Theater der Zeit

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Free Oper!

Das Regietheater in der Oper ist an ein Ende gekommen. Statt Werke oberflächlich zu aktualisieren, sollte die Regie Ereignisse schaffen, die gesellschaftliche Affekte radikal erfahrbar machen

von Michael von zur Mühlen

Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)

Assoziationen: Akteure Oper Halle

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Die Oper steht vor einem Dilemma: Wir beschäftigen uns mit einem immer enger werdenden Repertoire mittels ästhetischer Strategien, die an ihr Ende gekommen zu sein scheinen. Das innovative Moment, Opern immerfort auf der Ebene der Narration neu zu interpretieren und zu übermalen, ist in sein Gegenteil gekippt. Hören wir auf, den Leichnam zu schminken. Wo das Regietheater in der Kollision von Werken und zeitgenössischen Themen lange ein Antrieb war, Sehgewohnheiten zu verschieben und die Werke einer neuen Erfahrung zu öffnen, ist die aktualisierende Regie heute selbst zur erwartbaren Konvention geworden und stellt eine Sackgasse dar. Die Zitrone ist ausgepresst, wir drücken zum zehnten Mal die Schale durch. Das Problem ist dabei nicht nur die Zitrone, sondern dass es nur noch Zitronen gibt, dass die ästhetischen Mittel der Oper uniform in Erscheinung treten und keine kritische Diskussion um neue Möglichkeiten der Darstellung entsteht. Gleichzeitig ist das Problem der zeitgenössischen Oper nicht gelöst, und die meisten Opernhäuser drücken sich darum, das Problem zu lösen. Dabei will, kann und muss die Oper eine Kunstform sein, in der die Gesellschaft der Gegenwart in ihren Schmerzpunkten erfahrbar wird.

Das Regietheater war auch eine Reaktion auf die mangelnde zeitgenössische Produktion. Der schmerzlich fehlende Zeitbezug konnte nur durch das Regietheater gerettet werden. Es wurde auf ein Defizit reagiert, das Problem bleibt aber bestehen. Es geht nicht um einen Vatermord und nicht darum, zeitgenössische Opernproduktion gegen das Repertoire auszuspielen – je nachdem, wie ein Künstler seinen Bezug zur Gegenwart findet, müssen die Vorlagen gewählt werden. Aber es muss konstatiert werden, dass eine Kunstform, deren Repertoire zu maximal 15 Prozent zeitgenössisch ist, seine Lebendigkeit auch deshalb verloren hat. Die Oper hat gerade im Hinblick auf ihr Material wichtige Entwicklungen und Produktionsweisen gegenüber den zeitgenössischen darstellenden Künsten verpasst.

Was ist die Kraft von Oper? Sie bietet in ihrer Eigenschaft als höchst artifizielle und zusammengesetzte Kunst eine Form, gesellschaftliche Zustände bigger than life zur Darstellung zu bringen und kenntlich zu machen. Das ist nicht über ein Abbilden von Wirklichkeit zu erreichen, sondern nur mit ihrer Überhöhung in konkret gedachten und seiner eigenen Zeit bewussten Sinnbildern. Aber nicht aus der Perspektive des Wissenden und vom Standpunkt eines vermeintlich moralisch Besseren – dazu sind wir alle zu sehr verstrickt. Allein die Tatsache, am Theater zu arbeiten, enthebt uns nicht systematisch bedingter blinder Flecken.

Im Sinne der Zitrone muss es darum gehen, die ausgepresste Zitrone kenntlich zu machen: offen die Vergänglichkeit der eigenen Arbeitsgewohnheiten zu zeigen und zu fragen, mit welchen gesellschaftlichen Erfahrungen diese Vergänglichkeit korrespondiert. Nur auf dieser Basis ist es möglich, zu untersuchen, was Oper noch auslösen kann. Sie als etwas Untotes zur Erscheinung zu bringen, um sich auf das unerwartet Gegenwärtige einlassen zu können, jenseits der aktualisierten Geschichte. Statt in erster Linie die Narration oberflächlich zu aktualisieren, können auf der Bühne der Oper – und das war tatsächlich schon immer so – Gefühlshaushalte an die Oberfläche kommen, die die Gesellschaft sonst unterschwellig grundieren. Aber Musik auf Psychologie der Figuren zu reduzieren und allein dadurch zu erklären, führt immer wieder nur in den Wohnraum und in die Küchenpsychologie der eigenen kleinbürgerlichen Erfahrung. Die Wendung zur Psychologie des Einzelnen ist und war aber nie die alleinige Grundlage der Oper. Es ging immer auch um den Gefühlsaustausch mit dem Publikum und dessen kollektiven gesellschaftlichen Ängsten, Sehnsüchten und Erwartungen und auch um unmittelbaren Spaß und Genuss.

