Theater der Zeit

Einführung

von Matthias Rothe

Erschienen in: Recherchen 170: Tropen des Kollektiven – Horizonte der Emanzipation im Epischen Theater (11/2024)

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»Ich habe das Theater immer sehr geliebt und dennoch gehe ich kaum noch dorthin«,1 schreibt Roland Barthes 1965. Das Theater scheint uns seit Langem etwas zu versprechen: Vorführende und Zuschauende sind füreinander anwesend. Hier und jetzt wird etwas gezeigt, das heißt mit dem ganzen Körper vorgeführt und wahrgenommen, etwas, das mit aller Leben zu tun haben könnte. Mit anderen Worten, hier kommen Menschen tatsächlich zusammen, noch in überschaubarer Anzahl, aber bereits anonym genug, um das geteilte ›Eingestimmt­sein‹ als Überraschung und Glück, ja beinahe als gemeinschaftliche Kraft zu empfinden. Aber zugleich scheint auf dieses Versprechen nie etwas zu folgen. So legt es auch Barthes nahe. Ein eher ritualisierter Kontakt setzt sich an die Stelle eines Ereignisses. Es bleiben die Routinen einer oft zum Spektakulären tendierenden Darbietung, zufällige und vereinzelte Reaktionen vom Publikum und dann allenfalls die Hoffnung auf den Wein in der Spielpause und das Gespräch mit Freunden danach.

Es war die sogenannte erste Avantgarde, die sich nicht mit dem bloßen Versprechen zufriedengeben wollte und das Theater zum Ort einer wirklichen Zusammenkunft erklärte. Dies nachzuvollziehen, am Beispiel der Piscatorbühne, der Truppe 31 und der Versuche-­Gruppe (meine Bezeichnung), die ich dem epischen Theater zurechne, ist das Anliegen dieses Buches. Erwin Piscator etwa sprach vom ­Theater als einer ›Versammlung‹, in der die gesellschaftlichen Ereignisse und ­Vorgänge, denen die Einzelnen ansonsten nur ausgeliefert sind, zum Gegenstand von Einsicht und Ermächtigung werden sollten. Dazu musste das Theater zuallererst aus seiner kommerziellen (bürgerlichen) Verwünschung erlöst, also entzaubert und in Besitz genommen werden. Die Arbeit der Probe und der Aufführung, die Arbeit aller am Zustandekommen der Vorführung Beteiligten hatte sich sichtbar zu machen, und zwar als die Arbeit für die Gemeinschaft, die sie ›­eigentlich‹ immer schon gewesen war, und um ihrer kollektiven Verfassung willen.

Künstlerische Arbeit wurde sich ihrer selbst bewusst, reflektierte sich und machte sich zum Teil dessen, was sie hervorbringt. Walter Fähnders spricht etwa von der performativen Aufhebung des Werkcharakters zugunsten von Kunst als einer sozialen Praxis.2 Das betraf nicht nur das Theater, sondern war ein Merkmal des europäischen Modernismus und vor allem der künstlerischen Avantgarde schlechthin. Mit der ›Konkreten Poesie‹ etwa trat das dichterische Material in den Vordergrund, in der bildenden Kunst verbarg sich der Arbeits­prozess nicht mehr im Bild, sondern dieses wies dessen Spuren deutlich sichtbar auf.

Und indem künstlerische Arbeit sich demonstrativ sichtbar machte, ließ sie sich mit der nicht-künstlerischen Arbeit vergleichen. Diese galt, spätestens seit in der Weimarer Republik Rationalisierung zum Zauberwort wurde und der Taylorismus Einzug hielt, vor allem im Bewusstsein linker Künstler*innen als eine durch den Kapitalismus zugerichtete, hoch arbeitsteilige Lohnarbeit. Sie war zerlegt in Produktionsschritte, denen keine natürliche Bewegung mehr entsprach, war auf Ziele hin ausgerichtet, mit denen die Arbeitenden kaum noch etwas zu tun hatten. Die künstlerische Arbeit musste den Künstler*­innen dagegen als all das erscheinen, was Lohnarbeit nicht war: ­spontan, individuell und variabel. Sie begann immer wieder von vorn, Material und Verfahren kamen große Aufmerksamkeit zu (sie waren alles andere als standardisierte Rohstoffe und Instrumente), wichtiger vielleicht noch: In der künstlerischen Arbeit schien der ganze Arbeitszusammenhang den Arbeitenden verfügbar zu bleiben. Die künstlerische Arbeit konnte sich so zur Utopie aufwerfen, im ­Theater nicht zuletzt auch deshalb, weil sie sich in Probe und Aufführung kooperativ vollzog. So sollte alle Arbeit werden.

