Theater der Zeit

Thema: Theater und Religion

Sakrale Fiktion

Der Bühnen- und Kostümbildner Stefan Hageneier über die Oberammergauer Passionsspiele – ein Megatheater, dem Hunderttausende zuschauen, im Gespräch mit Ute Müller-Tischler

von Stefan Hageneier und Ute Müller-Tischler

Erschienen in: Theater der Zeit: Nüchterner Rausch – Der Schauspieler Steven Scharf (04/2013)

Assoziationen: Bayern Kostüm und Bühne Passionstheater Oberammergau

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Stefan Hageneier, seit 400 Jahren gibt es die Passionsspiele von Oberammergau. Alle zehn Jahre werden sie als Megaspektakel für über 500 000 Zuschauer aus aller Welt veranstaltet. Wie muss man sich das vorstellen?

Wenn man in Oberammergau aufwächst, empfindet man es als normal, dass man alle zehn Jahre Teil eines weltweit beachteten Ereignisses ist. Zum Beispiel wurde ich 1990 von Helmut Newton porträtiert, als ich den Ölberg-Engel spielen durfte. Ich habe das erst als etwas Besonderes wahrgenommen, als ich erwachsen war und in München lebte.

 

Jahrhundertelang stand das Theater im Dienst der Kirche, bis es in der Moderne endgültig gelang, das Bühnengeschehen von der christlichen Liturgie abzutrennen. So dachte man. Heute machen sich Glaubensfragen auch wieder im Gegenwartstheater bemerkbar. Erinnern Sie sich daran, wann Sie begonnen haben, sich künstlerisch mit dem Christentum auseinanderzusetzen?

Wenn Sie so wollen, habe ich mein bisheriges Leben damit verbracht. Dadurch, dass mein Vater Krippenschnitzer ist, war ich schon früh mit diesen Fragen beschäftigt. Allerdings habe ich als Kind in der Werkstatt meines Vaters keine religiösen Motive, sondern kleine bewegliche Star-Wars-Figuren geschnitzt. Erst als ich als 16-Jähriger auf die Oberammergauer Schnitzschule ging, habe ich mich wirklich mit der christlichen Tradition beschäftigt. Der damalige Schulleiter hatte in den siebziger Jahren zusammen mit seinen Schülern ein barockes Passionsspiel ausgearbeitet, das leider nie zu einer offiziellen Aufführung kam. Wann immer sich aber die Gelegenheit bot, habe ich die aufwendig in Holz gearbeiteten Bühnenbildmodelle auf dem Dachboden meiner Schule bewundert.

Vielleicht ist meine Sicht auf das Theater durch das Passionsspiel geprägt. Für mich spiegelt sich das christliche Weltbild in der Guckkastenbühne. Wenn man mit Schnürboden und Unterbühne arbeitet, zitiert man immer auch christliche Ikonografie, auch wenn vordergründig keine Glaubensfragen behandelt werden.

 

Am Anfang stand das Pestgelübde im Jahr 1633. Die Gemeindevorsteher schworen sich damals, die Passionstragödie alle zehn Jahre aufzuführen. Seitdem haben sich Text und Musik immer wieder gewandelt, auch der Aufführungsort veränderte sich über die Jahrhunderte. Zu Beginn spielte man auf dem Friedhof der Pfarrkirche, später wanderte die Bühne an den westlichen Dorfrand, bis im 19. Jahrhundert Repräsentationsbauten im Neorenaissance- Stil entstanden. Theatergeschichtlich ist interessant, dass sich die Prozession der Schöpfungsgeschichte in Oberammergau erhalten hat und eine eigene Spieltradition begründete. War das für Sie als Bühnen- und Kostümbildner von Belang?

