Thema: unterwegs in offener Landschaft
Langfassung des Gesprächs mit Wermke/Leinkauf und dem Zentrum für Politische Schönheit
von Matthias Dell und Mischa Leinkauf
Erschienen in: Theater der Zeit: Feuer und Eis – Theater im ostsibirischen Jakutsk (01/2015)
Assoziationen: Debatte
Kunst ohne Vorwarnung
Das Künstlerduo Wermke/Leinkauf und das Zentrum für Politische Schönheit über abgeschraubte Mauerkreuze, weiße Flaggen auf der Brooklyn Bridge und die Zukunft der Volksbühne im Gespräch mit Matthias Dell
Wir wollen über Kunst sprechen, die in den öffentlichen Raum geht und in der Tagespolitik ankommt. Vielleicht fangen wir mit einem konkreten Ort an, den Sie beide gut kennen: dem Berliner Regierungsviertel.
Mischa Leinkauf (Wermke/Leinkauf): Ganz aktuell – der Betonpfeiler in der Mitte der Doppelbrücke zwischen dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus und dem Paul-Löbe-Haus wackelt. Das haben wir neulich entdeckt. Ein tolles Bild: Der Pfeiler, über den die höhere Beamtenlaufbahn führt, wackelt. Wir haben da 2007 eine Arbeit gemacht. Sie heißt „Grenzgänger“. Unten am Fluss führt auf jeder Seite eine Treppe ins Wasser, die für die Deutsche Einheit steht, da sie Ost- und Westufer symbolisch verbindet. Früher verlief da der Grenzstreifen. Wir sehen Architektur als Angebot und haben dort einen Grenzübertritt nachinszeniert.
Und daran störte sich keiner?
Leinkauf: Wir haben das zu einer bestimmten Tageszeit gemacht, weil wir nicht wollten, dass da andere Leute unterwegs sind. Es sollte reduziert sein – nur die Architektur und der eine Mensch. Das war kein Problem. Das interessiert in Berlin auch tendenziell keinen.
Welche Erfahrungen hat das Zentrum für Politische Schönheit bei der Arbeit im Regierungsviertel gemacht?
Philipp Ruch (Zentrum für Politische Schönheit): Wir waren da schon öfters, mit mindestens fünf großen Aktionen. 2009 kamen wir auf Pferden geritten, um einen Anschlag mit Thesen auf den Bundestag zu verüben. Das ginge heute nicht mehr. Die Verwaltung hat das Parlament meterhoch abgezäunt, um es vom Volk fernzuhalten. Die Hässlichkeit der Sicherheitsarchitektur und ein allseits grassierender Terrorwahn werden immer schlimmer. Wir müssen uns im Regierungsviertel alle größeren Aktionen genehmigen lassen. Es geht nicht mehr ohne.
Kriegen Sie die Genehmigungen?
Ruch: Eigentlich schon. Die Wiese vor dem Bundestag gehört in die Zuständigkeit von fünf Stellen: Bundesinnenministerium, Bundestagsverwaltung, LKA, BKA und Grünflächenamt Mitte. Letzteres ist mit Abstand die schlimmste, weil die eine Bewässerungsanlage für eine halbe Million Euro im Rasen verbaut haben. Die darf nicht beschädigt werden, deshalb genehmigen die gar nichts. Wenn da eine Demonstration stattfindet, können Sie davon ausgehen, dass die nicht genehmigt ist. Der Mensch vom Grünflächenamt meinte damals, als wir die unbenutzten Bomben aus Srebrenica vor den Reichstag auf die Wiese legen wollten: „Das werden Sie nicht schaffen.“ Wir haben gefragt: Was brauchen Sie? Einen Anruf vom Papst? Er lachte und meinte, einer der Ausschüsse des Bundestages müsse das Projekt befürworten. Eine Woche später rief er zerknirscht an. Der Menschenrechtsausschuss des Bundestages hatte sich hinter die Aktion gestellt.
Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls haben Sie letzten November den „Ersten Europäischen Mauerfall“ initiiert. Eine Aktion, bei der weiße Kreuze, die im Regierungsviertel an die Mauertoten erinnern, abgeschraubt und an die EU-Außengrenzen gebracht wurden. Hatten Sie dafür eine Genehmigung?
Ruch: So direkt nicht. Wir haben beim aktuellen Projekt eher mit suprastaatlichen Genehmigungen gearbeitet. Wir haben etwa Rupert Neudeck (Cap-Anamur-Gründer, Anm.d.Red.) gefragt, ob wir die Mauer einreißen dürfen. Der meinte: Was heißt dürfen? Wir müssen!
Aber beim Abschrauben hat Sie dann keiner gestört? Es ist der Politik überhaupt erst durch das Video, das die Aktion kommuniziert hat, aufgefallen, dass die schmerzlich vermissten Kreuze fehlen.
Ruch: Wir befinden uns in einem laufenden Ermittlungsverfahren. Ich habe eine Ladung erhalten wegen schweren Kunst- und Antiquitätenraubs. Aber da die Tatzeit inzwischen klar zu sein scheint, darf ich Ihnen sagen: Wir haben ein Theaterstück für und vor den Sicherheitskameras in der Bannmeile aufgeführt. Es ist nicht so, dass da einfach zwei Leute Kreuze abschrauben können mit ihrer „heldenhaften Attitüde“, wie Norbert Lammert das genannt hat. Das waren sechzig Darsteller, und die Attitüde war eher die von Facharbeitern, Reisegruppen, Literaturzirkeln. Da stecken Monate der Vorbereitung drin. In zehn Jahren ist die Zeit dann vielleicht reif, dass das ZDF die Überwachungskamera-Aufnahmen zeigen kann. Das sind Höhepunkte des Theaters.
André Leipold (Zentrum für Politische Schönheit): Selbst die, die dabei waren, haben nichts gemerkt. Als die Kreuze weg waren, haben die gefragt: „Worum ging's jetzt? Was war die Aktion?“ Eigentlich sind diese Kreuze den Leuten nämlich egal. Die hingen da, abgeblättert, einsam, verlassen, überstrahlt von einer Lichterkette. Jetzt haben sie wieder Aufmerksamkeit.
Ruch: Plötzlich waren diese Kreuze staatstragend, und Kunst wurde kriminalisiert, ein denkwürdiger Moment. Das Gorki Theater wurde mit über 100 Mann von der Bundespolizei umstellt. Wenn einem Kritiker das Stück im Deutschen Theater nicht passt, dann schickt der doch auch nicht die GSG 9. Shermin Langhoff hat, als die Busse an die EU-Außengrenzen aufbrachen, in ihrer Abschiedsrede eigentlich alles gesagt: „Die Geschichte ist kein ruhiger Ort. Sie muss uns aufregen und belasten. Der Reflex in der Politik, Kunst, sobald sie die Grenzen eines traditionellen Kunstbegriffs verlässt, nicht als Kunst anzuerkennen und für irre oder gar verbrecherisch zu erklären, macht mich betroffen.“
Leipold: Eigentlich ist das erschreckend. Kluge Leute würden bei Wikipedia nachlesen und sehen, worum es sich bei dem Zentrum für Politische Schönheit handelt. Der Staatsschutz hat das getan. Die Boulevardmedien haben stattdessen wahnsinnig viel Gift versprüht. Damit wird jemandem wie dem Berliner Innensenator Frank Henkel eine Grundlage gegeben, uns zu kriminalisieren, uns zuzutrauen, dass dem europäischen Gebilde irgendein Schaden zugefügt wird. Ich finde das erschreckend. Dass da gar nicht der Gedanke aufkommen kann, dass das vielleicht anders gemeint ist.
Wermke/Leinkauf haben im Sommer 2014 auf der Brooklyn Bridge in New York die amerikanischen Flaggen gegen weiße ausgetauscht, die aber genauso aufgebaut waren, also Stars and Stripes, bloß weiß. Mit der Frage nach einer Genehmigung wären Sie vermutlich nicht so weit gekommen.