Von dieser historischen Situation ausgehend und mit Blick auf Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik, habe ich mit einer einfachen Frage begonnen: Wie kommt es, dass die Besonderheiten der künstlerischen Arbeit in den Blick geraten – jede*r mit dem Theater praktisch Befasste kennt zum Beispiel die heuristischen Verfahren der Probe, das Entdecken und Wiederholen, das Glück der Einsicht, das sich eher im Dazwischen der Interaktionen wie eine chemische Reaktion vollzieht, gleichzeitig ist oder bleibt die darüber formulierte ­Utopie die einer Befreiung der industriellen Produktionsmittel und Verfahren, nicht die Befreiung von ihnen? Hätte nicht gerade die Reflexion auf die künstlerische Arbeit die Möglichkeit eröffnen können, den allgegenwärtigen Produktivismus der Zeit zu überwinden?

›Proleten sind wir alle‹, wurden zum Beispiel die Spielenden der Truppe 31 nicht müde zu betonen. Die Truppe 31 war eines von vielen selbstverwalteten Ensembles revolutionär gesinnter Schauspieler*­­innen, das sich als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise gründete. Damit ist die Differenz zwischen Künstler*innen und Arbeiter*innen bereits übersprungen. Als Sinnbild neuer Ge­­mein­schaft wird im Schlussakt ihres Erfolgsstückes Die ­Mausefalle das Fließband zelebriert. Auf der Bühne nachgestellt kommen die schauspielerischen Bewegungen mit den Bewegungen der Figuren am Fließband zu einer vermeintlich glücklichen Einheit.

Noch etwas anderes geschah im Theater gegen den erklärten Willen der Beteiligten. Die Kollektivität der künstlerischen Arbeit verschwand aus dem Blick. Wir haben es schließlich wieder mit ›­großen‹ Regisseuren und Autoren zu tun: Erwin Piscator, Bertolt Brecht, Gustav von Wangenheim usw., nicht zufällig alles Männer. Warum scheitert das Anliegen linker Avantgarde-Künstler*innen? Weder entstehen Bilder unentfremdeter Arbeit, noch bringt sich ihre Kooperation vorbehaltlos zur Geltung.

Eine Antwort, die sicher nur eine unter mehreren Antworten ist, aber für die vorliegende Untersuchung meine wichtigste, lautet: Es scheitert gerade deshalb, weil Künstler*innen in der Besonderheit der künstlerischen Arbeit nur eine vom Zwang der Lohnarbeit befreite Arbeit gesehen haben und nicht in den ›Gesetzen‹ dieser vermeintlichen Freiheit das der künstlerischen Arbeit eigene kapitalistische Verwertungsregime erkannten. Die künstlerische Arbeit, so schlage ich vor, ist jedoch gerade nicht »freie Arbeit in entfremdeter Form«, wie es der Kunsttheoretiker John Roberts formuliert.3 ›Entfremdet‹, weil sie noch in ihrer bürgerlichen Gestalt, nämlich als Ware auftreten muss. Vielmehr lassen sich die Formen, in denen sie sich vollzieht, ebenso als ein kapitalistisches Verwertungsregime von Tätigkeiten beschreiben (›Arbeit‹ ist genau genommen bereits der Name für deren verwertete Form). Dieses ist zwar qualitativ verschieden von jenem der Lohnarbeit, aber ein kapitalistisches nichtsdestotrotz. Erst diese Einsicht, so argumentiere ich, hätte es erlaubt, zu einer Haltung und zu einem ästhetischen Ausdruck zu kommen, der den Produktivismus, zumindest imaginativ, hinter sich lässt.