Die Schöpfungsgeschichte wird ja nur in den lebenden Bildern angedeutet, die als Kind, im Sinne eines großen Kasperletheaters, eine magische Wirkung auf mich hatten. Als Erwachsener wurde ich gefragt, ob wir in Oberammergau Theater für amerikanische Kreationisten machen. Man ist hier in der seltsamen Situation, Theater nicht nur für Oberammergauer und Deutsche zu machen, sondern auch für Amerikaner und Japaner. Von vielen Einheimischen wird die Wahrung der Tradition eingefordert. Das ist in gewisser Weise sinnvoll, denn das Passionsspiel muss authentisch bleiben. Und trotzdem hat man im Hinterkopf, dass man für ein weltweites Publikum arbeitet. Bevor wir eine große Neugestaltung des Passionsspiels durchsetzen konnten, gab es eine siebzig Jahre andauernde Zeit der Erstarrung, in der das Passionsspiel immer gleich aufgeführt wurde. Die muffige Ästhetik des Passionsspiels im Zusammenspiel mit der martialisch anmutenden Steinplatten-Architektur der dreißiger Jahre wirkte mittlerweile wie die Parodie des Oberammergauer Sandalentheaters.

 

Die Passionsgeschichte wird von Christian Stückl wie ein Historiendrama inszeniert. Er selbst berichtet, dass er die Bilder der Nazarener Malschule des 19. Jahrhunderts im Kopf hatte, als er mit den Vorbereitungen der Inszenierung begann. Wie haben Sie das gesehen?

Die Überlegung, das Passionsspiel in die gegenwärtige Zeit zu übertragen, wäre uns für Oberammergau nie in den Sinn gekommen. Eine offene Form, in der aktuelle Bezüge hergestellt werden, ist auf der riesigen Freilichtbühne schwer vorstellbar. Aber auch die bigotte Abbildung historischer Vorgänge wie in dem Mel- Gibson-Film „Die Passion Christi“ ist sowohl theatralisch als auch ästhetisch uninteressant. Eine Reise an die historischen Orte in Israel war sehr inspirierend. Wenn man die religiös aufgeladene Atmosphäre in der Altstadt von Jerusalem erlebt, kann man sich das historische Geschehen sehr gut vorstellen. Ich wollte diese Atmosphäre, den Dimensionen des Oberammergauer Spielortes entsprechend, kräftig theatralisch und gleichzeitig poetisch-atmosphärisch umsetzen. Für die Passionsspiele im Jahr 2010 habe ich die steinernen Bodenplatten auf der 45 Meter breiten Freilichtbühne durch einen blauen Estrich ersetzt und blaue Olivenbäume zwischen die steinernen Wände gesetzt.

 

Es entsteht dadurch eine entrückte Aura, eine Art sakrale Fiktion, wenngleich man auch an filmische Mittel wie die „Amerikanische Nacht“ denken muss, auf die man zurückgreift, um technisch eine andere Zeit herzustellen. Für die Passionsgeschichte haben Sie und Christian Stückl um die 2000 Personen in das Leben und die Zeit Jesu transformiert, das ist fast die gesamte Gemeinde Oberammergau. Wie bewältigt man so eine Massenszenerie?

„Sakrale Fiktion“ gefällt mir. Das entspricht etwa der Zielsetzung, ohne es je so genannt zu haben. Ich habe zusammen mit zwei Assistentinnen die Gestaltung, aber auch die Planung und Organisation von 24 Bühnenbildern und rund 2500 Kostümen wesentlich verantwortet. Dass das so gut geklappt hat, liegt auch daran, dass die meisten Mitarbeiter aus dem Dorf kommen. Die Dringlichkeit, dass etwas fertig werden muss, muss man selten betonen, da es um das große Anliegen des gesamten Dorfes geht. Außerdem steht die Arbeit unter einer gewissen Brisanz, da jeder Arbeitsschritt von der Regionalpresse begleitet wird.

 

Unabhängig von der Logistik beim Casting der Darsteller und dem enormen Produktionsdruck bei der Ausstattung: War es hilfreich, dass Christian Stückl und Sie selbst aus Oberammergau stammen?