Leinkauf: Wie fragen nie nach Genehmigungen. Das ist kein Dogma, das entsteht einfach aus den Orten, die uns interessieren. Da bringt es nichts, zwei Jahre lang eine Genehmigung zu besorgen. Das könnten wir nicht finanzieren. Außerdem ist es Teil unseres politischen Statements zu sagen: Wir sehen die architektonische Grenze, die private Eigentumsgrenze nicht. Wir gehen dahin, weil wir der Meinung sind, da ein Bild kreieren zu können, das uns wichtig ist. Das wird alles sehr lange recherchiert und getestet, damit so wenig wie möglich schief gehen kann. Meistens haben wir nämlich nur einen Versuch.
Wenn es die Genehmigung überhaupt gegeben hätte – das wäre nicht die gleiche Aktion gewesen. „White American Flags“ lebt ja davon, dass Sie einem hochmilitarisierten Sicherheitsapparat die Hörner aufsetzen – das aber ganz ohne Häme oder Aggression, sondern durch Charme, durch liebenswürdige Friedfertigkeit.
Leinkauf: Das wurde auch sehr wohlwollend aufgenommen am Anfang. Die Fahnen hingen da fünf Stunden, und in der Zeit waren wir da unterwegs, haben mit Leuten geredet, gehört, was die gesagt haben. Für sie ging keine Gefahr von den Flaggen aus. Die Leute haben spekuliert, was das soll, etwa, dass damit das Flaggenhissen geübt werden soll. Absurde Geschichten, aber alle mit einem Lächeln erzählt. Den Bruch gab es, als 11 Uhr der Polizeieinsatz losging, dessen Größe man sich in Deutschland nicht vorstellen kann. Da war alles anders, und zwar völlig.
Ruch: Fühltet ihr euch kriminalisiert?
Leinkauf: Wir haben gespürt, dass ab dem Moment eine gewisse Gefahr von den Flaggen ausging. Das bezieht man doch sehr schnell auf sich. Und da spielt dann alles rein, was ich in den letzten Jahren medial wahrgenommen habe davon, was die USA alles schon über mich wissen, bevor ich's selber weiß.
Sind Sie dann gleich abgereist?
Leinkauf: Ein paar Tage waren wir noch da.
Ruch: Ob ihr je wieder einreisen dürft?
Leinkauf: Die Frage stellt sich nicht, aber das wussten wir vorher. Aktuell wird ein neues Gesetz auf den Weg gebracht, das die Besteigung öffentlicher Gebäude in New York als Verbrechen ahnden will mit bis zu fünf Jahren Haft.
Eine „Lex Wermke/Leinkauf“. Aus einer fernen Perspektive könnte man sagen, dass das doch ein Erfolg ist, wenn Kunst so wichtig genommen wird. Das ist so ähnlich, wie die heftigen Äußerungen vonseiten der Politik beim „Ersten Europäischen Mauerfall“. Wenn der zweite Mann im Staate sich gezwungen sieht, im Parlament Ihre Aktion zu verurteilen mit Worten, die wie ein Sondereinsatzkommando klingen, dann bedeutet das doch, dass das Zentrum für Politische Schönheit einen wunden Punkt getroffen hat. Darin ist die Aktion schon Erfolg, deshalb mussten Sie gar nicht bis zum Zaun in Bulgarien vordringen. Oder sehen Sie das anders?
Leipold: Ich hätte schon gern das Loch in der Mauer gesehen, das war das Ziel. Aber wir können von einem großen medialen Erfolg reden, von angestoßenen Debatten. Dass wir uns in Interviews über die Grenzen der Kunst unterhalten, war nicht intendiert. Wir wollten ein ganz anderes Signal haben.
Wenn Sie das Loch gewollt hätten, hätten Sie doch ohne Bohei dahin fahren können. Quasi der Wermke-Leinkauf-Ansatz. Das wäre nur eine andere Aktion gewesen. In meinen Augen war Ihre Arbeit zuerst und richtigerweise auf den medialen Diskurs bezogen: dass um den 9. November herum die seligen, rückwärtsgerichteten Mauerfallfeiern nicht zu haben sind, ohne die Nachrichten, die Sie produzieren – und die ein aktuelles Problem assoziieren.
