Der Egoismus der Intellektuellen und die Angst der Linken
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Das Gespenst des Populismus – Ein Essay zur politischen Dramaturgie (01/2017)
Eine dialektische und materialistische Analyse könnte die Ideologie unserer Zeit begreifbar machen, so wie die Marxisten des 19. Jahrhunderts die Lüge der bürgerlichen Klasse enttarnt hatten. In den Dramen Henrik Ibsens konnte z. B. das einmal durchschaute Bürgertum für alle sichtbar vorgeführt werden. Hier ringen erfolgreiche Bürger um moralische Integrität und kämpfen gegen ihre Leichen im Keller. Gerade aufgestiegen, droht ihnen schon wieder der Abstieg, da ihr Eigentum auf Lügen basiert. Die Zuschauer verstanden, dass in einem kapitalistischen System nur der Erfolg hat, der über Leichen geht, und nur der erfolgreich bleibt, der seine unmoralischen Taten am besten zu verstecken weiß. Das ökonomische System produziert notwendig ein schuldiges Handeln und es gibt keinen unschuldigen Reichtum, da das Kapital des einen die Schulden oder der vorenthaltene Lohn des anderen sind. Die mit viel Energie betriebene Lebenslüge der bürgerlichen Klasse besteht darin, vor sich selbst und der Welt ein moralisch integres Leben vorzutäuschen, obschon man egoistisch von der Ungleichheit profitiert.
Das neoliberale Regime hat zu diesem Widerspruch die charakteristische Wendung der Postmoderne hinzugefügt. Zwar gilt noch immer, dass die ökonomischen Bedingungen ein schuldiges Handeln notwendig voraussetzen. Doch ist diese Schuld vollständig in den Bereich des Nichtmenschlichen verbannt worden. Heute lebt das liberale...