Theater der Zeit

Gespräch

Der Ruf der Luft

Die Compagnie XY und ihre sensiblen Architekturen / Airelle Caen und Rachid Ouramdane im Gespräch mit Tim Behren

von Tim Behren und Compagnie XY

Erschienen in: Arbeitsbuch 2022: Circus in flux – Zeitgenössischer Zirkus (07/2022)

Assoziationen: Zirkus

„Möbius“ von Compagnie XY, 2019.
„Möbius“ von Compagnie XY, 2019.Foto: Christophe Raynaud de Lage

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Airelle, du hast XY mit­begründet. Ihr seid eines der größten ­zeit­genös­sischen Zirkuskollektive. Akrobatik in der Gruppe, das Gemein­schaftliche, das ­Kollektive bilden die Grundlage eurer ­Kreationen. Was wolltet ihr erreichen, und was waren die Etappen auf dem künstlerischen Weg von XY seit der Gründung?

AC: Angefangen haben wir vor fünfzehn Jahren als drei Duos mit einer etwas akademischen Akrobatik-Ausbildung. Wir haben viel experimentiert in der ­Duo-Arbeit, das hat die Qualitäten darin verstärkt. ­Daraus entstand dann das kollektive Abenteuer.
Wir haben zu sechst angefangen, heute sind wir ­vierzig. Je mehr Körper, desto mehr Möglichkeiten. Ich habe das Gefühl, dass wir immer einer Spur ­nachgegangen sind. Als würden wir einem Gefühl folgen. Künstlerisch ist es genauso. Unser Stoff sind die akrobatischen portésdas Tragen und Getragenwerden. Das Wichtige für uns ist das Gemeinschaftliche an dieser Disziplin. Wir nehmen uns solch breite Thematiken vor und erforschen, wie wir das körperlich, mit unserer Akrobatik, ausführen können. Aber wir fragen uns auch, welchen Platz der Tanz ­darin hat. Oder wie die Bewegung da hineinkommt. Für uns gehören ­Akrobatik und Bewegung zusammen. Wie kann man mit derselben Ruhe laufen, ­auf einen Menschen klettern oder durch die Luft ­fliegen?

Ich habe das Gefühl, je mehr wir als Gruppe künstlerisch voranschreiten, desto größer wird das Spektrum unserer Möglichkeiten. Und wir holen uns Leute von außen dazu, was unsere Arbeit auch enorm wachsen lässt. Ob Loïc Touzé, der uns in den letzten Stücken begleitet hat, oder Rachid Ouramdane für „Möbius“ – die Reibung zwischen den verschiedenen Perspektiven hat uns unsere Praxis weiterentwickeln lassen.

Bei „Möbius“ habt ihr Phänomene aus der Natur, aus dem Tierreich, für eure Arbeit genutzt ...

AC: Bei unseren Projekten kam immer schnell die ­Frage der gemeinsamen Bewegung auf – sowohl als Gruppe auf der Bühne wie auch als kollektiv organi­sierte Kompanie. Schon allein die Frage, wie man auf einer Bühne als Gruppe vorwärts läuft, wie man sich gemeinsam bewegt. Dabei sind wir ganz natürlich auf den Zusammenhang mit dem Schwarmverhalten bei Staren gekommen. Das war eine Faszination, die wir mit Rachid teilten. So kamen wir zusammen und beobachteten und analysierten gemeinsam, was diese Form der Schwarmintelligenz oder der Kinästhesie ausmacht, die Menschen verbinden kann und die ­Lebewesen in einem noch weiteren Sinn miteinander verbindet. Es ist etwas sehr Instinktives. Das hat wirklich etwas von einer Meute, dieses gemeinsam laufen in einer sehr großen Gruppe. Es ist elektrisierend, wie du als Individuum darin mit der Zeit sehr empfänglich wirst für die Empfindung der Abstände zwischen den Leuten, ihre Positionen im Raum und ihre Geschwindigkeit. In „Möbius“ zum Beispiel ist unser Rennen nicht auf den Millimeter festgeschrieben. Es ist eher wie eine tägliche Arbeit an dieser Fähigkeit, so offen wie möglich für die Energie der anderen zu sein.

Rachid, du bist kein Mitglied des Kollektivs, aber als Choreograf warst du an der künstlerischen Kreation von „Möbius“ beteiligt. Wie würdest du die besondere Sensitivität von Akrobat:innen in Bezug auf Körper und Räume beschreiben?

