Theater der Zeit

Leben in Zeiten der Dystopie

Theaterstücke aus Brasilien

von Henry Thorau

Erschienen in: Dialog 28: Theaterstücke aus Brasilien (12/2018)

Assoziationen: Südamerika Dramatik

Brasilien. Foto: Sergio Souza on Unsplash
Foto: Sergio Souza on Unsplash

Anzeige

Anzeige

„Pra frente, Brasil!“, so lautet die brasilianische Fußballhymne. „Vorwärts Brasilien!“, so könnte auch das Motto des brasilianischen Theaters der 1950er und -60er Jahre gelautet haben, denn den Weg in eine bessere Zukunft hatten sich auch die Theaterleute auf die Fahne geschrieben. Aufbruchsstimmung war allgemein angesagt in jenen relativ liberalen Zeiten, als Präsident Kubitschek fünfzig Jahre Fortschritt in fünf Jahren zum Ziel setzte, 1960 die von Oscar Niemeyer entworfene neue Hauptstadt Brasília eingeweiht wurde.

In den frühen 1960er Jahren, als die Chancen auf eine sozialistisch ausgerichtete Regierung nicht schlecht standen, engagierten sich Theaterleute nach dem kubanischen Modell massiv für ein neues, ein linkes Brasilien. Prägend war hier das Teatro de Arena in São Paulo, das erste kollektiv geleitete Theater Brasiliens mit seinen Chefstrategen Augusto Boal, dem späteren Begründer des Theaters der Unterdrückten, und Gianfrancesco Guarnieri, mit ihren marxistisch auf den Klassenkampf ausgerichteten Produktionen über streikende Metallarbeiter und die Gewerkschaftsbewegung. Ähnliche Ziele verfolgten auch die Polit-Revuen des Teatro Opinião in Rio de Janeiro, die Agitpropstücke und Straßentheateraktionen der Volkskulturzentren CPC. Ein neues Brasilien wollte auch das dem Tropicalismo und Antropofagismo, dem Menschenfressertum, verpflichtete Teatro Oficina in São Paulo. Andere sozialkritische Gruppen wie das Teatro Experimental do Amazonas in Belém oder Hermilo Borba Filhos Teatro Popular do Nordeste in Recife entdeckten mit Folklore-Anklängen ihre regionalen Wurzeln.

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, als die Militärs der linken Euphorie ein jähes Ende bereitet und ein autoritäres System installiert hatten, mit Ermächtigungsgesetzen, die demokratische Institutionen lahmlegten, und Schriftsteller und Theaterleute mit Auftritts- und Publikationsverboten verfolgt wurden, gingen die Kulturschaffenden und natürlich auch die Studierenden in den Widerstand. Viele endeten im inneren oder äußeren Exil, im schlimmsten Fall im Gefängnis. Westliche Länder schwiegen meist zu den Menschenrechtsverletzungen, weil sie vom brasilianischen Wirtschaftswunder profitierten, wie etwa die Bundesrepublik Deutschland mit dem Bau von Atomkraftwerken.

Aufbruchsstimmung kam erst Ende der 1970er Jahre wieder auf, als mit der „Abertura“, der politischen Öffnung, die zögerliche Redemokratisierung Brasiliens einsetzte. Mit der Aufhebung der Zensur, der politischen Amnestie, als viele Künstlerinnen und Künstler aus dem Exil zurückkehrten, wurde Bilanz gezogen: Etwa 500 Theaterstücke und sogar auch Musikstücke (wie Songs der international berühmten Chico Buarque und Caetano Veloso) waren während der bleiernen Zeit, den „anos de chumbo“, verboten worden. Viele der im Lande gebliebenen Autorinnen und Autoren waren verstummt, einstmals politisch aktive Schauspielerinnen und Schauspieler wollten zwar nur beim Fernsehen überwintern, waren aber inzwischen zu Stars der Telenovelas aufgestiegen. Die Phase der Aufarbeitung im Theater, der sogenannten Bewältigungsliteratur, währte relativ kurz. Neben einigen reißerischen sogenannten „Folterstücken“, die in die Abgründe der staatlichen Repression blickten, waren es vor allem Dramen, die sich mit den psychischen, emotionalen Folgen, den Befindlichkeiten der Betroffenen beschäftigten. Die meisten dieser als „Nova dramaturgia“ bezeichneten Stücke stammten von Frauen: Consuelo de Castro, Maria Adelaide Amaral, Leilah Assunção …

