Theater der Zeit

2.3.3 Das Heuvolk von SIGNA

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

Assoziationen: Performance SIGNA

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Nicht nur Alma von Paulus Manker oder Felix Barretts erste Arbeiten, sondern auch die ersten Produktionen des dänisch-österreichischen Kollektivs SIGNA91 lassen sich zwei Dekaden zurückdatieren. Formale Merkmale wie die zeitliche Entgrenzung der Performance, die Fokussierung auf Gebäude und Raum, das improvisierte Spiel zu einer vorgegebenen fiktiven Rahmenerzählung, die zumeist einen Hang zu mystischen, mythologischen oder okkulten Narrativen aufweist, sowie die Einbeziehung des Publikums bei der theatralen Realisierung der jeweils zugrunde liegenden Fiktion im Modus einer ästhetischen Wirklichkeitssimulation, zeichnen nicht nur aktuelle, sondern bereits frühe SIGNA-Arbeiten wie Twin Life (2001) aus. 2007 begann die enge Zusammenarbeit mit der Dramaturgin Sybille Meier, die SIGNA unter der Intendanz von Karin Beier ans Schauspiel Köln und später ans Schauspielhaus Hamburg holte. Mit dem Erfolg der Produktion Die Erscheinungen der Martha Rubin, die 2008 zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, setzt mit wachsender Bekanntheit auch die theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung ein.92 Vermutlich nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass Signa und Arthur Köstler eher aus den Bereichen der bildenden Kunst und Medienkunst kommen und eben nicht dezidiert vom Theater93, wurden ihre Arbeiten in der Theater- und Kunstkritik zumeist als »Performanceinstallationen«94 bezeichnet. Mit der Arbeit Das Heuvolk (2017) hat sich die Forschung bislang – mit Ausnahme von Häusler/Prokić, 2020 – nicht auseinandergesetzt.

Wie bereits bei Alma und Sleep no more spielt auch für SIGNAs Das Heuvolk (wie auch für die Produktionen Wir Hunde und Das halbe Leid) die Wahl einer theaterfernen Immobilie als Spielort eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Produktion. Sobald das Gebäude – meist von der Dramaturgie der (ko-)produzierenden Häuser – gefunden ist, entwickelt Signa davon inspiriert eine fiktive Rahmenhandlung sowie ein Raumkonzept. Im Fall von Das Heuvolk handelt es sich sogar um einen Komplex von vier Gebäuden auf dem leerstehenden Areal des Mannheimer Benjamin Franklin Village (BFV), dem ehemaligen Armeegelände der in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs stationierten US-Streitkräfte.95 Seit 2011 ist das ca. 145 Hektar große Gelände eine weitgehend verwaiste Konversionsfläche, die perspektivisch stadtentwicklungspolitisch erschlossen werden soll. SIGNA stehen für Das Heuvolk die Gebäude 241 – 243 der ehemaligen »Sullivan Barracks« sowie die nahegelegene, ebenfalls leerstehende Kapelle zur Verfügung. Dieser Bereich der Kaserne gehört seit 2015 zum Stadtteil Mannheim-Käfertal und wurde 2015/16 als temporäre Unterkunft für Geflüchtete zwischengenutzt. Die Inszenierung wird erstmals vom Nationaltheater Mannheim produziert und im Rahmen der Internationalen Schillertage für den 16. Juni bis 16. Juli 2017 programmiert. Bereits im Februar 2017 beziehen Signa, Arthur und ihr Produktionsteam das BFV in Mannheim.96 Denn zu SIGNAs Arbeitsweise gehört, dass zunächst das Kernteam und später auch die Darsteller*innen und Assistent*innen nicht nur gemeinsam proben und die Räume ausstatten, sondern auch am Spielort für die Dauer der Produktion gemeinsam leben.97 Eines der drei Gebäude (243) wurde zum Wohnen und eines für Werkstätten (242) genutzt, während das dritte (241) und die Kapelle mit ihrer jeweiligen Architektur, Geschichte und Atmosphäre die räumliche Grundlage für die Heuvolk-Stoffentwicklung bildeten.