RD: Für mich war die Arbeit mit dem Kollektiv XY eine großartige Begegnung und vor allem die Möglichkeit, eine neue choreografische Dimension zu eröffnen. Damit meine ich, dass ich als Choreograf tatsächlich nie den Luftraum in dieser Form erkundet hatte. Und ich war immer fasziniert von den Bewegungen großer Gruppen, von Menschenmengen oder großen Ensembles. Aber das alles hat sich bis heute auf dem Boden abgespielt, mit einer choreografischen Schreibweise, die im ersten Moment als eine Art Chaos wahrgenommen wird. Im Zuge der Entwicklung der Choreografie jedoch begreift man, dass in Wahrheit eine innere ­Logik dahintersteht. Das inspiriert sich, wie Airelle schon erwähnte, am Formationsflug von Vögeln, ­dieser Bewegung von Starenschwärmen, die durch und durch improvisiert und anarchisch erscheint, aber dennoch einer inneren Logik folgt. Ich hatte vorher ­nie die Möglichkeit, auf diese akrobatische Art mit Menschen in der Luft zu arbeiten. Die Begegnung mit dem Kollektiv XY war für mich die Chance, diese choreografischen Muster zu betrachten, die, kaum dass sie entstanden sind, schon wieder zerfallen. 
Das schafft eine gewisse Frustration beim Zuschauenden, aber es ist eine euphorische Frustration. Man ist sich nie sicher, ob man das, was man vor Augen hatte, auch wirklich gesehen hat. Und diesen Weg hat mir das Kollektiv eröffnet.

Als Leiter des Chaillot - Théâtre national de la Danse in Paris hast du XY ans Haus geholt. Du sprichst von „erweiterten Erfahrungen“, welche die Künste ermöglichen. Welche Rolle spielt Compagnie XY darin?

RO: Ich will zeigen, dass Choreografie nicht nur im Universum des Tanzes existiert. Choreografisches kommt überall in unserer Umgebung vor, und auch andere künstlerische Disziplinen, so wie die Zirkuskünste, sind in ihrem Innersten Choreografie, jedenfalls so, wie das Kollektiv XY sie praktiziert. Wie sie sich, etwa mit ihrem Projekt „les voyages“, in den öffent­lichen Raum einschreiben, finde ich ziemlich grandios. Wie sie die Umwelt, in der wir uns täglich bewegen, verfremden und durch ihre Aktionen poetisieren. Durch eine unerwartete Gegenwart von Körpern, ­choreografischen oder menschlichen Konstruktionen, die uns hinterfragen lassen, wie wir das, was uns ­umgibt, betrachten.

Trennt ihr in der Kompaniearbeit zwischen dem körperlichen Training und dem Moment, in dem ihr künstlerisch kreiert?

AC: Ich würde sagen, am Anfang von XY haben wir das sehr strikt getrennt. Da gab es die technischen ­Momente der Akrobatik und die kreativen Momente. Aber ich habe das Gefühl, je länger wir miteinander arbeiten, desto mehr vermischen sich diese Momente, und ich finde es wunderbar, sie sehr früh zu vermischen. Zum Beispiel hatten wir bei unseren früheren Kreationen immer eine Phase für akrobatische Recherche und eine Phase für technisches Training zur Beherrschung der Figuren. Irgendwann im Laufe der ­Kreation haben wir uns dann gefragt, wo wir diese technischen Figuren im Stück eigentlich platzieren wollen. Bei „Möbius“ war es fast umgekehrt, da haben wir eine Art Partitur der Schwarmbewegungen ent­wickelt, indem wir uns zum Beispiel fragten: Hier ­brauchen wir etwas schnell Fallendes; was stellt unsere Akrobatik für eine solche Geschwindigkeit zur Verfügung?

RO: Anfangs war ich etwas irritiert, dass sie eine Art Grammatik entwickeln, ein Figurenvokabular, das sie teilweise technisch noch gar nicht beherrschen. Das heißt, sie wissen intuitiv, dass sie diese Figuren in der Zukunft schaffen werden. Sie stellen sich also selbst Herausforderungen, von denen sie überzeugt sind, sie in zwei, drei, vier oder sechs Monaten meistern zu können. Das war für mich im Studio anfangs nicht einfach, weil ich oft von dem ausgehe, was ich sehe, und aus dem, was da ist, die Choreografie weiterentwickle. Hier dagegen musste ich mir oft Sachen vorstellen. 
Es war sozusagen eine „sehr spekulative“ Arbeit, obwohl gleichzeitig quasi sicher ist, dass sie das Ergebnis erreichen, weil sie wissen, dass sie es schaffen werden und die entsprechende Arbeitszeit dafür einplanen.
Mir ist in der Arbeit wichtig, dass die Technik nicht von der Interpretation getrennt ist. Es geht letztendlich – und ich glaube, da ist das Kollektiv XY meiner Meinung – um eine Qualität von Präsenz auf der Bühne, die wir suchen. Und das ist es, was wir sichtbar machen wollten. Es ist das, was die Technik der portés umgibt, diese Art, für die anderen da zu sein.