Relevanz und Aktualität entstehen in diesem Sinne nicht über den zitathaften Verweis auf die Nachrichten von gestern und vorgestern (wir spielen ja nicht Memory) oder diese oder jene aktuelle Entsprechung für die Erzählungen und Figuren der Oper, sondern über ein radikales Ausstellen der Zustände gesellschaftlicher Natur, der damit verbundenen Affekte und der eigenen Involviertheit in diese Zustände. Die Sänger als darstellende und singende Menschen spielen hier eine zentrale Rolle. Alle stellen sich heute in den Dienst der Sache, also der psychologisierenden Regie. Wo ist aber der Platz für das Ereignis? Sänger müssen Autonomie bekommen und befreit werden. Handwerk darf auch sängerisch nicht nur auf lupenreine Interpretation der Musik abzielen: Es muss um überschreitenden Ausdruck gehen, im Spiel wie im Gesang. Psychologie darf das nicht erklärend auflösen, da sie diese Zustände zu verhindern droht. Den Zuständen muss man sich aussetzen, um über den Umweg des Gefühls ein anderes Denken und Erkennen zu ermöglichen. Denn es geht hier nur vordergründig um Überwältigung. Ginge es nur um Überwältigung, wären wir in der Orgie, der stumpfen Überschreitung, oder dem Musical, der totalen Affirmation.

Eine andere Oper braucht nicht zuletzt andere Organisationsstrukturen, und die fangen bei der Leitung an. Die Zeit der Patriarchen ist vorbei, Kunst lässt sich nicht von oben verordnen. Die Erwartungen und die Zielsetzungen an ein modernes Musiktheater verlangen auch eine zeitgemäße und intelligente Neuausrichtung der Organisation. Es kann heute nur noch um gleichberechtigte und solidarische Leitungsmodelle gehen, die Macht verteilen und kontrollieren – statt sie zu konzentrieren, was immer den Hang zum Willkürlichen in sich birgt. Dieser Text entsteht auch aus der konkreten Arbeit an der Oper Halle heraus, ebenso aus konzeptionellen Gesprächen zwischen Regie, Bühnenbild und Dramaturgie meiner letzten Produktion „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Der Raum kann nur gemeinschaftlich und ohne Angst für etwas Neues geöffnet werden. Dazu bedarf es einer von Transparenz geprägten Ausübung von Autorität nach innen und solidarischer Widerstandskraft gegen Kunstfeindlichkeit nach außen.

Traditionelle Rollenmuster und Terrains (der irre Regisseur, die Dramaturgin, die das dann rational einfängt, der Dirigent als alleiniger Anwalt der Musik etc.) sind zu überwinden, zugunsten eines kollektiven Arbeitens und des Spaßes an anderen Arbeitsweisen. Das Kerngeschäft der Dramaturgie ist nicht die Überprüfung auf schlüssige Narration oder Werktreue. Schluss mit Dramaturgie-Rollkommandos, die auf eindeutige Lesbarkeit einschwören! Wir brauchen Dramaturgen mit starker Zweitkompetenz – als Aktivist, als Netzpolitiker, als Teilnehmer der Gesellschaft.

Das Problem der zeitgenössischen Oper kann nur durch eine intensivere Praxis von Ur- und Nachaufführungen gelöst werden. Bei aller Liebe zur Ausgrabung und der damit verbundenen musikgeschichtlichen Bereicherung: Es gibt mehr als genug bei noch lebenden Komponisten zu entdecken! Komponisten müssen langfristig an die Häuser gebunden werden. Es fällt kein Opernkomponist vom Himmel, aber heute sollen immer sofort Meisterwerke geschrieben werden. Es darf nicht mehr bei einmaligen Versuchen bleiben. In Literatur, Dramatik und der bildenden Kunst arbeiten die Produzenten in ständigem Fluss und stehen im kontinuierlichen Austausch mit Publikum und Institutionen. Wir müssen radikal fragen, in welchen Prozessen zeitgenössisches Musiktheater entstehen kann, jenseits der Trennung von Werk und Inszenierung. Wie sieht Klangproduktion im 21. Jahrhundert aus? Ist beispielsweise das Symphonieorchester noch das richtige Instrumentarium? Hier besteht dringender Nachholbedarf.

Für viele, die nicht mit ihr aufgewachsen sind, findet Oper heute in merkwürdigen Kästen statt, in denen es lustfeindlich zugeht und mit einem vollkommen anachronistischen Instrumentarium hantiert wird. Doch die Opernhäuser müssen nicht gesprengt werden, die Mauern der eigenen Selbstgewissheiten aber schon. Wir brauchen mehr flirrende Versprechen und eine andere Logik der Wahrnehmung und Rezeption. Oper muss sich für mehr interessieren als nur Oper. //

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