Ruch: Wir haben vieles in Erwägung gezogen. Am Anfang ging's stark darum, Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Mauerfalls zu verhindern. Da gab es Pläne, die auch funktioniert hätten, glaube ich.
Kann man sagen, welche?
Ruch: Die Sprinkleranlagen im Konzerthaus am Gendarmenmarkt haben uns schon sehr interessiert. Da saß am 9. November um 16 Uhr die ganze Bundesrepublik zusammen, und wir hätten die Möglichkeit gehabt, da ranzukommen. Nicht nur im Mittelmeer kann man baden gehen.
Die Fahrt der Busse, aus denen die Leute getwittert haben, hat sich ideal synchronisiert mit den Anforderungen der gegenwärtigen Mediengesellschaft – Sie sind mit dem Start am Donnerstag vor dem 9. November permanent in die News-Timeline zu den Feierlichkeiten gefahren.
Ruch: Der Versuch war eigentlich, dass die Kreuze so viel Aufmerksamkeit ziehen, dass wir mit den Bussen unbemerkt losfahren können. Das hat begrenzt geklappt in den deutschen Medien. Die haben die Busse erst mal nicht beachtet. Dafür haben die bulgarischen Medien Wind von der Sache bekommen. Da war es natürlich schwer, unbemerkt an die EU-Außengrenze zu fahren, um sie abzubauen.
Wie bewerten Sie die Aktion im Nachhinein? Es gab ja auch ernster zunehmende Kritiken als die von der CDU. Etwa, dass dann am Zaun in Bulgarien nichts vorbereitet war, nichts inszeniert wurde.
Leipold: Mit den Fragen hatten wir uns vorher beschäftigt. Wir hatten auch mal überlegt, die ganze Aktion zu inszenieren. Gegen eine Inszenierung am Zaun in Bulgarien haben wir uns dann entschieden, weil das bedeutet hätte, die Mitreisenden in den Bussen als Statisten zu instrumentalisieren.
Manchen kam das dennoch so vor, da haben sich Leute embedded gefühlt.
Leipold: Wenn sie cool sind, dann fühlen sie sich nicht instrumentalisiert, sondern inspiriert von dieser neuen Situation. Darum geht es bei all unseren Arbeiten – einen Resonanzboden zu schaffen, von dem aus Leute weiterarbeiten können. Aktivisten, Journalisten. Die „Krauss-Maffei Wegmann“-Kampagne, bei der wir für Hinweise auf die Personen hinter dem Waffenhandel 25 000 Euro Belohnung ausgesetzt hatten, hat viel Berichterstattung ausgelöst, die Journalisten fühlten sich dadurch animiert, weiter zu recherchieren. Am Ende wurde der größte deutsche Waffendeal der Nachkriegsgeschichte verhindert. Und vor allem: Hätten wir was inszeniert am Zaun in Bulgarien, wären die, die sich instrumentalisiert gefühlt hätten, erst recht nicht dabei gewesen.
Haben Sie Verständnis dafür, dass es Vorwürfe von Mitfahrern produziert, als Sie „bequem“ mit dem Flieger nach Sofia reisten?
Leipold: Wir machen eine bestimmte Art von Theater, das in der Öffentlichkeit stattfindet. Wir müssen vor Ort sein, um auf die Anfragen dieser Öffentlichkeit zu reagieren. Das ist unser Handwerkszeug. Das habe ich nicht, wenn ich im Bus sitze.
Ruch: Das war uns klar, dass das nicht für gute Stimmung sorgt, wenn Journalisten mitfahren. Darum haben wir versucht, es ihnen auszureden. Wir haben auch die Aktivisten in den Bussen, die unsere Helden sind, mehreren Härtetests unterzogen. Das sind Leute, die nach 40, 45 Stunden Fahrt mit wenig Schlaf, bestens gelaunt an der EU-Außengrenze standen. Im Dienst für die Menschheit. Das ist schon Wahnsinn. Wir planen unsere Aktionen jedenfalls nicht so, dass sie gute Presse haben. Uns ging es eher darum, einen EU-Außenmauerfall zu feiern, Menschen die Möglichkeiten zu geben, diese Mauer einzureißen.
