Auftritt
Schauspielhaus Bochum/De Warme Winkel: Was war noch mal Pazifismus?
„Gundhi (Zusammensetzung aus dem englischen Wort für „Pistole“ (Gun) und dem Nachnamen der indischen Friedensikone [Gandhi])“ von De Warme Winkel – Regie Vincent Rietveld, Ward Weemhoff, Marieke de Zwaan, Endregie Vincent Riebeek, Bühne Theun Mosak, Kostüm Ginta Tinte Vasermane, Sounddesign Lysa da Silva
von Stefan Keim
Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Schauspielhaus Bochum

Ein Mann stürzt ins Foyer der Bochumer Kammerspiele. Er wütet, bedroht das Publikum, will uns martern und backen. Sein Text erinnert an „Titus Andronicus“ von William Shakespeare. Die anderen aus dem Ensemble stürzen sich auf ihn und schaffen ihn fort. So ein Theater wollen sie nicht mehr, rufen sie, ein Theater, das von Kriegen und Konflikt handelt. Dieses Theater sei nämlich mitschuldig am Zustand der Welt. Und während einer der Darsteller:innen eine lange Liste aus dem Handy liest, was fortan alles geht und was nicht geht – Ballspiele nein, Radfahren ja, aber nicht als Wettrennen und nur ohne Schubsen – geht das Publikum in den Theatersaal. Das niederländische Kollektiv lädt zu einem Abend über den Pazifismus.
„Gundhi“ ist eine Art theatrales Konzeptalbum. Es gibt keine durchgehende Handlung, sondern immer neue Szenen, die sich dem Thema nähern. Einige Zuschauer:innen werden auf die Bühne gebeten, nehmen aus Sitzbällen in Form von Planeten Platz und machen einen Körpercheck. Wo darf ich angefasst werden und wo nicht? Dann sprechen sie in die Kamera über Politiker, vor denen sie Angst haben oder Menschen, die Vorbilder für friedliches Handeln sein könnten. Nun geht es um den Namenspaten des Abends, Mahatma Gandhi, die Ikone des gewaltlosen Widerstands, der eine Bewegung anführte, die Indien ohne blutigen Terror vom britischen Kolonialreich befreien konnte. Aber taugt dieser Gandhi wirklich als Vorbild?
Koregisseurin und Spielerin Marieke de Zwaan nimmt einen Gandhi-Stellvertreter in die Zange. Stimmt es, dass er seine 16-jährige Großnichte gezwungen hat, sich nackt neben ihn ins Bett zu legen, nur damit Gandhi beweisen konnte, dass er seine Triebe unter Kontrolle hat? Pause. Dann murmelt Gandhi, dass sie 14 gewesen sei. Ein Spieler explodiert im Publikum. Was soll das alles? Wollen wir wirklich die Legende demontieren, in einer Zeit, in der Milliardenausgaben für die Rüstung als normal gelten und eh niemand mehr pazifistisch denkt? So funktioniert das Theater von De Warme Winkel. Ein Gedanke wird zugespitzt, dann folgt der Widerspruch. Eine ständige Provokation zum Mitdenken und Mitfühlen.
Das niederländische Kollektiv spielt perfekt mit dem Bochumer Ensemble zusammen. In einer der schönsten Szenen ist die Souffleuse Isabell Weiland beteiligt. Vincent Rietveld bleibt in einem Monolog hängen. Sie sagt ihm den Text vor, immer deutlicher, schließlich steht sie auf und ihm bei, schließlich singen sie gemeinsam. Das ist bei einer Probe entstanden und nun Teil der Aufführung. Ein herrlicher Moment, in dem die Energien fließen, so präsent war eine Souffleuse früher in den Stücken von René Pollesch, ein selbstverständlicher Teil des Ensembles.
Einmal wird es dunkel. Leise und eindringlich bittet Marieke de Zwaan, dass wir uns die Straße vor unserem Haus in der Kindheit vorstellen. Ein Jeep fährt vor, bewaffnete Männer führen den Vater aus dem Haus, schlagen ihn zusammen, nehmen ihn mit. Viele Jahre später treffen wir das Kind von einem der Täter. Es ist allein, streckt die Arme nach uns aus, wir sind seine einzige Hoffnung. Nehmen wir es auf? Können wir es lieben? Veränderung beginnt durch bedingungsloses Mitgefühl, die Bereitschaft, den Schmerz des Feindes zu spüren.
Schöne Worte, schöne Gefühle, aber natürlich zu einfach als Botschaft. Ward Weemhoff bricht die Atmosphäre durch eine zwar virtuose aber reichlich seltsame Übung im Lach-Yoga. Viele Szenen der Aufführung sind Geschmackssache. Aber was als nächstes passiert, ist stets originell und nicht vorhersehbar. De Warme Winkel macht es sich nicht leicht mit dem Thema Pazifismus. Es geht auch um die Verführbarkeit junger Menschen zum Krieg. Verunsichert kommen sie an, wissen nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen, lassen sich überzeugen, für den „Frieden“ zu kämpfen – und rekrutieren die nächsten. Grab your gun. Auf die Begriffe ist kein Verlass mehr. Auch Putins Propaganda spricht davon, dass die russische Armee in der Ukraine für den Frieden kämpft. Ähnliches erzählen islamistische Terrorgruppen oder Rechtsradikale. Wie immunisiert man sich dagegen, wenn die eigenen Gefühle verrückt spielen und man sich einfach nur überfordert fühlt. Da ist es vielleicht doch eine Option, einfach niemanden die Rübe wegzuballern. Doch ist so ein Pazifismus nicht auch eine Weltflucht, die wir uns heute nicht mehr leisten können? „Gundhi“ löst keins dieser Probleme. Aber der Abend bringt sie in ihrer Komplexität auf den Punkt.
Erschienen am 26.5.2025