Vowort
von Barbara Engelhardt und Dagmar Walser
Erschienen in: Arbeitsbuch 2007: Eigenart Schweiz – Theater in der Deutschschweiz seit den 90er Jahren (07/2007)
Überschwang ist keine Schweizer Eigenart, umso erstaunlicher, dass vor ein paar Jahren der Begriff des "Schweizer Theaterwunders" aufkam, selbst unter Schweizern. Christoph Marthaler hatte im Jahr 2000 mit seinem Team die Leitung des Schauspielhaus Zürich übernommen, in Luzern sorgten Barbara Mundel und ihre Leute für Aufbruch und Aufregung, am Theater Basel waren Stefan Bachmann und die Seinen schon seit 1 998 am Werk. Das Theaterdreieck Zürich-Luzern-Basel wurde zu einem Label für einen Umbruch in der Schweizer Theaterlandschaft. Die Leitungswechsel gingen Hand in Hand mit ästhetischen Paradigmenwechseln, die Grenzen zur Freien Szene und anderen Kunstformen schienen so durchlässig wie nie zuvor. Das Publikum jubelte oder seufzte, man staunte oder erschrak über den ungewohnten Mut der Kulturpolitik, lokale Skepsis stand neben der erstarkten überregionalen Wahrnehmung des Schweizer Theaters.
Vielleicht hat gerade dieser Blick von außen dazu beitragen, dass das Schweizer Theater sich auch im eigenen Kontext in einem anderen Licht wahrgenommen hat. Und dass dabei die Frage aufkam, was dieser Erfolg mit einer spezifisch eidgenössischen Ästhetik zu tun haben könnte. Es mag vermessen, sicher auch verkürzend sein, heute Theater auf das Kriterium der Nation hin zu befragen. Denn man wird sich schnell einig sein: Eine spezifische Schweizer Theaterästhetik gibt es nicht. Schweizer Theaterschaffende arbeiten vernetzt, und zwar jenseits nationaler Grenzen. Statt einer Schweizer Kulturszene gehören sie eher einer deutschsprachigen Theaterlandschaft an, einer Landschaft also, die weniger durch nationale denn durch Sprachgrenzen strukturiert ist. So hat sich das Deutschschweizer Theater der letzten Jahren weniger an den Schweiz internen Unterschieden, etwa im Verhältnis zu den französischsprachigen Künstlerinnen, gerieben, sondern sich selbstbewusst in der gesamten deutschsprachigen Theaterlandschaft positioniert. Schweizer Theaterschaffende durchlaufen oft dieselben Ausbildungen wie ihre Kolleginnen im nahen (deutschen) Ausland, sie schulen sich an einer vergleichbaren Theaterrealität, sie setzen sich an denselben Häusern mit ähnlichen Texten auseinander, und es beschäftigen sie im Grunde dieselben gesellschaftlichen Fragen.
Dennoch ist Theater auch eine lokale Kunstform, aus der die spezifischen sprachlichen, regionalen und historischen Gegebenheiten nicht wegzudenken sind. Und so meint man bei aller Unterschiedlichkeit der künstlerischen Positionen in den Theaterarbeiten das eine oder andere typisch Schweizerische zu erkennen. Was sich hier durchaus als Klischee abtun ließe, wird doch immer wieder durch die eigene Beobachtung genährt: Typisch wäre da vielleicht eine Verschrobenheit, etwas Kauzig-Eigenbrötlerisches, das Atmosphären und solitäre Typen schafft. Ein spezifischer Humor, der sich oft musikalisch in eher subtilen Nuancen denn lauten Tönen vermittelt, der für deutsche Ohren schon allein im Schweizerdeutschen anklingt, oder sich auf die Tradition der Volkskultur besinnt. Auffallend wäre auch ein spielerisches Vergnügen an der Performance, in der Gesellschaftskritik nicht mehr als ein humorloses Nachdenken über die (Schweizer) Identität daherkommt. Oder die "Schweizer Tüftler", die selbstbewusst an neuen ästhetischen Formen basteln, in denen sich Dilettantismus und Perfektion nicht ausschließen. Und ganz offensichtlich hat ein allgemeiner Hang zu performativen Formen keineswegs verhindert, dass das Schweizer Theater heute auch von einer jungen Dramatikerinnenszene belebt wird.