Hatte dieser Rückzug ins Private schon in den letzten Jahren der Diktatur stattgefunden, so zeichnete sich im brasilianischen Theater, in den Dramen wie in den Aufführungen, immer deutlicher eine Entwicklung ab, die im Privaten den Widerschein des Politischen suchte, in einer manchmal sogar zynischen, häufig aber auch resignativen, melancholischen Subjektivität. Diese Tendenz setzt sich bis heute fort, im Zentrum vieler Theaterstücke stehen oft scheinbar individuelle, oft auch autobiographisch getönte Probleme, die Bewältigung des eigenen Lebens und des Alltags in unterschiedlichen Konstellationen und Kontexten. Vielleicht ist dies nur in Zeiten einer relativen politischen Stabilität möglich, es ist aber auch Ausdruck der sich auf das Individuum auswirkenden gesellschaftlichen Stagnation und Politikverdrossenheit, die sich bis in die 1990er, ja bis in die 2000er Jahre fortsetzt. Das Private als unaufdringliche, aber unübersehbare Spiegelung von Politik und Zeitgeschichte repräsentieren auch die Stücke, die in dieser Anthologie vorgestellt werden. Es drängt sich angesichts dieser auf brasilianischen Bühnen erfolgreichen Stücke natürlich auch die Frage auf: Und wo bleiben die brennenden Themen, die die brasilianische Gesellschaft in jüngster Zeit umtreiben, die politische Dauerkrise, die Problematik der People of Color? Sie werden, mit vereinzelten Ausnahmen, auf der Bühne nicht verhandelt. Vielleicht ist auch dies ein Ausdruck von Ohnmacht, Enttäuschung, Resignation und Zynismus. „Ein Land am Abgrund“, so sah es schon der bedeutendste brasilianische Dramatiker Nelson Rodrigues (1912– 1980). Am Abgrund bewegen sich die meisten Protagonistinnen und Protagonisten dieser Stücke.

Jenseits der Metropolen rücken immer mehr die Regionen in den Fokus. Einer der wichtigsten Repräsentanten dieser Entwicklung ist Newton Moreno aus Pernambuco, dem Nordosten Brasiliens. Sein Stück Wüstes Land, Agreste (2004) eröffnet die vorliegende Anthologie. Das Licht der Öffentlichkeit erblickte es bei einer szenischen Lesung beim Festival de Teatro in Curitiba, in einer zum ersten Mal veranstalteten und vielbeachteten Reihe „schwuler Dramatik“. Was verbirgt sich nicht alles in diesem wenige Seiten umfassenden Text, was lässt sich inhaltlich und formal nicht alles aus ihm herauslesen oder in ihn hineinlesen: böses Märchen, Schicksalstragödie, Ovids Metamorphosen, Gender- und Queer-Diskurse, C. G. Jungs Archetypen, etwa der ‚Großen Mutter‘, die in der brasilianischen Konnotation als Mutter des Wassers, mãe d’água, auftaucht, gleichgeschlechtliches weibliches Begehren und Bedrohung ankündigt. Und dann entzieht sich der Text auch noch konventionellen dramatischen Klassifizierungen. Wüstes Land wird als „material cênico aberto“, als offenes szenisches Material, als radikales Narrativ betrachtet. Mit dem von ihm eingeführten Begriff der „partitura física“ sieht der Autor selbst, Newton Moreno, Wüstes Land gar als ‚polyphones Körpertheater‘, in dem der Erzähler oder die Erzählerin alle anderen Rollen übernehmen könne. Die Stimmführung lehnt sich an die brasilianische literatura de cordel an, ist deutlich der oralen Populartradition des brasilianischen Nordostens verpflichtet, etwa João Cabral de Melo Netos „Auto de Natal Pernambucano“ Morte e vida Severina (1956, dt. Tod und Leben des Severino).

