Theater der Zeit

Resonanzen

Schattendramaturgie

Ein Phänomen bei Brecht und im traditionellen japanischen Theater

von Eiichirô Hirata

Erschienen in: Recherchen 136: Recycling Brecht – Materialwert, Nachleben, Überleben (07/2018)

Assoziationen: Performance Asien Theatergeschichte

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Brechts Theater scheint in mancher Hinsicht konventionell geworden zu sein. Diesen Befund kann man auch in einem Land wie Japan nicht vermeiden, wo die Brecht-Rezeption eine eigene Geschichte hat und seine Stücke auch heute nicht selten aufgeführt werden. Die Dreigroschenoper oder Mutter Courage etwa werden mit aktuellen Kriegen oder mit der globalen Gesellschaft in Zusammenhang gebracht und so inszeniert; aber sie basieren auf dem Konzept eines traditionellen politischen Theaters, das mit einer klaren Botschaft an die Zuschauer appellieren will.1 Mit einer derart eindeutigen Haltung würde man heute die reale politische Situation, die oft asymmetrische, differenzierte und daher komplexe Konstellationen umfasst, eher verkennen. Stattdessen sollte man Brechts Stücke von ungewohnten Seiten her lesen und so eine andere Haltung zum sehr veränderten Gesellschaftszustand herausarbeiten, mit dem man sich auseinandersetzen muss. Dazu sollte man die mit dem Brecht-Theater so fest verbundenen Merkmale wie „episch“ oder „Parabel“ hinterfragen oder einklammern und mit der so gewonnenen Offenheit seine Stücke neu lesen.

Eine solche Lesart nennt Günther Heeg „Schattendramaturgie“. Er plädiert dafür, die offizielle Dramaturgie der späteren Stücke Brechts, die oft eindeutige Bezüge zur gesellschaftlichen Situation im Nationalsozialismus tragen, aufzubrechen, um so einen Spielraum für neue Möglichkeiten von Brechts Theater zu schaffen.2 So kann man beispielsweise Die Rundköpfe und die Spitzköpfe, die Parabel, die Hitlers Aufstieg im Kontext der lateinamerikanischen Gutsherrschaft veranschaulicht, nicht nur als Ausdruck „deutscher Zustände“, sondern auch im Sinn einer historischen Konstellation zwischen Europa und Lateinamerika betrachten. In dieser Konstellation wird der Blick frei für Bezüge auf die historische Verschlungenheit Lateinamerikas, auf den Nationalsozialismus, aber auch auf Shakespeares Stück Maß für Maß, das Brecht dazu ursprünglich hatte bearbeiten wollen. Mit diesem Ansatz wird die Parabel, die die offizielle Dramaturgie in Brechts Stücken ausmacht, von einer ganz anderen Lesart überschattet und gründlich in Frage gestellt. Daraus ergibt sich, dass seine späteren Stücke eine widersprüchliche Doppelstruktur aufweisen: Sie gelten offiziell als Parabeln, tragen aber noch andere Elemente in sich, die jene Parabel aufbrechen und so neue Konstellationen und Lesarten eröffnen können.

Mit Blick auf diese Doppelstruktur lassen sich Brechts epische Stücke neu lesen und zeigen dann ganz andere Aspekte. Die Doppelstruktur im epischen Theater beruht auf einer Maßlosigkeit der Figuren, die einerseits gerade die Handlung in Gang bringt, sie andererseits aber auch als einen brüchigen Rahmen der Dramenstruktur entlarven kann. Auf diese Weise wird die Linearität der Parabel und der „offiziellen“ Dramaturgie im epischen Theater unterbrochen, die über die unüberschaubare Komplexität der globalen Gesellschaft eher hinwegtäuscht.

Im vorliegenden Text möchte ich zunächst die maßlosen Figuren im epischen Theater in Augenschein nehmen. Eine radikal maßlose Tendenz findet sich aber auch, wie ich im zweiten Schritt zeigen möchte, bei den weiblichen Figuren in den Bunraku- und Kabuki-Stücken Japans, die vor allem im 18. und 19. Jahrhundert verfasst und aufgeführt wurden. Der Vergleich mit dem traditionellen japanischen Theater, das in seiner „Maßlosigkeit“ weitergeht als Brecht, wird die Möglichkeit einer alternativen Lesart bestätigen, nach der die maßlosen Figuren im epischen Theater Widerstand gegen die Grenzen der Parabel selbst leisten und über ihren Rahmen hinausgehen könnten.