Das Heuvolk ist die theatrale Realisierung der Fiktion der Himmelfahrer. Die Geschichte dieser Glaubensgemeinschaft mit Sitz im Mannheimer Käfertal ist aufs Engste mit ihrer Gründungsfigur verwoben: Jake Wolcott ist 1950 im kleinen Südstaatendorf Hopeful im Norden Louisianas geboren und ging bereits als Kind zu Gottesdiensten der Pfingstkirche. 1975 wurde er in Deutschland, im Mannheimer Benjamin Franklin Village, stationiert, wo er erst als Kartenzeichner und dann als Prediger wirkte. In dieser Zeit fiel er immer wieder mit konfrontativen, unorthodoxen Deutungen der Heiligen Schrift auf. Nachdem er das BFV verlassen musste, begab er sich auf eine deutschlandweite Suche nach potentiellen Anhänger*innen für eine eigene Gemeinde von Himmelfahrern. Auf Träumen und Eingebungen basierend entwarf er hierfür (s)eine eigene Schöpfungsgeschichte.

2012 quartierte sich Jake mit seiner Gemeinschaft heimlich in einem Teil der ehemaligen, leerstehenden Sullivan Barracks ein. In einem Gebäude (»Haus der Götter«) richtete er zwölf Schreine, die »Pearl Box« (Ort der Reinigung) sowie zwei Schulräume (»Schule der Himmelfahrer« und »Schule des Weltendes«) ein. Die Kapelle fungierte als gemeinsamer Schlafplatz und Ort der Nachtzeremonien. Für die Gemeinde, die aus etwa 45 Mitgliedern besteht, gelten strenge Regeln. Sie heißen alle mit Nachnamen Wolcott, leben als »Brüder und Schwester« und dürfen keine Kinder zeugen. Kontakt zur Außenwelt ist zu meiden; das Gebäude sollte lediglich am Abend verlassen werden. Alles richtet sich nach den Visionen und Prophezeiungen von Jake. Er ist der Überzeugung, dass die Welt zutiefst schlecht sei und es deshalb notwendig werde, eine neue Welt aufzusuchen. Die Ursache der Apokalypse, die er voraussieht, sind sich bekriegende Menschen, das Heuvolk, das verbrennen und spätestens in sieben Jahren untergegangen sein wird. Das Ziel seiner Gemeinde ist es, vorher mit einem Himmelsschiff in die neue Welt zu fahren, um so dem Unglück zu entkommen.

Jakes Glaubenssystem umfasst Geister und Götter. Eine besondere Rolle kommt dabei den Erdkerngöttern zu. Sie bestehen aus Seelen toter Menschen oder Tiere und können sich nur in lebenden, menschlichen Körpern manifestieren. Dass sie den Erdkern verlassen haben, sei Jake zufolge Indiz für das kommende Weltende und die fehlende Harmonie auf der Erde. Sie müssen in die neue Welt mitgenommen werden. In jedem Schrein leben je zwei Mitglieder der Gemeinschaft, eine Person, die sich zum Wohle aller als menschliche Hülle für einen Erdkerngott opfert, und eine, die Ersterer bei den Zeremonien dient.

Am 1. Januar 2017 ist Jake an Blutkrebs verstorben. Seiner Gemeinde gegenüber gab er an, in die neue Welt vorgehen zu wollen, um Vorbereitungen für ihr zukünftiges Leben zu treffen. Seitdem muss die Gemeinschaft ohne ihren spirituellen Führer auskommen. Die Wolcotts leben in Trauer und versuchen mit allen Kräften, die letzten beiden Schreine zu besetzen, bevor das Weltende kommt. Denn vorher können sie die Erde nicht verlassen. An den sogenannten »Tagen des Zustroms«, die Jake zu Lebzeiten noch vorausgesagt hatte, werden Menschen des Heuvolks zu Besuch geladen, in der Hoffnung, dass sich unter ihnen potentielle Mitglieder (oder gar »auserwählte« menschliche Hüllen für die Erdkerngötter) befinden. Sie besuchen das Areal, nehmen an Zeremonien teil, werden in die Lehren der Himmelfahrer eingeführt und bekommen die Möglichkeit, Teil der Gemeinschaft zu werden.