Das ›Richtige‹ ist selbst nicht ganz ohne Beispiel. Die Arbeit einer Künstler-Gruppe, so zeige ich, entkommt diesem Produktivismus ­beinahe. Ich nenne diese Gruppe Versuche-Gruppe nach einem gleichnamigen Zeitschriftenprojekt, in dem viele der Beteiligten seit 1930 veröffentlichten. Bei Kiepenheuer herausgegeben, wurden die Versuche zu einer Plattform für die Diskussion der laufenden Arbeit an Bühnen-, Film- und Prosaprojekten. Auch wenn der Name des bereits bekannten Brecht, strategisch platziert,4 groß auf dem Cover prangte, waren die einzelnen Projekte in alphabetischer Reihenfolge von den Beteiligten unterschrieben. Mit dem Namen ­Versuche-Gruppe möchte ich daher das respektieren, was ich als eines ihrer wesentlichen Anliegen verstehe, nämlich die unvermeidliche Kooperativität künstlerischer Tätigkeit mitzuzeigen. Eine programmatisch selbstreflexive Kooperation prägte ihre Ästhetik von etwa 1927 bis 1931. Und ein solches Programm war schon deshalb für die Beteiligten nicht nur ein moralischer, sondern ein unhintergehbarer pragmatischer Imperativ, weil die Zurechnung künstlerischer Arbeit auf Einzelne von diesen Künstler*innen als der wichtigste Zug im kapitalistischen Verwertungsregime der Kunst identifiziert und daher zum Angriffspunkt geworden war. Wie Bertolt Brecht es pointiert im Dreigroschenprozess formuliert: Im Kapitalismus gehört es zur Grundannahme, »dass alles ›Einmalige‹, ›Besondere‹ nur von einzelnen hergestellt werden kann und Kollektive nur genormte Dutzendware hervorbringen«.5 Dementsprechend muss künstlerische Arbeit, selbst wenn sie kollektiv verfährt, als Leistung von Schöpfungssubjekten erscheinen. Unter anderem diesen Schein suchte die Versuche-Gruppe offenzulegen, indem sie, anachronistisch gesagt, mit In-situ-Installationen in den kapitalistischen Kunstbetrieb eingriff. So jedenfalls verstehe ich im Folgenden, was mit Aufführungen wie der Dreigroschenoper und dem Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny auf dem Spiel stand. Versteht man sie als Stücke Brechts, ein sehr verbreitetes Missverständnis, muss nicht nur aus dem Blick geraten, dass die ihnen entsprechenden Texte nichts als unvollständige Spielvorlagen waren – eine vorläufige Vollständigkeit erreichen sie erst durch die Aufführung, durch Spiel, Musik, Technik, Bühne usw. –, sondern auch, dass sie überhaupt nur wirksam werden können, indem sich durch die Aufführung eine sich ihrer selbst bewusste Kooperation Vieler artikulierte.

Methodisch war es für mich äußerst schwierig, die Gleichsetzung der Hervorbringungen dieser Gruppe mit Bertolt Brecht zu vermeiden. Die Zuflucht zu dem Namen ›Versuche-Gruppe‹ war das Ergebnis eines wiederholten Scheiterns daran. Das hat auch etwas damit zu tun, dass die Erforschung von Theater und Literatur, genuiner Teil des Verwertungsregimes von Kunst, auf die einzelnen Autoren als letzte Anhaltspunkte eingespielt ist und die vielen anderen am Produktionsprozess eines Kunstwerks Beteiligten allenfalls in Zusätzen und Fußnoten zur Kenntnis nimmt. Die Quellen, etwa die Archive, sind bereits personalisiert und auf einer sehr grundsätzlichen Ebene fehlen die Begriffe und Perspektiven, um das, was Adorno ›die geschichtliche und gesellschaftliche Präformierung‹6 aller Kunstwerke nennt, zu einem Ersten zu machen und individuelle Autorschaft als etwas Abgeleitetes zu verstehen. Kurz gesagt, im Namen Brecht und durch die weit verbreiteten werkbiographischen Zugänge ist das Bewusstsein dafür, dass die Arbeit der Vielen, als solche reflektiert, zum künstlerischen Produktionsmodus geworden war, ausgelöscht. ›Mitarbeiter*innen‹ meint dann nur noch Hilfe und Zuarbeit. Damit wird aber, ironischerweise, der Anspruch der Gruppe, nämlich gerade eine Kritik oder Aufdeckung genau solcher Auslöschung zu leisten, übersehen. Wichtiger noch, übersehen wird damit auch, dass sich mit der Versuche-Gruppe über die Kritik am spezifischen Verwertungsregime der Kunst, sozusagen avant la lettre, bereits eine Kritik am kapitalistischen Verwertungsregime überhaupt formuliert hat, die man (eben beinahe) eine antiproduktivistische nennen kann.