Ihre Anwesenheit in den Bussen wäre eher die Marina-Abramović-Variante der Arbeit. Aber weil Sie Medien brauchen, müssten Sie sich doch trotzdem überlegen, wie Sie auch mit unpassenden Wahrnehmungen umgehen. In einem Beitrag aus dem RBB-Kulturmagazin sagen Sie, Herr Ruch, dass die Flüchtlinge sekundär sind. Ich verstehe, dass die Frage falsch ist. Aber ich hätte die Sorge, dass das viele Zuschauer nicht so sehen.
Ruch: Die Flüchtlinge sind nicht sekundär. Aber ich fürchte, der „Erste Europäische Mauerfall“ wird einem Flüchtling in Bulgarien unmittelbar wenig geholfen haben. Ich bin da bescheiden. Aktionskunst kann dafür sorgen, dass eine Gesellschaft sich selbst erkennt. Das ist wie „Mausefalle“ im „Hamlet“: Wir können der deutschen Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Die CDU sieht darin übel aus, die hat entsprechend aufgeschrien. Mittelbar vermag nur diese Selbsterkenntnis die Flüchtlingsabwehrpolitik der Bundesregierung zu Fall zu bringen.
Meine Frage wäre, wie man sich wappnet gegen blöde Journalistenfragen.
Leipold: Durch Schauspieler. Bei uns machen Schauspieler die Pressearbeit. Medien brauchen häufig doch eh nur ein Gesicht, aus dem der O-Ton rausfällt.
Ruch: Die Lokalredaktionen von mehreren großen Berliner Tageszeitungen übten sich nach dem „Europäischen Mauerfall“ in pseudo-investigativen Fragen: „Was sagen sie zu den Rückzahlungsforderungen der CDU?“ Ich habe dann immer nachgefragt: Welches Ressort? Berlin? Wir reden eigentlich nur mit ihrem Feuilleton, weil die verstehen, was wir machen. Aber weil Sie es sind, kriegen Sie jetzt unsere Rückzahlungsforderung an die CDU. Das Stück war wahnsinnig teuer. Wir brauchen noch 190 000 Euro. Das sollen die mal schnell locker machen. Und dann merkt der Anrufer erst, dass das mit seinen pseudo-investigativen Fragen, aus denen irgendein Artikel werden soll, nichts wird.
Wermke/Leinkauf haben verglichen damit fast keine Presse. Das habe ich gemerkt, als ich Leuten von Ihnen erzählt habe: Von den Fahnen auf der Brücke hat irgendwie jeder schon mal gehört. Dass das zwei Berliner Künstler waren, weiß keiner.
Leinkauf: Wir planen unsere Aktionen abseits der Presse. Uns nützt Presse nur für die Ausstellungen, in denen wir unsere Arbeiten dann präsentieren. Wenn wir mit einer Draisine ohne Publikum durchs Berliner U-Bahn-Netz fahren, ist das auch kein Thema für die Presse. Bei der Aktion auf der Brooklyn Bridge war das anders wegen der Symbolhaftigkeit, weil es ein neuralgischer Ort ist. Da war klar, dass das Medien interessiert.
Sie haben sich aber zurückgehalten mit Auskünften.
Leinkauf: Das New Yorker Polizei-Department hat drei Wochen lang versucht, das Rätsel der „White American Flags“ zu lösen. Dann haben wir der New York Times ein Interview gegeben und die haben das dann veröffentlicht für uns. Ab da war klar, dass wir das waren. Es gab dann unzählige Presseanfragen, 95 Prozent davon haben wir ganz bewusst abgelehnt.
Mit dem Erfolg, dass Sie hinter der Aktion verschwinden.