Maßlose Selbstöffnung

Bekanntermaßen rückt in vielen Stücken Brechts, die gesellschaftliche Veränderungen zum Thema haben, immer wieder folgende Schwierigkeit in den Vordergrund: Die revolutionären Versuche der Figuren erscheinen im Verlauf des Stücks zunehmend als sinnlos und schädlich für die Gesellschaft. Beim Versuch, ihre revolutionären Aktivitäten weiter voranzutreiben, zeigen sich vermehrt Schwierigkeiten. Dabei scheint es so, als liefe alles auf eine nahezu entlarvende Situation hinaus: dass ihre Versuche nicht auf einem überzeugenden Handlungsmotiv, wie sozialer Gerechtigkeit basieren, sondern einem fast unerklärlichen Grund der Grundlosigkeit, der die Menschen (aus)schließlich zu einem überschreitenden Handeln treibt. Dieses ist – nach der Untersuchung Hans-Thies Lehmanns3 – vor allem erkennbar in der Figur A in Die Maßnahme, einem der kontroversesten Lehrstücke Brechts. A unterbricht die Ordnung eines revolutionären Partei-Kommandos nicht primär, weil er die Idee der Gerechtigkeit und der Moral in die Tat umsetzen will, sondern weil er die Menschen in Not, die er vor sich sieht, um jeden Preis retten will. Dieser maßlose Wille bringt ihn in Konflikt mit der Partei, die ihre Ordnung der revolutionären Aktivitäten nicht nach einer individuellen Entscheidung, sondern nach der kollektiven Beurteilung der gesellschaftlichen Lage bestimmen will. Die Maßnahme ist das Beispiel par excellence für die Maßlosigkeit eines individuellen Handelns, das dem Maß der Ordnung im vermeintlich allgemeinen Interesse konstruktiv widersprechen muss. Das radikal individuelle Handeln findet sich in den epischen Stücken auch in Figuren wie Shen Te in Der gute Mensch von Sezuan, Grusche im Kaukasischen Kreidekreis oder Johanna Dark in Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Sie setzen sich für die Rettung der Armen und Unterdrückten ein, auch wenn sie damit jedes Maß, ihre Treue zu geliebten Menschen, ihren Kindern oder ihren Glauben verletzen. So will die Prostituierte Shen Te in Der gute Mensch von Sezuan ihren armen Nachbarn Unterkunft und Arbeit anbieten, um deren Leben zu sichern, obwohl ihr das wegen ihrer Schwangerschaft eigentlich nicht möglich ist4. Die „einfache Magd“ Grusche im Kaukasischen Kreidekreis findet inmitten politischer Unruhen im Haus des hingerichteten Gouverneurs dessen alleingelassenes kleines Kind und flieht mit ihm durch das Land, wodurch sie die Liebe ihres Verlobten verliert5. Johanna Dark in Die heilige Johanna der Schlachthöfe kümmert sich aus ihrem christlichen Humanitarismus heraus um die Arbeitslosen der Stadt. Deren Notlage vor Augen gibt sie ihre bisherigen, „mäßigen“ Bemühungen auf und geht zu aktiven Hilfsaktionen über, indem sie direkt mit den Fleischindustriellen verhandelt und sich an Arbeiteraufständen beteiligt. In ihren Verhandlungen mit verschiedenen Interessengruppen und Personen macht sie sich Feinde und gerät selbst in einen Widerstreit der Interessen, der zu ihrem Tod führt.6 Allen diesen Figuren ist ein besonderes, maßloses Handeln gemeinsam: Sie öffnen sich gesellschaftlich den Anderen in überschreitender Weise. Mit dem Ausdruck „gesellschaftlich“ ist dabei gemeint, dass sie sich nicht einem Anderen, sondern den Anderen öffnen, die unterschiedliche Interessen haben. Shen Te, Grusche und Johanna werden nicht einfach von einer inneren Spaltung zwischen ihrer Liebe und ihrem Engagement für Kinder, Arbeitslose und Andere zerrissen, sondern auch von den unterschiedlichen und teils widersprüchlichen Interessen der Anderen. Dabei wird eine gewisse Unbegründbarkeit der maßlosen Aktivitäten ersichtlich, wenn man sie mit alternativen Möglichkeiten konfrontiert: Shen Te müsste sich für ihre Nachbarn nicht so einsetzen, dass sie ihr eigenes Kindes gefährdet. Sie könnte sich sogar ausschließlich um ihr Kind kümmern. Grusche müsste nicht unbedingt das Kind des Gouverneurs retten und sich mit ihm auf eine derart lange Flucht begeben. Johanna müsste zur Verbesserung der Situation der unterdrückten Arbeiter nicht unbedingt allein und vehement mit den Fleischfabrikanten verhandeln, um schließlich ihre Position in der sozialen Organisation der „Schwarzen Strohhüte“ und gar ihr Leben zu verlieren. Stattdessen hätte sie gemeinsam mit den Mitarbeitern der Organisation den Zustand der Arbeiter Stück für Stück verbessern können. Trotz solcher Einwände, die ohne Weiteres auch den Figuren selbst hätten in den Sinn kommen können, sind sie überzeugt, sich hier und jetzt rückhaltlos für die Anderen einsetzen zu müssen. Dieses Trotz ohne Rückhalt deutet auf die Unbegründbarkeit einer gesellschaftlichen Selbstöffnung, die die Figuren im epischen Theater zum Handeln treibt. Jenes scheinbar unbegründbare Handeln lässt sich indessen durch eine paradoxe Motivationslage des Subjekts erklären. Das Paradox besteht in einem Denken der Form: „Ich muss es nicht unbedingt tun, aber ich muss und will es.“ Die untrennbare und doch paradoxe Kombination von Notwendigkeit und Lust zeigt sich in einem Paradoxon der Figuren in den Lehrstücken, das Lehmann als „Lust als maßlose Selbstvergeudung“ und „Gefühl der unbegrenzbaren Verantwortung“ aufschlüsselt:

Bataille hat die Vergeudung bis zur Selbstvernichtung in der Lust und das damit verschwisterte Motiv der Übertretung des religiösen Gebots als Eros zu denken versucht. Lust an der Destruktion aller Gesetzesordnung, Aufhebung allen Maßes und damit allen Sinns prägen die Gesetze der menschlichen Glückseligkeit […].

[Andererseits] begründet sich Identität (um deren Verhüllung, Transformation und Maskierung es in den Lehrstücken […] einzig zu gehen scheint) durch nichts anderes als eben diese Erfahrung unhintergehbarer Schuldigkeit oder Verantwortung. Noch einmal Levinas: Faktisch muss man die eigentliche Identität des menschlichen Ich von der Verantwortlichkeit her benennen. […] Ich, nicht auswechselbar, ich bin ich einzig in dem Maß, in dem ich verantwortlich bin. […]

Hier ist die Lust als maßlose Selbstvergeudung, dort das Gefühl unbegrenzbarer Verantwortung für den anderen – so fern voneinander diese Motive scheinen: Beide verweisen auf eine Textur des Subjekts, in der die schönsten wie schlimmsten Regungen nicht ablösbar sind von einem Geben jenseits und vor allem Tauschen und von einer reservelosen Verausgabung. […] Das Subjekt erscheint als nur insoweit existent, als die anderen es durch ihr Fordern und Wollen […] existieren lassen.7