Verstörend, vielleicht auch bewusst provokativ ist die Schreibweise: „contador(a)“, Erzähler(in), die Zuschauer*innen, Zuhörer*innen und Leser*innen durch den Text führt. Wünscht der Autor sich einen Mann oder eine Frau? Wahlweise? Oder simultan? Oder Darsteller, die sich z. B. als intersexuell oder Transgender definieren oder vieles mehr? Vermutlich soll hier von Anfang an die Aufmerksamkeit auf die Kategorien des ‚Anderen‘, der Alterität und Diversität gelenkt werden. In Newton Morenos Werk, nicht nur in Agreste, gehen Sexualität und cultura popular eine Beziehung ein, wie es sie im brasilianischen Drama und Theater so noch nicht gegeben hat. Dies macht sein OEuvre auch so einzigartig.

Dass Agreste im Sertão spielt, dokumentiert auch die Sprache des ländlichen Nordostens. Die Stimme des/der Contador(a), die Lexik, Syntax, das Monologische, Dialogische sind dem Volkston der literatura de cordel abgelauscht. Manche der einfachen Sätze wirken wie stilisierte Oralität, klingen wie mit (Binnen-)Anaphern durchsetzte rhythmische Prosa oder Verse. Was für eine Herausforderung für die Übersetzerin Katja Roloff, die sie bravourös gemeistert hat!

Der Autor Newton Moreno erzählte mir, dass die Gender-Thematik im ländlichen Nordosten Brasiliens öfter auftaucht oder literarisch verarbeitet wird als gemeinhin bekannt. Er nannte als beispielhaft den Namen des Protagonisten/ der Protagonistin eines der berühmtesten brasilianischen Romane des 20. Jahrhunderts, Grande Sertão: Veredas. Zweifellos steht Newton Morenos Agreste in einem intertextuellen Dialog mit João Guimarães Rosas Werk aus dem Jahr 1956. Newton Moreno erwähnte sogar den Namen des Protagonisten/der Protagonistin und setzte ihn in den Plural. Ja, man könnte Wüstes Land, Agreste als eine literarische Antwort auf João Guimarães Rosas Roman bezeichnen. Ein vertracktes Spiel: denn anders als Guimarães Rosa, der am Ende die heterosexuell genormte ‚Differenz‘ bestätigt, entkleidet sie Newton Moreno gewissermaßen wörtlich, entlarvt sie als Konstrukt, klagt die Verweigerung, Sanktionierung an. Am Ende bleibt die Frage des Erzählers/der Erzählerin: „Liebe? Was ist das wohl? Schmerz und seine Linderung?“

Um Liebe, Schmerz und wie man/frau überleben kann, geht es auch in Grace Passôs Für Elise (2005): „Der Gaslieferant. Was für eine schöne Musik, um weinend Gas zu kaufen, nicht wahr?“, schwärmt eine Hausfrau und meint damit die gleichnamige Melodie, die aus dem Lautsprecher des Gas-Lieferwagens dröhnt, der langsam durchs Vorstadtviertel fährt, Ludwig van Beethovens Klavierstück in A-Moll. Als Moll könnte man auch die Tonart bezeichnen, die über dem Stück Grace Passôs liegt. Beschreibt Für Elise die allgemeine Angst, Bedrohung und Paranoia, die hinter der harmonischen Fassaden-Musik herrscht, auch angesichts der Alltagskriminalität in Brasilien? Das ist die eine Seite des Dramas. Die andere ist, wie man/frau mit der Situation umgeht. Da sagt der Müllmann zur Frau: „Ich glaube, du musst dich der Situation ganz einfach stellen. So ist das Leben eben …“ Da entlädt sich das nicht gelebte Leben eines Nachbarn beim Herzinfarkt in einem „Lyrikanfall“, da bäumt sich das Herz der Hausfrau plötzlich surreal auf „wie ein junges Pferd, das mit feurigen Hufen zum Meer galoppiert“.

