Editorial
Editorial
von Anja Nioduschewski und Dorte Lena Eilers
Erschienen in: Arbeitsbuch 2020: Stück-Werk 6 – Neue deutschsprachige Dramatik im Porträt (07/2020)
„Liebe Leute, ich finde es auch ein wenig seltsam, dass ich gerade jetzt den Wunsch gehabt habe, über das Schreiben von Theaterstücken zu sprechen. In einer Phase, in der ich mehr als jemals zuvor das Gefühl habe, es nicht mehr zu können, es wirklich nicht mehr zu wissen, wie es gehen könnte für mich, in Zukunft.“ Ist die Lage der zeitgenössischen Dramatik wirklich so dramatisch?
Für Dramatikerinnen und Dramatiker ist dies tatsächlich die Frage aller Fragen: Wie lässt sich heute überhaupt noch für die Bühne schreiben? Nach der ästhetischen Wende ins Postdramatisch-Performative, nach kollektiver Autorschaft, Rechercheprojekten, Bürgerbühnen, Roman- und Filmadaptationen und neuen Formaten, bei denen nicht unbedingt ein niedergeschriebener Text im Mittelpunkt steht? Wie lässt sich ein zeitgenössisches Stück für die Bühne gestalten? Für Schauspielerinnen und Schauspieler? Für Körper im Raum, die Träger eines performativen Sprechaktes werden? Wie überführe ich das, was Welt heißt, Leben, Geschichte oder Zukunft, in einen Sprechtext? Wie organisiere ich Handlung, Szene, Sprache? Wie das Unverfügbare? Das Rätsel? Die Lücke? Was ist Realität, was Fiktion? Was mein Eigensinn, Ton, Stil?
Ähnlich wie Wolfram Lotz in seiner oben zitierten Hamburger Poetikvorlesung 2017 wollen wir uns in dieser sechsten Ausgabe der Reihe „Stück-Werk. Neue deutschsprachige Dramatik“ in 25 Porträts junger Dramatikerinnen und Dramatiker aus dem deutschsprachigen Raum auf die Spur des zeitgenössischen Schreibens begeben, dessen Spielfeld sich seit Erscheinen der letzten Ausgabe in dieser Reihe vor über zehn Jahren grundlegend verändert hat. Auch, weil uns in unserer Weltwahrnehmung, wie Kathrin Röggla in ihrem Einleitungsessay schreibt, die theatrale Deutlichkeit gerade gehörig abgeht? Was läuft da ab hinter der Wand? Wie übersetze ich dieses Tuscheln, das ich nur annähernd verstehe, für ein Theaterpublikum?
Sprache, schreibt Röggla, sei ein „Hochrisikobereich, voller Verheißung und Ansteckungskraft, ein Abgrund und ein Rettungsboot“. Und gerade deshalb ist der Umgang mit ihr im Theater ein Ringen, ein Kampf, ein Fanal, ein Feuerwerk, eine Explosion. Im Kontext des erweiterten Autorenbegriffs ist in diesem Sinne nicht nur eine neue, diversere Generation von Dramatikerinnen und Dramatikern auf den deutschsprachigen Bühnen herangewachsen, die Entwicklungen der letzten Jahre haben auch in ihren Texten formal wie thematisch produktiven Widerhall gefunden. „Stehen wir“, fragt sich Röggla“, sogar möglicherweise „am Beginn eines neuen Sprachhungers, einer neuen Bezugnahme auf die Sprache, die in ihrer sinnlichen und politischen Kraft verstanden wird?“
Mit seinen 25 Porträts wird auch dieses „Stück-Werk“ ein Stückwerk bleiben, einen Ausschnitt präsentieren aus der vielfältigen Landschaft des zeitgenössischen Schreibens für die Bühne – als Standortbestimmung, Werkstattbericht und Handbuch. Bühnensprache, sagt Röggla, sei das Mittel, uns Zukünftigkeit zu verschaffen. Reden wir also über neue Dramatik. Jetzt!
Dorte Lena Eilers und Anja Nioduschewski