Lehmann weist an dieser Stelle auf die unauflösbare Verbindung von Verantwortung und Lust des Subjekts hin, die in einer Figur wie A im Lehrstück Die Maßnahme zu erkennen sind. Diese Verbindung finden wir aber auch im epischen Theater bei Figuren wie Shen Te, Grusche und Johanna. Obwohl sie nicht unbedingt Kinder, Nachbarn usw. auf eigene Faust retten müssen, glauben sie, sie müssten es unbedingt tun. Dieses unbedingte „Müssen“ ist jedoch untrennbar verbunden mit ihrer Lust, Verantwortung übernehmen zu „wollen“. Nicht irgendjemand anderes, sondern „ich“ als einzigartiges, „unverwechselbares“ Subjekt setze mich für die elenden Anderen ein, obwohl dafür nach gesellschaftlichem Maßstab keine Notwendigkeit besteht. Erst mit dieser paradoxen Selbstöffnung für die anderen entsteht die Identität des Ichs. Genau hier könnte sich die anvisierte neue Sichtweise auf das epische Theater eröffnen. Sie beginnt damit, in der Parabel das überschreitende Moment der maßlosen Figuren aufzufinden. Die Überschreitung jedoch bezieht sich nicht nur auf die Figuren selbst, die ihr Leben aufs Spiel setzen, sondern auf den gesamten Rahmen der Parabel, die von der Kraft jener Überschreitung bedroht wird. Denn die lineare Geschichte der Parabel im epischen Theater entwickelt sich gerade durch die maßlosen Handlungen der Figuren. Das traditionelle Drama der europäischen Neuzeit hat eine lineare Struktur, die sich abhängig von der Handlung der Protagonisten entwickelt. Das gilt auch für Brechts epische Stücke. Die zentralen Figuren im epischen Theater handeln in diesem Sinn zwar immer im Rahmen der epischen Parabel; die Parabel aber ist von der unbegründbaren Selbstöffnung der Figuren abhängig. Dieses Paradox lässt uns umdenken: Nicht die Geschichte der Parabel, sondern die Überschreitung durch die maßlosen Figuren macht das epische Theater aus. Denn sie haben die Potenz, sich über die Parabel hinaus zu öffnen und diese nur noch als Rahmen funktionieren zu lassen. Die paradoxe Maßlosigkeit der Protagonisten hat die Kraft, die dramatische Handlungsentwicklung ungültig zu machen, die von ihrer Unbegründbarkeit überschattet wird.

Ostentative Selbstöffnungen im Kabuki- und Bunraku-Theater

Eine über die Parabel hinausgehende Selbstöffnung ist bei Brecht jedoch kaum vorstellbar, da die meisten seiner epischen Stücke eine eigene und vollendete Geschichte haben, die keinen Spielraum für erhebliche Änderungen erlaubt. Dass ein solcher Spielraum jedoch durchaus denkbar ist, wird ersichtlich, wenn man eine andere Variante der radikalen Selbstöffnung im japanischen Kabuki- und Bunraku-Theater in Betracht zieht. Das Bunraku und das Kabuki8, die sich beide im 17. und 18. Jahrhundert entwickelten und die noch heute die stilisierte Ästhetik ihrer frühen Zeit bewahren, sind episches Theater in dem Sinn, dass sie historische Ereignisse, in der Form des Stationendramas, Szene für Szene in ihrem Ablauf darstellen. Zwar sind die meisten der dort Dargestellten keine bekannten historischen Persönlichkeiten, sondern Randfiguren wie Untertanen oder Stadtbürger, die doch im Hintergrund der geschichtlichen Ereignisse ihr davon geprägtes Leben führen. Auf diese Weise zeigen die Aufführungen Bezüge zu historischen Ereignissen und deren wichtigsten Protagonisten. Wie bei Brecht geht es zudem in einigen Stücken des Kabuki und Bunraku auch um Frauen, die das Leben eines fremden Kindes auf Kosten ihres eigenen Lebens oder gar des Lebens ihres eigenen Kindes retten. Vor allem werden dabei – auch dies wie bei Brecht – Formen der radikalen Selbstöffnung der weiblichen Figuren zur Schau gestellt. Allerdings besteht eine Differenz. Beim Kabuki und Bunraku wird die Selbstöffnung in einer bestimmten Szene derart ostentativ dargestellt, dass die gesamte, oft komplizierte Geschichte in jedem Stück nur eine Nebenrolle spielt. Daher ist es möglich, dass man in heutigen Aufführungen oft nur einen Auszug aus einem vier, fünf oder sechs Stunden dauernden Stück präsentiert. Viele Zuschauer genießen lediglich solche Auszüge, ohne die gesamte Aufführung zu durchblicken. Denn in einer Szene des Auszugs kommen die Selbstöffnungen der Frauen radikaler zum Ausdruck als bei Brecht. Um ein fremdes Kind zu retten, die zerstörte Heimat neu aufzubauen oder einen Konflikt zu schlichten, eskalieren sie in den Situationen soweit, dass sie ihr eigenes Kind töten lassen, ihren Geliebten im Gesicht verletzen oder sich selbst bzw. eigene Körperteile opfern. Drei Beispiele seien kurz vorgestellt.

Die Amme Masaoka in Meiboku-sendai-hagi (UA: ca. 1777), die das Kind des Landesherrn von Sendai, Tsuruchiyo, aufzieht, erfährt, dass der Bruder des Landesherrn das Kind vergiften lassen will, um einen Konflikt mit seinem älteren Bruder für sich zu entscheiden und die Macht zu ergreifen. Masaoka will das Kind mit allen Mitteln vor dem Komplott retten. Nach einem verzweifelten Rettungsversuch gibt Masaoka vor den Gefolgsleuten des Bruders ihr eigenes Kind, Senmatsu, als das des Landesherrn aus und lässt es von ihnen vergiften.