Und wenn dann aus dem Off auch noch ein Hund zu hören ist, der Wörter bellt, sind das nicht nur Anklänge an die konkrete Poesie, sondern es scheinen auch Reminiszenzen aus Cervantes’ Hund Berganza aus den Novelas ejemplares auf. Und plötzlich spricht nicht mehr die Hausfrau, sondern die Schauspielerin hinter der Rolle und ermahnt ihre Mitspielerinnen, „lasst euch emotional nicht zu sehr darauf ein, wenn ihr hier Geschichten erzählt. (…) Dafür gibt es doch Techniken.“ Und schon befindet man/frau sich mitten im Meta-Theater von Grace Passô und ihrem Theaterkollektiv espanca!, einer der, darüber ist sich die Theaterkritik einig, aufregendsten und spannendsten brasilianischen Theatergruppen der letzten Jahre. In den meisten ihrer oft in gemeinsamer Probenarbeit entstandenen Texte spielt sie nicht nur selbst mit, sondern „performt“ geradezu exzessiv, womit sie in Brasilien inzwischen nicht nur als Autorin, sondern eben auch als schwarze Performerin Kultstatus erlangt hat.

Eine ältere, liebes- und lebenskranke Frau, Denise, liegt auf ihrem Bett, dämmert vor sich hin, unfähig aufzustehen. Eine zweite Frau, Isabel, sitzt am Esstisch und löst Kreuzworträtsel. Das ist die Eingangsszene von Silvia Gomez’ Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm (2006), und damit ist das Setting des ganzen Stücks umrissen. Als Denise nach der Schwester schreit, Isabel das Schreien zunächst ignoriert, dann aufsteht, eine Spritze aufzieht und Denise mit einer Injektion wieder ruhigstellt, wird klar, wir befinden uns offenbar in einer Szene betreuten Wohnens mit einer häuslichen Pflegekraft.

„Verdammtes Miststück, tu nicht so! Ich weiß, dass du mich hören kannst, du Luder, ich weiß es ganz genau, also bitte! Ich hab mich vollgeschissen. Ich hab in die Hose gepinkelt. Schwester!“ Was wie der O-Ton aus einer undercover-Reportage klingt, in der mit versteckter Kamera die Missstände der Pflege aufgedeckt werden, was also auf den ersten Blick wie Reality wirkt, wie ein dokumentarisches Pflegedrama, das es auch ist, entpuppt sich immer mehr als Beziehungsdrama, mehr noch, als eine Liebes- und Hassbeziehung zweier Frauen. Als Isabel fragt, „wie fühlen wir uns denn?“, und Denise zischt, „am liebsten würde ich dich anspucken und vollkotzen“, und Isabel Denise am Arm packt und scharf fordert, „Liebes! Sieh mich an“, wirkt das so, so als sei da eine Petra von Kant inzwischen auf dem verzweifelten Abstieg in die Abhängigkeit, Hilflosigkeit und Demenz.

Aber Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm ist auch eine folie à trois, denn da ist noch Arthur, der Dritte im Bunde, Arzt und Ehemann von Denise und früherer Liebhaber von Isabel, als diese noch bei ihm in der Klinik arbeitete. Denise, die Arthur nicht mehr erkennt, vermutet, dass Isabel sie vergiften will. „Ich glaube, du hast Halluzinationen“, beschwichtigt Arthur. Aber so abwegig ist das nicht, schließlich stimmt Isabel ein Geburtstagslied für Denise an, „Happy birthday to you …“ Und von Theresia Walsers Dramagroteske King Kongs Töchter (1998) wissen wir, dass Patientinnen und Patienten gerne an Jahrestagen von den Pflegekräften ins Jenseits befördert werden. Vielleicht schminkt sich Denise auch deshalb stark, um noch einmal hinauszugehen auf die Straße und ihre Sexphantasien auszuleben, wie Elfriede Jelineks Klavierspielerin einen Mann im öffentlichen Raum auf allen Vieren oral zu befriedigen … Wie soll man mit solchen Phantasien und Assoziationen umgehen? Vielleicht so wie Arthur, der ziemlich gegen Ende feststellt: „ab einem bestimmten Alter wird einem klar, dass es keinen Sinn hat, etwas zu erklären, am Ende spielt es keine Rolle. Also lässt man die anderen denken, was sie wollen, weil sich an ihrem Denken sowieso nichts ändern wird, man bleibt ganz ruhig, schaut zur Decke, während sie reden, schimpfen und schreien, dann steht man auf und geht.“

