Kolumne
Meine polnische Familie
Ein Mann trinkt Wodka, ein anderer schaut zu
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Sound der Algorithmen – Schwerpunkt Musiktheater (03/2021)
Assoziationen: Debatte
Gut ist es, wenn du jemanden kennst, der ein Theater hat. Und der dich in diesen Tagen hineinlässt. Gut, dass ich Czesław kenne. Hinten im Hof liegt das Kammerspielchen, wie er es nennt, und das Wort Kammerspielchen steht auch rechts vom Eingang. Aber oben, auf der roten Fassade, steht groß und auf Polnisch: TEATR. Siehst du, sagt Czesław, so haben wir zwei Buchstaben eingespart.
Jedes Mal, wenn ich im Ruhrgebiet bin, steige ich im Gdańska ab, am Altmarkt im Zentrum von Oberhausen. Es ist auch schon vorgekommen, dass ich zwei, drei Monate blieb. Ich glaube, es war am Ende meines ersten Aufenthalts, als Maria, Czesławs Frau, zu mir sagte: Wir adoptieren dich. Sind zwar spät dran damit, du bist ja schon groß, aber das machen wir jetzt einfach. Seither habe ich eine polnische Familie.
Meine Geschwister sind selten da, denn auch sie sind schon groß. Die Schwestern sind Ärztinnen, eine in Berlin, eine in Wolfratshausen, der Bruder ist Ingenieur und lebt in Koblenz. Nur einmal haben wir uns alle zusammen gesehen, vor ein paar Jahren, als Czesław und Maria gemeinsam Geburtstag feierten, es könnte der 130ste gewesen sein, aber sicher bin ich mir nicht. Sicher ist nur, dass halb Oberhausen zum Gratulieren kam.
Kaum durch die Tür, bist du im Foyer. In der Ecke erhebt sich die Bar. Czesław bringt zwei Gläser mit polnischem Wodka. Im Theater setze ich mich in die dritte Reihe von vier langen und zwei kurzen. Auf der Bühne stehen, einer neben dem anderen, drei verwaiste Polsterstühle. Czesław hockt sich auf die Rampe, ruft hey!, damit wir Na zdrowie! rufen und trinken. Mehr braucht es nicht für Theater. Ein Mann hockt auf der Bühne und trinkt Wodka, und ein anderer schaut zu (und trinkt mit). Ich frag ihn nach Helge Schneider, und Czesław erzählt. Denn Helge Schneider war schon früh dabei, als das Gdańska noch eine kleine verrauchte Kneipe war, mit einem Podium für die Musiker. Hier hat er auf dem Klavier gespielt, und noch heute ist er ein- bis zweimal im Jahr zu Gast.
Am Altmarkt, nur ein paar Schritte weiter, steht das Schlingensief-Haus. Hier hat, sagt die Gedenktafel, Prof. Christoph Schlingensief von 1960 bis 2010 gewohnt, ganz so, als wäre er nie aus Oberhausen herausgekommen. Unten war einst die Apotheke vom Vater. Und wenn Christoph durch die Marktstraße ging, sagen die Leute, war er einer von ihnen und wollte auch gar kein anderer sein. Ich erinnere mich, wie er über seinen Vater gesprochen hat. (Und sprunghaft daran, dass er mir aus Afrika ein Fax mit Elefantendung geschickt hat.) Dass das Schlingensief-Haus in der Nachbarschaft liegt, passt gut. Ebenso gut passt, dass die Kirche der Angst am Altmarkt aufragt. In der Kirche Herz Jesu ist Christoph Ministrant gewesen, und er hat ihren Altar für die Ruhrtriennale in Duisburg nachbauen lassen. Schon damals, 2008, kämpfte er gegen den Krebs. Vollständig heißt der Titel: „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“. Vorm Gdańska saßen Christoph und Helge gern auf ein polnisches Bier zusammen. In frühen Schlingensief-Filmen spielte Helge tapfer mit.
Einmal wurde im Gdańska das Stück „Emigranten“ von Sławomir Mrożek inszeniert, und zwar im Saal. Denn damals gab es das kleine Theater noch nicht, das Kammerspielchen war eine Kirche für die apostolische Gemeinde. Geprobt werden musste auch irgendwo, also nahmen sie den wüsten Speicher, in dem sich heute mein Apartment befindet. Damit sich die Schauspieler wohlfühlten, verkleidete Czesław die Wände mit Papiertapeten. Für Künstler tut er so gut wie alles. Nichts ist zu abwegig, zu absurd oder zu psycho, als dass er ihm nichts abgewönne. Er stammt, genauso wie Maria, aus der Gegend von Danzig, schloss sich der Solidarność an, wurde Ozeanograf und arbeitete als Mathematiklehrer. Auch Maria war Lehrerin, für Physik und Chemie, später auch in Deutschland. Auf der Hauptschule musste sie Streit schlichten und putzte einen türkischen Schüler herunter. Der tat empört: Was gegen Ausländer oder was? Nein, sagte sie, gegen Ausländer nichts. Aber gegen Arschlöcher. Gdańska heißt: auf Danziger Art.
Bei meiner polnischen Familie gibt es jeden Tag Mittagstisch, um eins, was zu früh für mich ist, so kurz nach dem Frühstück. Aber manchmal schaffe ich es, dabei zu sein. Maria fragt: Was ist nur los mit euch? Du kommst her und triffst dich mit Hooligans. Und ein Filmemacher, der kürzlich hier war, will einen Frauenmörder porträtieren. Liegt das an Corona? Dass ihr in die Abgründe starrt?
Ich weiß es nicht, Maria.
Im Restaurant, in dem zurzeit alles still ist, hängt Kunst an den Wänden. Hin und wieder zeigen sie eine Ausstellung. Von einem polnischen Künstler stammt das beeindruckendste Werk, ein schweres Stück Holz an der Wand, um das sich der Länge nach ein Tau wickelt: das letzte Rettungsbrett. //