Um dieses historische Moment freizulegen, musste ich mich bemühen, meine eigene Herangehensweise so zu positionieren, dass sie die eingeschliffenen Prämissen einer im weitesten Sinne literarischen Forschung nicht reproduziert. Das hieß für mich zum Beispiel, weder Brecht noch Piscator zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu machen, sondern das epische Theater, erstens, als eine breite künstlerische Bewegung zu verstehen und, zweitens, es als Teil der künstlerischen Avantgarde zu verorten, mit der es seine Prämissen teilt – also auch über das Feld der Texte und des Theaters hinauszuschauen in die epistemisch-ästhetische Verfassung der Epoche. Außerdem und eng damit verbunden, kam ich nicht umhin, Stellung zu den wirklich großen Fragen zu beziehen: Was ist überhaupt künstlerische Arbeit, nicht nur im Theater? Wie entsteht der ästhetische und ökonomische Wert von Kunst? Dabei hat mir die Diskussion im Feld marxistischer Ästhetik sehr geholfen, nicht nur Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie ist für mich (wieder) ein wichtiger Bezugspunkt geworden, sondern auch neuere Diskussionen, vor allem im anglophonen Raum, zum Wert der Ware Kunst. Adornos Diktum »Die Arbeit am Kunstwerk ist gesellschaftlich durchs Individuum hindurch«7 blieb für mich unhintergehbar. Ich habe es nicht nur darüber verständlich zu machen versucht, dass jedes Kunstwerk auf einen bestimmten historischen Stand der künstlerischen Arbeit und der Produktivkräfte angewiesen bleibt (darauf verweist Adorno wiederholt), sondern auch mit Blick auf die Praxisgebundenheit jeder künstlerischen Arbeit. Genauer, wer auf der grundsätzlich kooperativen Entstehung eines Kunstwerks insistiert, wird immer auf den Einwand treffen, dass die besonderen Fähigkeiten des oder der Einzelnen doch kaum geleugnet werden können. Aber Bertolt Brecht war doch dieses außerordentlich kluge und über die Maßen begabte Individuum! Mit Blick auf die besondere moderne Verfassung von Kunst, nämlich dass erst als solche gilt, was sich als originelle Hervorbringung Einzelner verstehen lässt, habe ich dagegen versucht, die Beweislast umzukehren, und gefragt, wie denn eine Praxis eingerichtet sein muss, damit Verhaltensweisen als individuelle Begabung erscheinen, und zwar trotz einer Vielzahl von Beteiligten und der Unwahrscheinlichkeit (oder, je nach Definition, Unmöglichkeit) von Originalität. Dass bestimmte Verhaltensweisen überhaupt, zudem diese und nicht andere als Begabung hervortreten können, voraussetzungslos erscheinen und sich in Einzelnen ›verkörpern‹, erscheint aus solcher Perspektive dann selbst als von allen Beteiligten mitproduziert und ist, wie gesagt, darüber hinaus auf ein erweitertes Umfeld angewiesen, das Horkheimer und Adorno auf die Formel ›Kulturindustrie‹ bringen. Das stellt nicht infrage, was Kunst bewirken kann, sondern impliziert, was keineswegs erstaunen sollte, dass auch diese Wirkung im Kapitalismus auf der Aneignung von Arbeit beruht. Solche Positionierungen im Feld großer Fragen müssen besonders prekär bleiben. Sie sind es schon deshalb, weil sie die Selbstreferenz nicht aushalten. Mit allen Eigennamen, die künstlerische oder philosophische Leistungen markieren, so umzugehen, dass ihre kollektiven Voraussetzungen umstandslos mitgedacht werden können, wäre notwendig gewesen, aber dafür fehlt schlicht die Sprache. Der Versuch einer mitlaufenden Relativierung hätte die Lesbarkeit des Textes sicher zerstört, so dass ich bei den Eigennamen – Karl Marx, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Roland Barthes usw. – geblieben bin und sie als Abkürzungen für gesellschaftliche Positionen verstehe.