Verlorene Liebesmüh? „… in den letzten drei Jahren ging es mir richtig gut. Jeden Tag, richtig gut. Ich habe nicht meditiert, nicht gebetet, habe mich schlecht ernährt, habe zu viel getrunken, zu viel geraucht, hatte die Therapie geschmissen, hatte keine große Ambitionen im Leben“, resümiert Marcos in Pedro Brícios Fast verlorene Liebesmüh (2011), in dem vier Schauspielerinnen und Schauspieler auf einer Theaterprobe über ihre Rollen und ihre Rolle im Leben nachdenken und improvisierend räsonieren. Was zunächst wie ein zwangloses spielerisches Geplauder aussieht, wächst sich nach und nach zu einem Beziehungsclinch aus, in dem, wie sich herausstellt, irgendwie jede und jeder schon einmal mit jedem und jeder was hatte oder zumindest zu tun hatte, sich die Rollen vermischen, Rollengrenzen überschritten werden, die Mauern der eigenen Identität, auch die der sexuellen, ins Wanken geraten: „Ich dachte, ich würde mit jemandem schlafen … ich muss mit jemandem schlafen. Irgendwann werde ich wieder mit jemandem schlafen müssen.“

Marcos hatte anfangs in seiner Geometrie der Leidenschaft noch versucht, die Personen und ihre Darsteller auf den Punkt zu bringen: „Es könnte so sein: (deutet auf Mariana) X, (deutet auf sich selber) Y, (deutet auf João) Y2, (deutet auf Branca) Z. Wie eine mathematische Gleichung. Oder Sie, Er, Der, Die.“ Später muss er resignierend feststellen: „Ich kann nicht mehr. Ich bin der Erzähler, der mittendrin den Faden verliert. Ich bin die Figur, die mittendrin alles verliert und in eine Lebenskrise gerät. Ich bin derjenige, der nicht mehr weiß … wie es weitergehen soll …“ Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass immer wieder Spanisch gesprochen wird, ganz wie in Shakespeares Verlorener Liebesmüh, ohne dass jedoch das Idiom wie beim großen Vorbild parodiert würde.

Eine Komödie der Irrungen, Irritationen und Verwirrungen ist dieses Stück von Pedro Brício, in die, ähnlich wie bei Shakespeare, ganz plötzlich die Wirklichkeit einbricht, aber nicht die tragische … Vielleicht lautet der Titel auch deshalb, wegen eines leisen hoffnungsfrohen Moments, Fast verlorene Liebsmüh

„Warum soll man hassen, was nicht zu ändern ist“, fragt ER SIE in Paulo Santoros Das Ende aller Wunder (2006). Beide sitzen im Rollstuhl allein auf der Bühne, wie am Ende aller Tage. Sie lassen ihr Leben Revue passieren. War ich wirklich Professor? ER ist sich nicht mehr sicher. Nur wenn du dich an Details deiner Doktorarbeit erinnern kannst. Was war das wichtigste Ereignis in deinem Leben? Dass du einen kleinen Hund gerettet hast? Was wie eine pessimistische Selbstbefragung beginnt, geht über in einen philosophischen Exkurs über den Kosmos, mit professoralem Objektivitätsanspruch. Es ist, als höre man Thomas Bernhards Weltverbesserer-Tirade, die ER an seine manchmal sprachlose Frau und die Welt da draußen richtet. Aber gleichzeitig blitzt immer wieder eine abgründige Selbstironie auf, etwa, wenn ER in den leeren Raum fragt, warum er sich als Professor an seine Doktorarbeit erinnern müsse, und sich lieber den Tod eines Dichters wünscht.

Und wenn ER irgendwann am Fenster kommentiert, „schau, draußen zieht das Leben vorüber“, ist es, als blicke man mit Otto Sander und Edith Clever wie in Botho Strauß’ Kalldewey Farce aus dem All hinunter auf die Erdenmenschen. So manche Assoziationen weckt dieses kleine große Stück: an den trockenen Humor Samuel Becketts, die aberwitzigen Dialoge Eugène Ionescos und an andere trostlose Clownerien. „Ich bin sehr traurig“, wirft SIE plötzlich ein.