Leinkauf: Was für uns ganz wichtig ist: Wir sind doch nicht dazu da, unsere Kunst zu erklären. Wir setzen uns Ewigkeiten vorher hin und überlegen uns: Wie sprechen wir? Was ist unsere Sprache? Und da haben wir unsere Lösungen und ihr vom Zentrum habt eure.
Leipold: Genau, das was wir zu sagen haben, steht doch schon da.
Leinkauf: Das können sich die Journalisten angucken und darüber schreiben. Das haben wir den meisten auch gesagt: Fragt doch Kuratoren oder Politiker, was sie davon halten. Wir haben gesagt, was wir zu sagen haben – durch die Aktion. Was nicht heißen soll, dass wir nicht gern darüber reden, der Austausch über Hintergründe ist wichtig für einen öffentlichen Diskurs. Es bleiben natürlich immer Fragen offen, das wird beim Zentrum für Politische Schönheit nicht anders sein. Das ist total wichtig, diese Ambivalenz, weil der Zuschauer die dann auffüllen kann mit seinem eigenen Hintergrund: Ich sehe es so, du siehst es so. Das ist doch gut!
Was Sie beide, Wermke/Leinkauf und das Zentrum für Politische Schönheit verbindet, ist die Schönheit. Beim Zentrum ist sie Teil des Namens …
Ruch: Politische Schönheit. Es geht darum, das zusammenzubringen, was in der Wahrnehmung scheinbar nicht zusammen gehört …
… bei Wermke/Leinkauf hieß es in der New York Times-Erklärung, es sei bei „White American Flags“ um die „Schönheit des öffentlichen Raumes“ gegangen.
Leinkauf: Das wurde sehr oft zitiert: „beauty of public space“. Willkommen im Journalismus! Da werden Dinge aus dem Zusammenhang gerissen, copy and paste, das machen alle, aber wirklich alle. Darauf reduziert sich dann alles. Dabei steckt selbstverständlich mehr dahinter. Aber wie gesagt: Wir überlassen die Interpretation lieber dem Betrachter.
Mir ist schon klar, dass die Aktion mehr will und erzählt. Es geht nur um den Grund, aus dem wir hier sprechen, das, was Sie in meinen Augen verbindet: Sie intervenieren beide in Bereichen, die sehr machtvoll sind: amerikanische Selbstwahrnehmung und die Penetranz einer völlig sinnentleerten Gedenkroutine. Die Macht dieser Diskurse unterlaufen Sie durch Schönheit; das ist der Begriff, der Ihnen Raum verschafft, der etwas bewirkt, eben weil er nicht aggressiv ist. Letztlich ist man damit wieder beim Begriffsgrund der Kunst: Schönheit, Aisthesis, Wahrnehmung. Sie irritieren festgefahrene Wahrnehmungen. Oder wie würden Sie Schönheit definieren?
Leinkauf: Mir ist das Bild wichtig, das wir machen von beziehungsweise mit der Aktion. Deshalb besteht die eigentliche Arbeit gerade auch darin zu überlegen, wie wir mit dem Material zu „White American Flags“ im Ausstellungsraum umgehen. Wir haben sehr viel Bildmaterial. Selbst erstellt, aber auch durch das große Presseecho. Das werden wir destillieren. Darüber hinaus würde ich Schönheit daran festmachen, ob unsere Bilder jemanden inspirieren.
Leipold: Schönheit ist eine Illusion. Schön ist, etwas, das sich in irrelevanten Datenströmen auflöst, auf eine zeitlose Ebene zu heben.
Ruch: Zeitferne. Politische Schönheit ist eigentlich moralische Schönheit. Wir suchen nach Akten politischer Schönheit. Wir denken an den Ausstellungsraum, allerdings an den am Ende des Jahrhunderts. Eigentlich wollen wir Otto Dix für das 21. Jahrhundert sein. Wenn die Leute, die später Artikel über unsere Gegenwart schreiben, die Kunst vom Zentrum hervorholen müssen, weil die erst etwas über diese Zeit aussagt. Deshalb sind neben Medien für die Verbreitung auch die Menschen wichtig, die Arbeiten von uns gesehen haben. So wie Leute, die damals bei Peter Stein in der Schaubühne saßen, heute noch davon erzählen. Dass man in ein paar Jahrzehnten sagt: Das war der Höhepunkt des Theaters, damals, jetzt ist alles vorbei!