Das Passionsspiel wird von den Einheimischen als Eigentum begriffen. Viele Mitwirkende, die schon ein paar Mal dabei waren, fordern Mitspracherechte bei inhaltlichen und gestalterischen Themen. Deshalb wäre es für einen „Fremden“ noch schwieriger, Änderungen durchzusetzen. Nach den erfolgreichen Passionsspielen 2000 und nachdem wir uns im professionellen Theater durchgesetzt haben, dachten wir, dass es zehn Jahre später einfacher wird. Das war jedoch in keiner Weise so. Dass wir 2010 die Verantwortung für die Passionsspiele bekamen, wurde durch einen Volksentscheid herbeigeführt.

 

Die Passionsspiele in Oberammergau werden, wie Sie schon sagten, seit dem 18. Jahrhundert vor allem als lebende Bilder aufgeführt. Wie sind Sie mit dieser Tradition in Ihren Arbeiten umgegangen?

In den Tableaux vivants wurde früher, im Stil einer Weihnachtskrippe, ein Moment einer Geschichte aus dem Alten Testament dargestellt. Wer im Oberammergauer Heimatmuseum die alten Krippen sieht, kann die Parallelen erkennen. Jedoch haben sich die Oberammergauer Theatermacher schon im 19. Jahrhundert an größere Vorbilder gewagt und sich an der Genremalerei der Zeit orientiert. Aus heutiger Sicht wird das dem Bilderreichtum des Alten Testaments nicht gerecht. Außerdem wollte ich eine größere Spannung zwischen dem Bild und der gleichzeitigen Erklärung durch den Prologsprecher herstellen. Deshalb habe ich mehrere Szenen einer Handlung in einem Bild gleichzeitig dargestellt und die Szenerien durchgängig überhöht. Da ich in den „gefrorenen“ Bildern nicht den Zwängen szenischer Vorgänge ausgesetzt war, wollte ich dabei die theatralischen Mittel ausschöpfen.

 

Und an Bildmotive der Frührenaissance anknüpfen? Die damalige Tafelmalerei mit ihrer ikonografischen Erzählweise hat viel mit dem simultanen Bühnengeschehen des ausgehenden Mittelalters, den Mysterienspielen, zu tun. War Ihnen diese Verbindung wichtig?

Maler wie Giotto oder Fra Angelico kann man natürlich nicht übersehen, wenn man sich mit der Thematik beschäftigt. Ich wollte jedoch vor allem leuchtende Andachtsbilder schaffen, in denen das dargestellte Geschehen eine exemplarische Wirkung bekommt. Gleichermaßen episch und symbolisch. Das alte Ägypten und das Gelobte Land werden darin Antipoden wie das Diesseits und das Jenseits.

 

Heute sind diese Gegensätze keineswegs aufgehoben, das war auch einer der treibenden Gedanken dieser Passionsspiele, die sie berühmt gemacht und neu definiert haben. Wenn heute historische Aufführungspraxis und Reenactments mehr Bedeutung erlangen, könnte man da glauben, dass sich die postdramatischen Dekonstruktionsmuster erledigt haben? Braucht das Theater wieder mehr Einfühlung und die großen Geschichten?

Theater ist keine zeitlose Kunst, sondern erwirbt seine Berechtigung durch inhaltliche und ästhetische Erneuerung. Viele Ideen wiederholen sich oder werden neu erfunden. Jedoch hat sich in den letzten zwanzig Jahren extrem viel getan. Die digitalen Techniken hatten enorme Auswirkungen auf die Theaterformen. Die schnelle Verfügbarkeit dieser Mittel hat jedoch auch dazu geführt, dass zum Beispiel vermeintliche Längen oder ästhetische Unwägbarkeiten geglättet wurden. Ich stehe nicht für Rückbesinnung, aber es ist für mich eine große Lust, zum Beispiel einen gemalten Prospekt in einen zeitgenössischen Kontext zu bringen oder durch moderne Spielformen „alte“ Theatermittel wiederzubeleben. Da bewegt man sich auf einem schmalen Grat, denn eine „Ausstattung“ im klassischen Sinn entspricht nicht meiner Zielsetzung. //

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