Theater der Zeit

Thema

Heimkehr des Odysseus

Der deutsch-sorbische Schauspieler und Regisseur Mirko Brankatschk im Gespräch mit Gunnar Decker

von Gunnar Decker und Mirko Brankatschk

Erschienen in: Theater der Zeit: Frau Kulturstaatsministerin Grütters – greifen Sie ein!? (05/2016)

Assoziationen: Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen

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Herr Brankatschk, Sie gehören einer Familie an, die seit Generationen sorbische Traditionen pflegt. Der Onkel ihrer Großmutter, Johann Schneider, gründete das sorbische Theater, Ihre Mutter, Janina Brankatschk, war vierzig Jahre im Ensemble des Bautzener Theaters, ihre Schwester Anna-Maria ist hier ebenfalls Schauspielerin. Und auch Sie gehören seit 2003 dem Bautzener Ensemble an. Ist das eine ungebrochene Familientradition, in der Sie stehen?
Nein, nicht ungebrochen. Da gab es frühe Aufbrüche und Abbrüche. Der wichtigste Schritt in meinem Leben war, dass ich im September 1989 über Ungarn aus der DDR in den Westen geflohen bin.

Warum?
Ich war damals zwanzig und hatte eine Band, mit der wir in Dresden sogar zusammen mit Feeling B aufgetreten sind. Die wurde verboten. Ich wusste, dass ich in der DDR keine Zukunft hatte – mir war alles zu eng und zu dumm geworden. Ich wollte nur noch raus; ich ging ohne Abschied, ohne an Rückkehr zu denken. Nicht mal von meiner Mutter habe ich mich verabschiedet – sie hat mir verziehen.

Und wo gingen Sie hin?
Zuerst nach Stuttgart. Da habe ich mich nicht wohlgefühlt. Ich habe als ostdeutscher Migrant ähnliche Erfahrungen gemacht wie manch Flüchtender in unseren Tagen. Das war nicht die weite Welt, in die ich wollte. Also bin ich weiter nach London gezogen, um dort Filmemacher zu werden, habe auch Kurse belegt. Nach London bin ich durch das „Drake research project“ gekommen, das war ein Sozial- und Musikprojekt für körperlich Behinderte. Da wurden zum Beispiel Software und Technologien für Keyboards entwickelt, sodass man sie mit dem Mund, den Augen oder den Füßen bedienen konnte. Zugleich habe ich als Pfleger gearbeitet.

Dort fühlten Sie sich zu Hause?
Nicht zu Hause, aber doch sehr wohl. Beeindruckt hat mich das multikulturelle Zusammenleben. Ich fand die Szenerie ungeheuer anregend und kreativ. Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre für immer dort geblieben.

Und die sorbische Kultur, in der Sie aufgewachsen sind?
In London begann ich sorbisch zu träumen. In unserer Familie wurde ja zu Hause Sorbisch gesprochen, die Sprache war mir Heimat. Die sorbische Kultur hatte ich als Jugendlicher eher als etwas Folkloristisches wahrgenommen, all die Trachten und Bräuche beeindruckten mich damals nicht sonderlich. In London bekam ich Briefe von meinem Großvater, geschrieben in sorbischer Sprache. Die haben mich daran erinnert, dass es einen besonderen Ort in meinem Leben gibt. Man muss in die Fremde gehen, um sich seiner Wurzeln bewusst zu werden. Jedenfalls ging es mir so.

Bautzen?!
Ja, obwohl es mich als Jugendlichen von dort weggetrieben hatte, blieb das Sorbische in mir lebendig. Aus London zurück, habe ich in Leipzig Theaterwissenschaft studiert und danach fünf Jahre am Theater der Jungen Welt als Schauspieler gearbeitet. Nach 13 Jahren unterwegs zog es mich nach Bautzen zurück. Ich hatte inzwischen eine Familie gegründet.

Und da war Ihnen Bautzen dann nicht mehr zu eng?
Nein, denn ich hatte nun die sorbische Sprache und Kultur für mich entdeckt. Wenn man mehrsprachig lebt und am Theater auch mehrsprachig arbeitet, ist es niemals eng, sondern höchst intensiv. Das ist in Deutschland einmalig! Theater ist nicht nur identitätsstiftend, sondern trägt auch maßgeblich zum Erhalt und zur Entwicklung der Sprache bei. Darum beteilige ich mich auch an einem Theaterprojekt in der Niederlausitz, da das Wendische, wie dort das Niedersorbische genannt wird, nur noch wenig gesprochen wird.