Was Sie unterscheidet, ist die Disziplin. Wermke/Leinkauf machen bildende Kunst.
Leinkauf: Wir haben im Kino angefangen, auch weil ich aus dem Filmbereich komme und immer noch Filme mache. Aber für uns war das irgendwann nicht mehr der richtige Ort – auch wegen des Zwangs, da sitzen zu bleiben, sich das anzugucken, weil das einkanalig war. Das find ich im Ausstellungsraum angenehmer. Da gehe ich rein, und wenn es mich nach dreißig Sekunden nicht interessiert, dann kann ich auch wieder rausgehen. Das finde ich sehr frei. Ich kann mir aber auch etwas fünfmal hintereinander angucken, wenn mich da etwas reizt. Das geht im Kino nicht. Die Arbeiten, die ich mit Wermke mache, die passen da nicht hin.
Warum nicht auf YouTube?
Leinkauf: Ich will nicht, dass die Leute abgelenkt werden, dass sie hier noch was gucken und da drei Sekunden. Weil es bei der Schausituation auf Youtube meistens, ums Spektakuläre geht. Da ist dann das, was hängen bleibt: Krass, die sind mit ner Draisine in der U-Bahn gefahren. Darum geht’s aber nicht wirklich in unserer Arbeit. Dazu kommt, dass wir keine Nachahmer wollen. Manche Aktionen von uns würden sich auf YouTube sicher gut verkaufen. Aber mir ist die Gefahr zu groß, dass die Kids auf die Idee kommen, im U-Bahn-Schacht Draisine zu fahren. Das wollen wir nicht verantworten. Deshalb sind wir in der Galerie: weniger Leute, dafür bewussteres Sehen.
Ruch: Nachahmer mag ich auch gar nicht.
Ich dachte, die Leute sollen den Geist des „Ersten Europäischen Mauerfalls“ weitertragen?
Ruch: Nein, ich meinte nur die Kreuze, die braucht man nicht noch mal abzuschrauben. Der Staatsschutz hatte uns übrigens gebeten, beim Wiederanbringen Schrauben zu benutzen, die nicht jeder abkriegt. Die denken da präventiv. Eine Ausnahme wäre natürlich, wenn der Europäische Mauerfall zum Theatertreffen eingeladen wird. Dann müssen die Kreuze noch mal weg, das ist klar.
Warum verortet sich das Zentrum im Theater und nicht in der Galerie?
Ruch: Haben Sie uns jemals mit Pastellfarben und Leinwand gesehen? Wir benutzen sämtliche theatralen Mittel: Schauspieler, die Gewerke, Bühnenbild, Dramaturgie, das brauchen wir alles. Nur das Theater selbst brauchen wir nicht.
Leipold: Es ist ein metaphysisches Theater.
Ruch: Uns interessiert diese Zuschreibung nicht: Hier ist der Kasten, hier kannst du rein, hier wirst du nicht verwundet. Stattdessen gehen wir raus und verwunden irgendwelche Bürger, die uns heute noch schreiben, dass sie syrische Kinder in Pflege nehmen wollen. Solche Zuschriften kriegen wir täglich. Das ist ganz wichtig. Warum soll Kunst einem immer nur mit einer Vorwarnung begegnen? Warum soll man sich aussuchen können, wo und wann man der Kunst begegnet?
Das heißt, ein Haus zu übernehmen, würde Sie nicht interessieren? Das Berliner Ensemble ist jetzt ja erstmal weg, aber die Castorf-Nachfolge steht noch aus.
Ruch: Das würden wir sofort machen. Schreiben Sie das ruhig: Das Zentrum für Politische Schönheit steht bereit, die Volksbühne zu übernehmen und zu ihrer Glanzzeit zurückzuführen. Diese Botschaft muss raus.