Jede Art Pauschalisierung, und sei sie noch so vorsichtig formuliert, erfordert ein detailliertes Beobachten: Der Blick auf einzelne Wege und Handschriften lohnt sich deshalb - nicht um nach Gemeinsamkeiten zu forschen, sondern um je spezifische künstlerische Zugänge und Positionen im Kontext ihres Entstehens zu beschreiben. Was sich daraus ergibt, ist ein breit angelegtes Panorama von Künstlerinnen, Gruppen und Szenen. Es lassen sich zentrale Orte feststellen oder fruchtbare Randlagen beschreiben, es lassen sich historische Entwicklungen nachvollziehen und konkret Schlüsselinszenierungen erinnern.
Da war zum Beispiel 1991. Das Jahr an dem die Schweiz den 700. Geburtstag der Eidgenossenschaft feiern wollte. In Folge des kurz davor das Land aufschreckenden Fichenskandals, der die groß angelegten Spitzelaktivitäten des Schweizerischen Staatsschutzes aufdeckte, ging das Jubiläum mit einem nationalen Kulturboykott einher, ein wichtiger Schritt in der Entmystifizierung der Schweizer Politik. Als Theaterjahr startete 1991 in der Sylvesternacht mit dem Liederabend "Stägeli uf, Stägeli ab, juhee!" im Schweizer Buffet des Badischen Bahnhofs Basel, eine der ersten Arbeiten von Christoph Marthaler am Theater Basel, das in der Ära Baumbauer (1988-1993) von heute aus gesehen wie eine Keimzelle für nicht nur schweizerische Theaterentwicklungen wirkt. Und am Ende desselben Jahres hatte an Weihnachten die erste und Namen gebende Arbeit einer Basler Gruppe Premiere, "KLARA - ein Melodrama", die ebenfalls in einer auffällig eigenen Ästhetik auf alpenländische Geschichten und die helvetische Mentalität Bezug nahm.
Der Vorteil eines kleinen Landes ist, dass man sich kennt und austauschen kann. Die soziale Kontrolle, die Enge, die daraus resultieren, sind als ihre Schattenseite ebenso bekannt. So ist die Chiffre des Schweizer Künstlers, der nur im Ausland über das Mittelmaß hinauswachsen kann, in der Schweiz ebenso identitätsbestimmend wie die vermeintliche Freude über das Zurückkommen verlorener Söhne und Töchter. Christoph Marthaler war ein solcher. Stefan Bachmann auch. Beide haben die Schweiz nach ein paar Jahren engagierten Theatermachens wieder verlassen. Viele der in diesem Buch beschriebenen Theatermacherinnen kennen den Zwiespalt, im Ausland schlicht Künstler, in der Schweiz aber Schweizer Künstler zu sein. Und viele nehmen aus dem Schweizer Kontext ihre Inspirationen und finden hier oder dort ihre Geschichten. Nicht in erster Linie, weil sie Schweizerinnen sind, sondern weil ihre Geschichten genauso wie die eigene Wahrnehmung in sozialen und kulturellen Erfahrungen wurzeln, in den spezifischen Künstler bzw. Gruppenbiografien und Sozialisierungen, die nicht unabhängig von Ort und Zeit zu denken sind.
So sind es künstlerische Konstellationen, ästhetische Setzungen und kulturpolitische Kristallisationspunkte, die die Beiträge dieses Buches immer wieder zusammenführen. Dass es dabei um Vollständigkeit nicht gehen kann, liegt auf der Hand: Ein solches Unterfangen versteht sich in erster Linie als Bestandsaufnahme, die sich wie das Theater selbst dem Faktor Zeit weder entziehen kann, noch will. So ergibt sich im Rückblick auf die vergangenen anderthalb Jahrzehnte Schweizer Theater eine Vielfalt verschiedener Regie-Handschriften, die sich an gewissen Punkten kreuzen, abgleichen, engführen oder von einander abgrenzen lassen. In der losen Chronologie ihres Auftretens ergibt sich dabei auch der Blick auf unterschiedliche Generationen und Haltungen.
Die Autoren und Autorinnen der Beiträge haben in unterschiedlichen Funktionen das Geschehen der letzten Jahre begleitet, als Beobachterinnen, Vermittlerinnen, Dramaturginnen. Den einen, abgesicherten Blick auf die letzten 15 Jahre gibt es nicht, vielmehr ein Erinnern und Beschreiben aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Im Rückblick auf die Wurzeln, die auf eine spezielle Zeit zurückgehen, werden die heutigen Auswüchse betrachtet. Die kommenden Jahre werden darüber entscheiden, ob sich diese Sicht der Geschichte weitererzählen lässt - oder sich mit den jüngsten und anstehenden Intendantenwechseln bereits ein neuer Zyklus ankündigt.