfang an begleitet, der Fragen stellt, die zu einer Diskussion führen, jemanden, der mir wirklich zuhört, kontinuierlich. Vom Anfang bis zum Schluss.“ Und sie fügt hinzu: „Oft sind Schauspieler die besten Dramaturgen!“

Diese Aufführung von Topors selten gespieltem „Mieter“ verwirrt den Zuschauer und ängstigt ihn. Weil Blanka Rádóczy Topor beim Wort nimmt. Die Regisseurin gängelt des Zuschauers Fantasie nicht, sie öffnet ihm die Möglichkeit, sich ihr hinzugeben. Ein gefährliches Unterfangen, denn damit beginnen die Zweifel an der Realität. Zuweilen wünschte ich mir von Blanka Rádóczy mehr Furor noch, mehr Wahnwitz, mehr Mut zu düsterer Melancholie. Denn Topor zeigt eine hoffnungslose Welt. In manchen Momenten dieser durchaus beeindruckend entschiedenen Inszenierung wäre es gut gewesen, wenn die Regisseurin unsere Seelen noch mehr in Besitz genommen und uns in noch düstere Finsternisse geführt hätte. Allein, dass sie mit Marthalerscher Zeitdehnung und extremer Verwendung von akustischen Zeichen uns das Fürchten und Zweifeln lehrt, ist keine kleine Leistung!

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