Das vorliegende Buch versucht also, den Moment in den Blick zu nehmen, an dem es dem epischen Theater – als einer breit angelegten künstlerischen Bewegung oder, besser noch, Feldkooperation – ­beinahe gelang, zu einer nicht-produktivistischen Form der Kapitalismuskritik zu kommen. Scheitern ist in der Regel instruktiver als Gelingen, denn die Mühe, der Weg, ist im Gelingen immer schon ­verschwunden. Mit diesem ›Beinahe‹ ist angezeigt, dass ich das Unterfangen der epischen Theaterbewegung keineswegs romantisieren, sondern in all seiner Beschränkung sichtbar machen möchte.

Zu solcher Beschränkung gehörte, wie ich am Beispiel der Versuche-­Gruppe ausführlich darstelle, dass der Begriff von Kollekti­vität, in dem sich ihre Arbeit schließlich reflektiert, für wesentliche Ausschlüsse und hierarchische Gewichtungen der sozialen Welt blind blieb, mehr noch, sie im eigenen Vorgehen aktiv mit- bzw. weitertrug. Ihr Eingriff in die künstlerische Praxis reichte nicht weit genug, ­verfehlte deren Verfassung bzw. Vollzug. Das wird nicht nur an den vorausgesetzten Geschlechterverhältnissen deutlich, sondern im Kontext meiner Überlegung vor allem in der bedenkenlosen Wiederverwendung von rassistisch kodierten oder konnotierten Kulturpraktiken. Darauf spielt nicht zuletzt der Titel dieses Buches an: Tropen des ­Kollektiven. Horizonte der Emanzipation im Epischen Theater. Den von mir untersuchten Gruppen: Piscatorbühne, Truppe 31, Versuche-­Gruppe ist es gemeinsam, dass sie zwar ästhetisch-imaginativ die kapitalistische, Waren produzierende Gesellschaft überwinden und etwas anderes, Besseres denkbar machen wollen (darauf verweist »Horizonte«), aber anstatt dass die eigene Kollektivität, erweitert um all jene im Theater Anwesenden, zum Ankerpunkt seiner Antizipation wird, artikuliert sich Zukunft in den überkommenen produktivistischen Bildern (daher »Tropen«, Ersatzformen des Kollektiven). Die Piscatorbühne macht sich stolz zur Fabrik; mit der Truppe 31 eröffnet, wie gesagt, erst die Arbeit am Fließband die Aussicht auf die ­bessere Gesellschaft; die Versuche-Gruppe modelliert die eigene Kooperation – nach dem Vorbild der nicht-künstlerischen Arbeit – als Produzentengemeinschaft.

Im US-amerikanischen Forschungskontext, aus dem ich komme, wird man oft gefragt, worin der eigene Beitrag zum Forschungsfeld besteht. Lange habe ich diese Frage abgewehrt, weil ich in ihr nur den Zwang gesehen habe, die Existenz humanwissenschaftlicher Forschung in einer utilitaristischen Welt zu rechtfertigen. Mittlerweile erkenne ich ihre Berechtigung an. Wir, im weitesten Sinne ›literarische‹ Forscher*innen, sollten etwas beitragen und uns als Teil einer gesellschaftlichen Arbeit verstehen. Zurückweisen können wir nur den Anspruch, am ›Impact‹ der Natur- und Sozialwissenschaft gemessen zu werden. Gerade dass die Wirkungen unserer Forschung sich nicht einfach messen und in Zahlen ausdrücken lassen, ist ein Vorteil, den es zu verteidigen gilt. Es eröffnet uns den Freiraum, eher unmerklich und langfristig daran zu arbeiten, dass, ausgehend vom Unbehagen am Gegebenen, noch jene Horizonte der Emanzipation aufscheinen, die uns über das als falsch Erkannte hinausdenken lassen. Dies sehe ich also, noch einmal zusammengefasst, als meine wichtigsten Beiträge: Erstens, die Forschung zum epischen Theater beschränkt sich in der Regel auf Autoren und deren Texte, ich führe demgegenüber eine Reihe von Erweiterungen durch: Weniger der Text als die Aufführung zählt, nicht die Autoren, sondern das epische Theater als künstlerische Bewegung ist mein methodischer Ausgangspunkt, und diese Bewegung wiederum verstehe ich im Kontext der ersten künstlerischen Avantgarde.

