Wie wir dem Text Leben einhauchen
von Viola Schmidt
Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)
Assoziationen: Schauspiel
Der Atem der Schriftsprache ist nicht der Atem lebendiger Sprechsprache. Gedankliche Sinnschritte ausschließlich an Satzzeichen festzumachen und entsprechend mit Atempausen abzuteilen, mag für Sachtexte legitim sein. Schauspielern wollen wir die Figuren glauben, nicht ihren Text erklärt bekommen. Es soll im besten Fall der Eindruck entstehen, die Figuren würden komplizierte, gebundene Dichterworte im aktuellen Moment einer Interaktion gedanklich entwickeln. Die den Worten zugrunde liegenden Gedanken bewegen Körper und Atem in Abhängigkeit vom situativen Figurenverhalten. Das Denken setzt Handlungen in Gang und wird von Handlungen verändert. Denken meint in diesem Zusammenhang nicht sinnieren, über etwas nachdenken. Vielmehr haben wir es mit einem aktiven Prozess der Auseinandersetzung zu tun, der von Emotionen und Gefühlen begleitet wird. Assoziatives und analytisches Denken gehen Hand in Hand und ergreifen den ganzen Körper. Das setzt voraus, den Text aus der Situation der Figur zu verstehen und nachzuvollziehen. Die 1912 im Sammelband „Betrachtung“ erschienene Skizze „Der plötzliche Spaziergang“ von Franz Kafka ist ein hypothetisches Wenn-Dann-Satzgefüge.
Der plötzliche Spaziergang
Wenn man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben, den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl beim beleuchteten Tische sitzt und jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen hat, nach dessen Beendigung man gewohnheitsgemäß schlafen geht,...