Die alte Frau Iwate in Oshu-adachigahara (UA: 1762) versucht, ihr Land, das von der Regierung in Kyoto als abtrünnig betrachtet wird und im Krieg zerstört wurde, neu aufzubauen. Dazu entführt sie – anders als Grusche im Kaukasischen Kreidekreis – das Kind eines hochrangigen Samurai, damit dieser in ihrer Heimat Oshu zum Fürsten des neu gegründeten Landes werden kann. Das Kind wird jedoch schwer krank. Iwate erfährt, dass es für seine Krankheit nur eine einzige Heilmethode gibt, nämlich den Verzehr eines menschlichen Organes. Auf der Suche nach einem Opfer begegnet die Alte auf dem Feld Adachigahara einer Frau, ohne zu wissen, dass es sich um ihre eigene Tochter handelt. Iwate greift ihre Tochter an und ermordet sie für das fremde Kind.

Die junge Frau Tamate in Sesshu-gappo-ga-tsuji (UA: 1773), um ein letztes Beispiel zu geben, erfährt nach ihrer Heirat mit dem älteren Samurai Michitoshi Takayasu, dass zwischen dem Sohn ihres Mannes aus erster Ehe, Shuntokumaru, und seinem älteren, unehelichen Sohn, Jiromaru, ein Konflikt um das Erbe besteht. Sie findet ebenfalls heraus, dass Jiromaru einen Mordplan gegen Shuntokumaru schmiedet. Um den Mord abzuwenden und den Konflikt zu schlichten, lässt Tamate es so aussehen, als wären alle Probleme ausschließlich von ihr verursacht worden, um sich selbst einer Behandlung als Sündenbock auszusetzen. So macht sie Shuntokumaru, ihrem Schwiegersohn, eine Liebeserklärung und sorgt dann mit einem Gift dafür, dass er schwer krank wird. Schließlich greift sie ihn an, um sich als Mörderin darzustellen. Nachdem ihr Vater sie, um Shuntokumaru zu retten, mit dem Schwert tödlich verletzt hat, berichtet sie kurz vor ihrem Tod, dass sie nur zum Schutz vor dem Mordkomplott und zur Lösung der Konflikte gehandelt habe und auf diese Weise alle Schuld der beteiligten Familien auf sich nehmen wollte.

Diese drei Stücke zeigen, wie die Geschichte als glaubwürdige Story an der ostentativen Darstellung der radikalen Selbstöffnungen der Figuren scheitert. Zudem enthält die Handlung aller drei Stücke zahlreiche andere Szenen und Situationen, die nicht nur die jeweils im Vordergrund stehenden Frauen, sondern auch andere, zum Teil ebenfalls radikale Samurai, Frauen oder Mütter darstellen, die sich in eine Epik überaus verwickelter menschlicher Verhältnisse und Machtkonstellationen einfügen. Da die gesamte Handlung somit weder einfach zu überschauen noch einfach zu erklären ist, treten die radikalen Selbstöffnungen der Protagonistinnen in ihrer Unbegründbarkeit umso stärker in den Vordergrund. Ihre unbegründbaren, ostentativen Selbstöffnungen zeigen etwas Fremdes, das viele Zuschauerinnen und Zuschauer in Verwirrung bringt. Bei diesem Fremden handelt es sich um die dunkle Kraft des singulären Ichs9, die jenseits der Rahmenhandlung und jenseits der Verständlichkeit an das Publikum appelliert.

Diese fremde, dunkle Kraft der maßlosen Figuren im Kabuki- und Bunraku-Theater lässt sich in Beziehung setzen zu dem Schatten in der offiziellen Dramaturgie Brechts, den Günther Heeg im epischen Theater entdeckt hat.10 Während aber bei Brecht die Figuren ihre dunkle Seite nur als einen Schatten hinter sich werfen, steht diese dunkle Seite in manchen Stücken des Kabuki und Bunraku gerade im Vordergrund. Sie besteht in der mit dem ostentativen Gestus ausgestellten Maßlosigkeit, verstärkt durch ungewöhnliche Kombinationen der Darstellung maßloser Figuren und durch die unüberschaubare Kompliziertheit der Handlung, die jene Fremdheit deutlicher als bei Brecht hervorhebt.