Zweitens, die Debatte um die Kollektivität der Arbeit ist bisher vorrangig moralisch-juristisch geführt worden; die vielen Veröffentlichungen zu Brecht und seinen Mitarbeiter*innen sind gute Beispiele dafür. In solchen Debatten wird die individuelle Autorschaft, die es doch zu kritisieren gilt, grundsätzlich reproduziert: Es ist immer Brecht, der nicht genug einräumt oder immer schon sehr viel ermöglicht hat. Das Verhältnis Brechts zu seinen Mitarbeiter*innen wird selbst nicht als eines sich aus dem Arbeitsprozess erst ergebendes erfasst und auf seine produktionsästhetische Relevanz hin befragt. Dies aber möchte ich tun. Vereinfacht gesagt, wie schlagen sich Arbeitsweisen in ihren Hervorbringungen nieder? Was ist der Zusammenhang zwischen Arbeitsweise und ästhetischer Form? Was ermöglichen oder verunmöglichen Arbeitsweisen? Ich hoffe dazu beizutragen, die Diskussion auf solche Hinsichten zu verschieben.

Drittens, die Aufarbeitung der blinden Flecke unserer Avantgarde-­Helden hat gerade erst begonnen. Blindheit zeigt sich für mich etwa in einem oft auftrumpfenden, männlich kodierten Produktionswahn, der mit dem Selbstverständnis künstlerischer Tätigkeit als einer produktiven Arbeit einhergeht, oder im Mangel an Bewusstsein für die koloniale Geschichte, in die jedes Produzieren und ebenso das künstlerische der Avantgarde verstrickt waren. Dieses Buch diskutiert solche Aspekte. Schließlich mische ich mich in aktuelle marxistische Auseinandersetzungen ein, die um die Frage nach dem Wert des Kunstwerks und mithin dem politökonomischen Status der künstlerischen Arbeit kreisen. Gegenüber den vielen Ansätzen, die im Kern, so zeige ich, an einer Romantisierung der künstlerischen Arbeit als einer Schöpfung festhalten und in ihr eine bessere Form der Arbeit vorweggenommen sehen, mache ich den vielleicht provokanten Vorschlag, dass unsere Erfahrung von Kunst in der kapitalistischen Verfassung von Kunst die Bedingung ihrer Möglichkeit findet. Künstlerische Arbeit nimmt daher kein Anderes vorweg. Transzendenz kann allenfalls darin gefunden werden, dass Künstler*innen und ihr Publikum sich, indem ihnen die kapitalistische Verfassung von künstlerischer Tätigkeit – und nur darüber vermittelt die aller Arbeit – zur Erfahrung wird, im Sinne Immanuel Kants, »auf der Grenze«8 befinden, genauer, auf der Grenze zwischen dem Möglichen und einem Anderen, das aber nicht bereits benannt werden kann.

Zur Gliederung des Buches: Ich beginne mit der Auslegung eines Fotos und seines Begleittextes, die ich als Eingriff in den Autor-Werk-Zusammenhang interpretiere. Der Kontext dieses Eingriffes ist eine journalistische Fotoserie mit dem Titel »Künstler und Werk mit sich allein«, die 1927 in der Zeitschrift Uhu erschien. Hier wird das ästhetische Programm der Versuche-Gruppe, wahrscheinlich zum ersten Mal, praktiziert.

Anschließend situiere ich diesen Eingriff mit Blick auf das, was ich den epistemischen Produktivismus der Weimarer Zeit nenne, nämlich ein Denken und künstlerisches Arbeiten, das die Ankerpunkte für seine (revolutionären) Aussichten in der Vorstellung von den noch in Besitz zu nehmenden produktiven Möglichkeiten der Zeit findet.