Das Tragen steht im Zentrum der Arbeit von XY. Tragen, getragen werden, sich dem anderen anvertrauen, die Schwerkraft des anderen annehmen. Ist das Thema der Gemeinschaft schon eingeschrieben in der Wahl für diese Disziplin?

AC: Ich denke, die Grundlage dieser Disziplin liegt zwingend im Miteinander. Ohne den anderen kein ­Getragenwerden. Man muss mindestens zu zweit sein. Und wir explorieren das mit sehr vielen. Genau darin liegt meiner Meinung nach die Schönheit dieser akrobatischen Geste. Darin, etwas gemeinsam zu machen und mit jemandem, im Zusammenhalt. Darüber hinaus gibt es das Schmeißen und Geworfenwerden – und somit das Fliegen – im Akrobatischen. Für mich als Fliegerin ist es eine Art Ruf der Luft. Darin liegt etwas sehr Mystisches, diese Seite des Vogelwesens im Menschen. Und je länger ich als Luftakrobatin arbeite, desto stärker empfinde ich es als Glück, dass ich die Möglichkeit habe, ohne technische Hilfsmittel durch die Luft zu fliegen.
Es reicht nicht, eine Figur technisch zu beherrschen. Aus der akrobatischen Bewegung entsteht etwas viel Intimeres und viel Tieferes. Wir, als Kollektiv, bekennen uns zum Zirkus und stehen für die Idee, dass die akrobatische Bewegung, dramaturgisch gesehen, einen eigenen Wert hat. Wir wollen unsere Akrobatik auch nicht als Tanz verkleiden. Wir arbeiten daran, die Bewegung ins Zentrum der Akrobatik zu stellen. Es ist eine Mischung aus beidem, was letztendlich zu einem einzigen Gewebe wird.

RO: Während der Kreation von „Möbius“ war ich anfangs ziemlich verblüfft zu sehen, wie Akrobat:innen arbeiten. Bei ihrer Partnerakrobatik, der sogenannten Hand-auf-Hand-Akrobatik, müssen sie ganz besonders auf ihre Partner:innen achten. Diese Aufmerksamkeit und extrem ausgeprägte Achtsamkeit ist verblüffend. Jeder Fehler ist unverzeihlich, wenn ein Partner nicht zur Stelle ist, wird es gefährlich. Das ist risikoreich
und – ohne zu dramatisieren – kann sogar tödlich sein. Diese Aufmerksamkeit für das Gegenüber, diese Dringlichkeit, füreinander da zu sein, spürt man in ihrem ­Alltag.

Airelle, im Zusammenhang mit dem Projekt „les voyages“ sprecht ihr von einer Architektur des Sensiblen. Was charakterisiert diese Sensibilität?

AC: Ich glaube, diese Verbindung zum Sensiblen ist vielleicht das Feingefühl für das Lesen des Gegenübers. In dem Projekt „les voyages“ zum Beispiel geht es weniger darum, dies visuell zu teilen, also wie bei einer Aufführung, wo die Leute zuschauen, sondern vielmehr um den Versuch, an die körperliche Empfindung, das Gefühl des Getragenseins anzuknüpfen. Weil jede/jeder dieses Gefühl in sich trägt. Wir wurden alle als Babys getragen. Und dann wird man groß, vergisst es, das Gefühl löst sich auf. Und ich glaube, dass es eine Art von Sehnsucht in uns gibt, uns wieder damit zu verbinden. „Les voyages“ hat also eher mit Erleben, als mit Sehen zu tun.

Geht bei euch das Kollektive über die Arbeit auf der Bühne hinaus?

AC: Ja, natürlich, wenn ich kollektiv sage, schließe ich alles mit ein, alle Seiten unseres Berufs. Und ich glaube, dass uns das eine umfassende Lebensphilosophie gibt, die über die Bühne, weit über die Bühne hinausgeht. Selbst wenn wir uns nicht explizit vornehmen, ein Stück über das Kollektive zu machen, ist es genau das, was unsere Aufführungen ausstrahlen, dieses Echo zwischen uns, wie unsere Körper miteinander schwingen, wie wir füreinander da sind. Ich denke, das sind Dinge, die direkt an das alltägliche Leben anknüpfen und die wichtig sind für das Funktionieren einer Gesellschaft. Ich finde, dass das kollektive Experimentieren in der Welt, in der wir leben, eine Schönheit hat, etwas, das man auch anderswo anwenden könnte, für andere gesellschaftliche Funktionsweisen als die, die uns aufgezwungen werden. Etwas sehr Horizontales, wo die Qualitäten einer/eines jeden vom Kollektiv gefördert und getragen werden. Und vielleicht ist gerade dieser Zusammenhalt, der Wunsch des Gemeinschaftlichen, ein Bedürfnis, das in dieser unbeständigen Welt besonders wichtig ist.

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