Auftritt
Kiel: Teppich der Erinnerung
Schauspiel Kiel: „Die Zehn Gebote“ (UA) von Feridun Zaimoglu/Günter Senkel und Shlomo Moskovitz. Regie Annette Pullen (Teil 1), Dedi Baron (Teil 2), Bühne Lars Peter, Kostüme Barbara Eigner (Teil 1),
Erschienen in: Theater der Zeit: Isabelle Huppert: Exklusiv im Gespräch (06/2016)
Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Schleswig-Holstein Theater Kiel
Leningrad im Zweiten Weltkrieg. Die Bevölkerung wird mit System ausgehungert, während die deutschen Truppen rund um die eingekesselte Stadt vor Hunger und Kälte verrückt werden. In diese trostlose historische Szenerie, mitten in eines der größten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht, platzieren der Kieler Erfolgsautor Feridun Zaimoglu und sein Koautor Günter Senkel ihre Auseinandersetzung mit den Zehn Geboten. Cut.
Der Kommandant einer israelischen Panzereinheit, der eigentlich nur mal beherzt in freier Natur pinkeln will, wird davon durch eine libanesische Eselin abgehalten. – Mit dieser augenzwinkernden Einstiegsszene schickt der israelische Dramatiker Shlomo Moskovitz den Brigadegeneral Adam während der Belagerung einer feindlichen Stadt auf einen Parforceritt durch dessen persönliche Geschichte. Moskovitz stellt die Frage nach Moral und Verantwortung im schwelenden Nahostkonflikt, wobei seine brillante Tragikomödie auf einem tatsächlichen Fall von Gehorsamsverweigerung eines israelischen Brigadeoffiziers basiert.
Zwei Stücke, zwei Regisseure, ein Bühnenbild. – Für das deutsch-israelische Projekt gab das Schauspiel Kiel zwei Stücke in Auftrag, die sich mit den ethischen Eckpfeilern der christlich-jüdischen Religion beschäftigen sollten. Beide stellen die Wirksamkeit moralischer Grundsätze in einer Kriegssituation auf den Prüfstein. Die Ergebnisse der beiden Teams könnten unterschiedlicher nicht sein, sie ergänzen sich aber auf überraschende Weise.
Zaimoglu und Senkel gehen hart mit ihren Figuren ins Gericht. Eine klare Täter-Opfer-Trennung existiert nicht. Zwar sind es die Soldaten der Wehrmacht, die Leningrad belagern, doch leiden auch sie unter Kälte, Obrigkeitswillkür und den traumatisierenden Bildern des Krieges. Und auch aufseiten der Belagerten sind die Figuren von der Brutalität des täglichen Überlebenskampfes gezeichnet. Ein gütiger Gott, ein mitmenschlicher Glaube existieren nicht mehr. Religion wird in der alttestamentarischen Lesart eines „Auge um Auge“ zur Rechtfertigung des Krieges instrumentalisiert.
Die Leningrader Familie, die zu Beginn der Szenenfolge noch von Blinis träumt, wird bei Zaimoglu/Senkel mit Namen bedacht, die Deutschen bleiben auf ihre Funktionen beschränkt. Regisseurin Annette Pullen lässt ihre Schauspieler zu Beginn jeder der zehn Szenen vortreten und das Gebot aussprechen, um das es geht. Sind es die Szenen der Leningrader Familie, stellen sich die Schauspieler zudem mit ihren Rollennamen vor. Diese Distanz lässt Luft zur Reflexion und gibt Raum, die vorangegangene Handlung zu verdauen. Pullen setzt die Härte der Vorlage konsequent um. Scherenschnittartig, überzeichnet und emotionslos treten die Figuren ans Licht, kämpfen, lieben, hassen, sterben. Das ist eindrücklich und schmerzhaft.
Die Sensation des Doppelabends ist allerdings Dedi Barons leichtfüßige Inszenierung des Moskovitz-Textes, durch die bei ihrem achtköpfigen Ensemble in jedem Moment überbordende Spielfreude blitzt. Baron reiht sich ein in die urkomische und tieftragische jüdische Theatertradition eines George Tabori und bringt den Text nahezu mühelos mit ihren Schauspielern auf den Punkt. Marko Gebbert als zweifelnder Offizier Adam und Jessica Ohl, die mit großer Komik die lebenskluge Eselin ebenso wie Adams Teenagertochter Nori spielt, die gegen das israelische System rebelliert, sind die Kristallisationsfiguren des Abends.
Die Zehn Gebote fügen sich organisch in die Stückdramaturgie, die anhand von Rückblenden Adams Lebens- und Gewissenskonflikt peu à peu in einem Krieg ohne absehbares Ende entstehen lässt. Über die Bühnenschräge fließen via Projektion hebräische Schriftzeichen wie ein magisches Muster fremdsprachiger Schönheit. Die Herausforderung eines gemeinsamen Bühnenbilds für beide Stücke glückt ausgezeichnet. Im ersten Teil bedeckt noch schwarzkörniger Sand die unterleuchtete Schräge, in Dedi Barons Teil wird die weise Eselin zwischen den Szenen immer wieder tanzend ein Teppichpuzzle auf den Leuchtquadern legen, während sich Adams Erinnerung Stück für Stück wie ein Mosaik zusammensetzt.
Zwei Religionen, zwei Kriege. Einmal Außensicht auf eines der größten Kriegsverbrechen der Geschichte, einmal innere Gewissensperspektive eines Offiziers im jüngsten Libanonkrieg: Das Wagnis hat sich gelohnt. Es ist ein relevanter, berückender und kluger deutsch-israelischer Theaterabend gelungen – ein Ereignis. //