SIGNAs Arbeiten sind ortsspezifisch, insofern sie an keinem anderen Ort aufführbar wären. Sie sind für den jeweiligen Ort und aus ihm heraus entwickelt und funktionieren (bis auf wenige Ausnahmen98) auch nur dort. An meinen Ausführungen zeigte sich bereits, inwieweit sich Signa für ihre Fiktion von dem Areal des BFV und seiner Geschichte hat inspirieren lassen. Sie bezieht diese allerdings nur punktuell auf der Ebene fiktionalisierter Elemente ein, weshalb ich ihre Herangehensweise in Analogie zu Barrett als site-sympathetic bezeichnen möchte.99 Abgesehen von fiktionalisierten Ortsbezügen wird die der Inszenierung zugrunde liegende Narration aus zahlreichen verschiedenen Referenzen äußerst eklektisch entwickelt. Ein Vorbild für die Fiktion von Jake Walcott und seiner Himmelfahrer-Gemeinde ist der berühmt-berüchtigte US-amerikanische Sektenführer Jim Jones und dessen neureligiöse Gruppe Peoples Temple, die unter dessen Führung 1978 den größten kollektiven Massenselbstmord der Geschichte begangen haben. Auch Jones gehörte bis zu seinem Ausschluss in den fünfziger Jahren zunächst der Pfingstkirche an und gründete im Anschluss in Kalifornien seine eigene synkretistische Kirche. Weitere Parallelen lassen sich z. B. zwischen der fiktiven Biografie Walcotts und jener von Paul Schäfer, dem Gründer der Colonia Dignidad, ausmachen. Aber auch Merkmale anderer vornehmlich US-amerikanischer Glaubensgemeinschaften wie dem Buddhafield-Kult, der täuferisch-protestantischen Gemeinschaft der Amische sowie der Scientology-Sekte um Ron Hubbard und die Charles-Manson-Family erhalten Einzug in die Konzeption der fiktiven Himmelfahrer.

Im Gegensatz zu Alma basiert eine SIGNA-Inszenierung nicht auf einem festgelegten Dramentext, festgelegt ist lediglich das narrative Netz der Fiktion, das von allen Beteiligten bis ins kleinste Detail perfekt beherrscht werden muss. Sobald Signa das Grundgerüst der Fiktion entwickelt hat und der Cast steht, ordnet sie den Darsteller*innen Rollen (zumeist einen Namen und biografische Eckdaten) und einen Raum zu. Dabei achtet sie darauf, dass in einem Raum stets sogenannte »Veteranen«, also Darsteller*innen, die mit der Spiel- und Aufführungsweise aus anderen SIGNA-Produktionen vertraut sind, und »Newbies«, erstmals Beteiligte, zusammen sind. Die Darsteller*innen sind im Fortgang des Produktionsprozesses angehalten, ihre Figuren eigenständig zu entwickeln, ihnen narrativ Kontur zu verleihen und kreativ über Verhältnisse unter- und zueinander zu imaginieren. Auch die einzelnen Schreine werden im Hinblick auf Detail-Ausstattung und Ding-Geschichten gemeinsam entwickelt und gestaltet. In den Aufführungen verkörpern die Darsteller*innen ihre festgelegten Figuren und improvisieren im Rahmen der festgelegten Himmelfahrer-Fiktion, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt aus der Rolle zu fallen. Während die Schauspieler*innen von Alma textlich festgelegte Szenen spielen und Zuschauer*innen mit ihnen den Spielort physisch teilen, aber in aller Regel nicht in eine Szene intervenieren, kommt eine Szene – abgesehen von den Einführungsszenen – in einer SIGNA-Arbeit wie Das Heuvolk erst durch die Beteiligung des Publikums zustande. SIGNAs fiktive, mit theatralen Mitteln durchgestaltete Lebenswelt der Himmelfahrer ist eingerichtet, um vom Publikum inter-, pro- und reaktiv erkundet und kennengelernt zu werden.