Über die Parabel hinaus

Anders als beim Kabuki und Bunraku, wo die Konstruktion einer linearen Geschichte nicht funktioniert, ließe sich die Handlung des epischen Theaters von Brecht kaum verändern. Es wäre praktisch nicht möglich, in der Aufführung eines epischen Stückes etwa nur bestimmte Szenen so zu zeigen, dass viele Zuschauer die Aufführung als gelungen betrachten würden. Der Vergleich mit dem japanischen Theater ermöglicht jedoch ein strukturell anderes Zuschauen. Man kann im epischen Theater die maßlosen Figuren im Prinzip getrennt von der Handlung betrachten und so ihre Kraft ausloten, die den epischen Rahmen zu sprengen in der Lage wäre. Hier seien zwei Figuren als Beispiel genannt. Die eine ist Kattrin in Mutter Courage: Die stumme Tochter der Mutter Courage, die während des Dreißigjährigen Krieges mit ihr durch die Städte wandert, bleibt stets bei ihr, um sie vor möglichen Angriffen durch Soldaten oder andere Männer zu beschützen. Am Ende des Stückes, als die Stadt Halle in Kürze von der katholischen Armee erobert werden soll, verlässt sie ihr sicheres Quartier, klettert auf das Dach eines Bauernhauses und schlägt laut die Trommel, um die Stadtbewohner vor dem bevorstehenden Angriff zu warnen. Ihr maßloser Rettungsversuch provoziert die Soldaten, die sie schließlich erschießen.11 Doch längst vor dieser Szene hätte sie tot oder fort sein können, wenn sie etwa in einer anderen Szene Kinder aus einem brennenden Haus gerettet oder ihre Mutter aus Rücksicht auf deren Liebe zu einem Koch verlassen hätte, der mit ihr allein ein neues Leben anfangen wollte. Stattdessen bleibt sie bis zum Ende des Stückes bei ihrer Mutter, als müsse sie die Logik der epischen Handlung befolgen. Ebenso gut könnte sie aber in der zweiten Hälfte des Stückes bereits fort sein und die Handlung so unterbrechen. Die Rolle der stummen Kattrin ist daher wichtig, da sie im Zusammenspiel mit der Mutter die Handlung tragend entwickelt, sie aber in plausibler Weise auch unterbrechen könnte. Sie verkörpert eine Überschreitungskraft, die für das epische Drama nicht nur relevant, sondern auch bedrohlich ist. Das zweite Beispiel ist Wang in Der gute Mensch von Sezuan. Der Wasserverkäufer, der in der Stadt hin und her geht, begegnet drei Göttern, die ihm ihren nachdrücklichen Wunsch äußern, dass seine Bekannte Shen Te, die sie als guten Menschen betrachten, ihren armen Nachbarn immer nur Gutes tun müsse. Wang steht dem Wunsch entsprechend Shen Te immer zu Seite, aber er wird bei einem Streit unter den Nachbarn angegriffen und schwer an der Hand verletzt. Da er in seinem Bekanntenkreis niemanden finden kann, der seine Hand medizinisch behandeln könnte, wird es für ihn noch schwieriger, Shen Te zu helfen, die inzwischen von den egoistischen Wünschen der Nachbarn überfordert wird. Die Götter, mit denen er im Traum spricht, wollen sein Flehen um Gnade nicht verstehen.12 Die epische Handlung, in der nicht nur Shen Te, sondern auch Wang in immer wieder neue Schwierigkeiten geraten, wird als eine konstruierte Story sichtbar, die Wang fast ausschließlich als getrieben und überfordert darstellt. Im selben Zug wird darin aber auch eine besondere Potenz seiner maßlosen Überschreitung sichtbar. Denn er verfügt zugleich über besondere Fähigkeiten, die es ihm erlauben, mit den Göttern jenseits der Wirklichkeit zu sprechen; zudem tritt er aus seiner Rolle heraus, um die Zuschauer direkt anzusprechen. So gesehen könnte er ohne Weiteres über den Rahmen der epischen Handlung hinausgehen und sie unterbrechen.