Vielleicht kehrt in Zeiten der Krise das existenzialistische und absurde Theater auf Brasiliens Bühnen zurück, wobei es Paulo Santoro zudem gelingt, die Leerstelle Erotik und Sexualität auszufüllen: Ein Ehestreit über käuflichen Sex im Alter bildet den „Höhepunkt“ und das „Happyend“ dieses philosophischen Boulevarddramas vom Ende aller Wunder. Am Ende des kleinen Dramas lässt sich knapp und vielsagend behaupten, dass der Autor Paulo Santoro mit den unterschiedlichen Bedeutungen und Symbolen des „Lebenssterns“ und der „Ars morriendi“ des Dichters des brasilianischen Modernismus Manuel Bandeira (1886–1968) spielt, dessen Gedicht „Preparação para a Morte“ (Vorbereitung auf den Tod) er seinem Stück als Motto voranstellt.

‚Vorbereitung auf den Tod‘ könnte auch das Motto von Sergio Roveris Hängepartie (mit Innenansichten) (2007) lauten. „Ich glaube, dass sie schon bald einen Roboter kaufen, der tun soll, was wir tun“, befürchtet Mário in einem Disput mit seinem Arbeitskollegen Claudionor. Sie sind Fensterputzer und hängen an einer Hochhauswand in einer brasilianischen Megastadt. Wenn sie nicht über ihre Arbeitsbedingungen klagen, die Angst, ihren Niedriglohnjob zu verlieren, sich ihre Wunschträume und Albträume erzählen, beobachten sie die da drinnen an ihren Schreibtischen, die im Trockenen sitzen, die einen Boden unter den Füßen haben. Sie kennen sie alle, vor allem auch die jungen Mitarbeiterinnen, die sie durch die blankgeputzten Panoramascheiben bei der Pausengymnastik mit den Augen verschlingen. Sie können sich noch so sehr verrenken auf ihrem Gerüst, sie sind nicht dabei, sie sind nicht drinnen.

Das Gerüst schaukelt gefährlich, man denkt, gleich stürzen sie ab, aber es passiert nichts. Weder draußen noch drinnen. Dass sie längst abgestürzt sind, dass sie „Outcasts“ sind, spüren sie, wissen sie, aber es fehlen ihnen die Worte und Begriffe für „Inklusion“ und „Exklusion“, die Soziologen so gerne im Munde führen, und sie wissen auch nicht, sondern können nur ahnen, dass sie eine hochaktuelle Metapher sind über den politischen und wirtschaftlichen Niedergang, die soziale Kälte im heutigen Brasilien. „Arm ist immer arm, auf dem Boden oder in den Wolken“, so lautet Mários melancholisches tatenloses Fazit.

Zwei Verlorene in einer schmutzigen Nacht (1967, Dois perdidos numa noite suja) hieß ein berühmtes Zweipersonenstück von PlÍnio Marcos (dt. 1985, Henschelverlag, Berlin), in dem zwei junge Männer ihr karges Leben mit Prostitution und Überfällen sicherten. Davon sind die beiden weit entfernt, diese Enkel des politischen Sozial- und Anklagedramas der 1960er Jahre. „Zwei Verlorene am helllichten Tag vor sauberen Fenstern“ könnte der Untertitel von Sérgio Roveris Drama lauten. Vielleicht sitzen die zwei eines Tages als alte Männer auf der Bank und erinnern sich voll Wehmut an die „stürmischen“ Zeiten ihrer Jugend über dem Abgrund, in denen auch nichts passierte.

„Zum Beispiel mag ich heutzutage nicht einmal mehr auf die Straße gehen, denn irgendwie sind alle Menschen krank“, gesteht die Krankenschwester Isabel in Der Himmel fünf Minuten vor dem Sturm. Es scheint so, als wolle sich das brasilianische Theater in diesen Zeiten auch nicht mehr auf die Straße wagen. Es scheint heute so, als habe man das Vertrauen verloren in die Politik, in die Aktion, in das explizit politische Theater, in das eingreifende Theater. An all die Hoffnung, die man an das Experiment Theater, an das Theater der 1960er Jahre geknüpft hatte und das ja – auch durch äußere Faktoren wie die Militärputsche, die Militärdiktatur – gründlich gescheitert ist. Brasilien, das ist in den letzten Jahren, man möchte fast sagen, Jahrzehnten, Leben in Zeiten der Dystopie, einer auch theatralischen Dystopie, wovon diese Stücke beredtes Zeugnis ablegen.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Pledge and Play"