Mały Mollerus?
Genau, ein wendischsprachiges Theaterprojekt an der Straupitzer Grundschule, das Uwe Gutschmidt, ein engagierter Lehrer, ins Leben gerufen hat. Überhaupt ist es wichtig, dass es Schulen gibt, wo nichtsorbische Schüler Sorbisch lernen können. Zwischen den beiden eigenständigen slawischen Sprachen Obersorbisch und Niedersorbisch gibt es auch noch den Schleifer Dialekt, den nur noch die Alten ohne Simultanübersetzung verstehen. Auch den pflegen wir am Theater und spielen einige Stücke in diesem Dialekt wie „Mein vermessenes Land“ von Jurij Koch über den Bergbau in der Region, ein Stück schon aus den siebziger Jahren, mit dem wir zum Sächsischen Theatertreffen eingeladen sind. Das ist auch etwas, das diese Region stark geprägt hat. Kürzlich bin ich mit meinen Kindern an einen dieser Seen gefahren, die angelegt werden, wenn die Tagebaue alle Braunkohle abgebaggert haben. Es sieht fast idyllisch aus. Da habe ich ihnen gezeigt, welche Ortschaften hier lagen, mit Häusern, Gärten, Schulen, Kirchen und Friedhöfen – das ist für immer verschwunden, diese Orte gibt es nicht mehr. Solcherart Entwurzelung muss bei den Menschen, die dort aufgewachsen sind, Narben hinterlassen, die nie verheilen. Was zurückbleibt, ist totes Land.

Setzen Sie sich so für den Erhalt der sorbischen Kultur ein, weil Sie fürchten, dass diese tatsächlich aussterben könnte?
Ich sitze in Bautzen auch im Stadtrat, da spürt man die besondere Verantwortung. Und die Gefahr des Aussterbens besteht – darum ist ja das Theater für das sorbische Volk so wichtig. Im vergangenen Jahr waren wir mit dem Theater nach Texas eingeladen. Dort leben die Nachfahren von Wenden. Wir konnten erleben, wie das ist, wenn eine kulturelle Identität verschwindet. Es waren Amerikaner, aber in ihren Herzen waren sie stolz zu wissen, dass diese kleine slawische Volksgruppe noch existiert. In der Niederlausitz ist es fast schon ähnlich. Darum will ich als Leiter des sorbischen Jugendtheaters in Bautzen den Versuch machen, auch Flüchtlingskinder darin zu integrieren.

Syrische Kinder, die Sorbisch lernen?
Warum nicht, Mehrsprachigkeit auf spielerische Weise erworben, kann doch für jeden nur eine Bereicherung sein!

Nun ist Bautzen wieder einmal in den medialen Brennpunkt geraten, auch wegen fremdenfeindlicher Übergriffe. Was ist Bautzen bloß für eine Stadt?
Die Jahrhunderte friedlichen Zusammenlebens von Deutschen und Sorben geben ein Beispiel dafür, dass das hier möglich ist. Ich erfahre Bautzen vor allem als weltoffene Stadt. Aber tatsächlich gibt es hässliche Dinge, die man nicht versteht. Etwa, wenn zu Ostern eine genehmigte Nazi-Demonstration stattfindet. Es waren dann vielleicht nur ein paar „Verwirrte“, die marschierten, aber der moralische Schaden für die Stadt war groß. Wir haben einen engagierten Bürgermeister, der hat sofort beim Landrat nachgefragt, wie das möglich sei, dass die Genehmigung erteilt worden ist – und es gab auch umgehend Gegenaktionen in der Stadt. Aber so etwas ist völlig inakzeptabel.

Wie reagiert das Theater auf die rechtsradikale Stimmungsmache?
Lutz Hillmann, der Intendant, ist da sehr entschieden in seiner Haltung. Nicht umsonst haben wir Max Frischs „Herr Biedermann und die Brandstifter“ als Puppenspiel im Programm – und wir veranstalten dazu auch Diskussionen. Darum finde ich es ja so wichtig, dass Menschen die Welt kennenlernen – und wenn sie in vielleicht zehn Jahren wiederkommen, haben sie garantiert einen anderen Blick auf sich selbst gewonnen.

Heimat und Fremde bleiben aufeinander bezogen?
Ich spiele hier die „Odyssee“ für Menschen ab acht. Das ist ein abenteuerliches Unterwegssein, gefährliche Irrfahren, die jedoch zur Lebensschule der intensivsten Form werden.

Letztlich nur eine Heimkehr auf Umwegen?
Auch praktisch habe ich den positiven Wert der Heimkehr erfahren. Natürlich ist das hier eine kleine Stadt, wo man sich kennt. Wenn ich beim Fleischer bin, spricht man mich mit Namen an und fragt nach der nächsten Premiere. Man darf sich hier nicht gehen lassen, spürt jederzeit die Verantwortung. Allerdings habe ich als Schauspieler und Regisseur auch einen besonderen Freiraum.

Den des Narren, der mehr wagen darf?
Etwas in der Art. Jedenfalls ist es eine Lebensform, die ich nicht mehr missen möchte. //

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