Die zwei Beispiele basieren zwar auf einer assoziativen Lesart, in der die Parabel des epischen Theaters nur hypothetisch verändert wird. Sie weisen jedoch darauf hin, dass die Figuren des epischen Theaters sich an der Grenze der epischen Parabel bewegen und sie plausibel überschreiten könnten. Eine solche Überschreitung könnte man als einen Widerstand der Figuren gegen den Rahmen ihrer erzählerischen Welt auffassen. Brechts maßlose Figuren könnten auch gegen sein eigenes Theater vorangehen. Diese ihrerseits „maßlose“ Lesart entspricht zwar strukturell nicht der Theater-Welt Brechts. Anhand des Bunraku und des Kabuki, die in dieser Hinsicht weiter gehen, lässt sich jedoch zeigen, dass eine solche Lesart in der paradoxen Logik der Maßlosigkeit auf der Bühne angelegt ist und den traditionellen Rahmen einer linearen Geschichte letztlich auch in der Struktur des Stückes sprengen kann. Für Brecht, der die Überschreitung einmal gezogener Grenzen – gesellschaftliche wie auch solche der traditionellen Theaterform – durch maßlose Figuren immer wieder anschaulich schilderte und der in seinen Stücken und seiner Dramaturgie über Europa hinausblickte und sich dabei auch auf ostasiatische Theaterkunst bezog, liegt diese Lesart sogar durchaus nahe. Auf diese Weise könnte das traditionelle japanische Theater Ansätze dazu liefern, die in Brechts für heutige Verhältnisse konventionell erscheinendem politischem Theater angelegte „Schattendramaturgie“ zu entfalten.

1Jan Deck hat die Möglichkeit neuartiger Zusammenhänge zwischen dem Theater und dem Politischen in den von ihm herausgegebenen Bänden untersucht; dazu Deck, Jan: „Politisch Theater machen – Eine Einleitung“. In: Ders./Sieburg, Angelika (Hrsg.): Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten, Bielefeld 2011, S. 11–28. Der neuartige Zusammenhang besteht vor allem darin, den Zuschauern nicht politische Themen vorzuführen, sondern die Prozesse der Aufführung oder der Produktion als politisch erfahrbar zu machen.

2Heeg, Günther: „Theater und Geschichte – Genealogie einer Verflechtung. (Im Gespräch mit Helmut Schäfer)“, in: Ders./Braun, Micha/Krüger, Lars/Schäfer, Helmut (Hrsg.): Reenacting History. Theater & Geschichte (= Recherchen 109), Berlin 2014, S. 54f.

3Lehmann, Hans-Thies: „Die Rücknahme der Maßgabe. Schuld, Maß und Überschreitung bei Bertolt Brecht“, in: Ders: Das Politische Schreiben (= Recherchen 12), zweite erweiterte Auflage, Berlin 2012, S. 307f., 321f.

4Brecht, Bertolt: [Der gute Mensch von Sezuan ], in: Ders.: Werke 6. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 8, hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Berlin u. Frankfurt a. M. 1989, S, 244–248 (im Folgenden mit Sigle GBA plus Band und Seitenzahl angegeben).

5Brecht: [Der kaukasische Kreidekreis ], in: GBA Bd. 8, 1992, S. 112f., 147f.

6Brecht: [Die heilige Johanna der Schlachthöfe ], in: GBA Bd. 3, 1988, S.136–139, 180–183, 191–193.

7Lehmann: „Die Rücknahme der Maßgabe“, in: Ders.: Das Politische Schreiben, S. 318, 320, 321.

8Das Kabuki ist ein von männlichen Schauspielern getragenes stilisiertes Theater. Das Bunraku hingegen beruht auf der separaten Darstellung durch Puppen und einen Erzähler.

9Christoph Menke stellt anhand der Theorie Herders die dunkle Kraft des Menschen, der noch nicht ganz zum Subjekt wird, und dessen praktisches Vermögen, das er für einen bestimmten Zweck zur Disposition haben kann, dar: „Der Mensch ist nicht – ganz – Subjekt, weil die dunklen Kräfte seiner ästhetischen Natur nicht wie die praktischen Vermögen des Subjekts eine allgemeine Form im besonderen Fall verwirklichen. Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008, S. 65.

10Siehe Anmerkung 2.

11Brecht: [Mutter Courage und ihre Kinder ], in: GBA Bd. 6, S. 79–84.

12Brecht: [Der gute Mensch von Sezuan ], S. 213f., 241f.

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