Das dritte Kapitel ist ganz der Kapitalismuskritik des epischen Theaters gewidmet, am Beispiel der Piscatorbühne, der Truppe 31 und der Versuche-Gruppe. Exemplarisch diskutiere ich drei Aufführungen: Hoppla, wir leben! (Piscatorbühne, 1927), Die Mausefalle (Truppe 31, 1931), Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (Versuche-­Gruppe, 1929), und zwar mit Blick darauf, wie sie die kooperative künstlerische Arbeit und die Theatersituation selbst, die geteilte Anwesenheit, als Möglichkeiten des Kollektiven reflektieren und ­thematisch machen. Auch Friedrich Wolfgang Knellessen widmet sich in Agitation auf der Bühne (1970)9 in der Rubrik ›episches Theater‹ der Mausefalle und Hoppla, wir leben!, wenn auch unter ganz anderen Hinsichten. Ich habe seine Untersuchung spät entdeckt und einbezogen. Sie bestätigte mir die Berechtigung meiner Auswahl.

Die zuletzt genannte Aufführung Aufstieg und Fall der Stadt ­Mahagonny befrage ich schließlich daraufhin, mit welchen Mitteln und Materialien sie, ausgehend vom Selbstverständnis eines Produzenten-Kollektivs, ihre Kritik der Warengesellschaft formuliert. Ich identifiziere eine Reihe von Strategien, die ich, aus Ermangelung eines besseren Begriffes, racialization nenne. Kurz gefasst meint dies: Die Ware wird als Alterität (Otherness) ausgewiesen – durch ihre beständig mitlaufende Verflechtung mit einer vermeintlich ethnischen Alterität. Dazu werden rassistische Stereotypen der Weimarer Zeit affirmativ mobilisiert. Das letzte Kapitel, ein Ausklang, beschreibt, wiederum am Beispiel der Versuche-Gruppe, die über die Exilzeit weiterarbeitete, die Vertextlichung der expansiven Aktionsformen des Avantgarde-­Theaters. Am Textlichen erneuert sich, so meine These, die individuelle Autorschaft. Die Abfolge der Kapitel wird durch zwei Explorationen unterbrochen, die aus polit-­ökonomischer Perspektive den Wert des Kunstwerks und die Begriffe Kooperation und Kollektivität ­diskutieren.


1 Barthes, Roland: »J’ai toujours beaucoup aimé le théâtre ...«, in: ders.: Écrits sur le théâtre, Paris 2002, S. 19–22 (19): »J’ai toujours beaucoup aimé le théâtre et pourtant je n’y vais presque plus.« (Übersetzung M. R.).

2 Auch die anderen Merkmale, über die Fähnders Avantgarde versteht, treffen auf das epische Theater zu: Abgrenzung von der Tradition, Gruppenbildung, der Versuch, im Hier und Jetzt eines künstlerischen Vorgangs Zukunft zu antizipieren; vgl. Fähnders, Walter: Projekt Avantgarde, Bielefeld 2019, S. 30, 38.

3 Roberts, John: Revolutionary Time and the Avantgarde, London/New York 2015, S. 117.

4 Brecht spricht von einer »Ruhm(kredit)beschaffung für revolutionäre Kunst«, Brecht, Bertolt: [Gegen das ›Organische‹ des Ruhms. Für die Organisation], in: ders.: Werke. Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. XXI, hrsg. v. Werner Hecht/Jan Knopf/Werner Mittenzwei/Klaus-Detlef Müller, Berlin und Frankfurt a. M. 1992, S. 328 (im Folgenden mit Sigle BFA plus Band und Seitenzahl angegeben).

5 BFA XXI, S. 478–79 [Der Dreigroschenprozess].

6 Adorno, Theodor W.: [Ästhetische Theorie], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 7, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997, S. 139 (im Folgenden mit Sigle GS plus Band und Seitenzahl angegeben).

7 Adorno, GS 7, S. 250.

8 Kant, Immanuel: [Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik], in: ders.: Werke in zwölf Bänden, Bd. 5: Schriften zur Metaphysik und Logik 1, hrsg. v. ­Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977, S. 232 (§ 59).

9 Knellessen, Friedrich Wolfgang: Agitation auf der Bühne. Das politische Theater der Weimarer Republik, Emsdetten 1970.

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