91 In Versalien schreibe ich SIGNA, wenn ich vom Kollektiv spreche; sonst ist Signa Köstler gemeint.

92 Zu Martha Rubin siehe Wihstutz, 2012, insbesondere S. 98 – 113; Tecklenburg, 2014, insbesondere S. 146 – 163; Groot Nibbelink, 2019, insbesondere S. 141 – 165 oder auch Tögl, 2011, S. 21 – 38. Über Folgeproduktionen wie Die Hades Fraktur (Köln 2009) und Die Hundsprozesse (Köln 2011) schrieb vor allem Pamela Geldmacher im Rahmen ihrer Dissertation Re-writing Avantgarde: Fortschritt, Utopie, Kollektiv und Partizipation in der Performance-Kunst (2015). Zu den jüngeren Produktionen Ventestedet, Söhne & Söhne, Wir Hunde und Das halbe Leid liegen vereinzelte Aufsätze in Sammelbänden vor, vgl. u. a. Kalu, 2017; Wihstutz, 2018; Wihstutz, 2019; Kolesch/Schütz, 2020; Schütz, 2020 sowie unveröffentlicht Rocktäschel, 2017. In Schweden haben u. a. Theaterwissenschaftlerin Kim Skjoldager-Nielsen und in Dänemark Liesbeth Thorlacius verstärkt zu SIGNA gearbeitet. Eine Monografie zu den Arbeiten von SIGNA steht noch aus.

93 »I didn’t conceive of the whole thing as theater, […] I didn’t connect it with theater at all. Ultimately, it developed into a theater context, because we got our funding there and collaborated with actors and theaters. My actual starting point was an installation« (Köstler/Schmitz, 2017).

94 So u. a. bei Marcus, 2007; Spiegler, 2008 oder Burckhardt/Behrendt, 2008, was in der Forschung zumeist übernommen wurde. Mit den Worten »the fundamental concept of their projects is best described as performance installation«, wählen SIGNA den Begriff auch zur Selbstbeschreibung auf ihrer Homepage, siehe: https://signa.dk/about.html, letzter Zugriff 2.10.2020.

95 Bis zu 15.000 US-Amerikaner*innen lebten und arbeiteten von 1945 bis 2010 auf dem Gelände wie in einer abgeschotteten Stadt in der Stadt. Ich beziehe mich hier auf die Chronik des BFV, einzusehen unter: https://franklin-mannheim.de/quartier/geschichte/, letzter Zugriff 27.3.2020.

96 Die Informationen zu Produktions- und Probenprozessen verdanke ich Signa Köstler, die mir zu Forschungszwecken nicht nur Zugang zu Probenmaterialien gewährt hat, sondern auch in zahlreichen persönlichen Gesprächen Auskunft über ihre Arbeiten und Arbeitsweisen gegeben hat.

97 Ein Aspekt, der auch ökonomisch begründet ist, insofern die (ko-)produzierenden Theater dann nicht für alle Gäste Unterkünfte organisieren und finanzieren müssen. Neben dem gemeinsamen Wohnen und Produzieren stehen auch regelmäßige Partys auf dem Programm, die insbesondere für gruppendynamische Prozesse außer- wie innerfiktional von großer Bedeutung für SIGNA-Arbeiten sind, vgl. Kap. 4.4.

98 Ausnahmen bilden die Produktionen Martha Rubin und die Fortsetzung von Das halbe Leid, Det Åbne Hjerte, in Aarhus. Während Martha Rubin in der Halle Kalk in Köln Premiere hatte, wurde es im Rahmen des Theatertreffens 2008 auch in der alten Lokomotivenhalle des Naturparks Schöneberger Südgelände in Berlin gezeigt. In beiden Fällen brauchte es für die Errichtung des fiktiven Dorfes Ruby Town nur eine große, leerstehende Halle. Im Fall von Det Åbne Hjerte gab es einen Wechsel von der Werkshalle der Firma Heidenreich & Harbeck in Hamburg in das Amtssygehuset in Aarhus, einem ehemaligen Krankenhaus. Dieser Ortswechsel wurde in der Diegese damit begründet, dass der Verein in Hamburg behördliche Schwierigkeiten bekommen hat und sich deshalb gezwungen sah, eine neue Dependance im Ausland zu eröffnen, wo der therapeutische Zugriff nun stärker im Fokus stehe.

99 Demzufolge war der fiktive Jake im BFV stationiert und wirkte in der 1954 eingeweihten Kapelle der Pfingstgemeinde als Prediger. Das Maskottchen der Gemeinde war ein Büffel namens Geronimo. Ihn finden wir in der dreifach gespaltenen Figur des Erdkerngottes Cowboy, der sich u. a. als Büffel Geronimo in der menschlichen Hülle von Rosario (Raphael Souza Sá) manifestiert, wieder. Und der tatsächlich an das Mannheimer Käfertal angrenzende Stadtteil »Vogelstang« wird mit seinen Hochhäusern zum Ort für die geplante Himmelfahrt in die neue Welt.

 

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