Wir Hunde von SIGNA
von Theresa Schütz
Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)
Assoziationen: Österreich SIGNA Volkstheater Wien Wiener Festwochen
Bei Wir Hunde handelt es sich um eine Koproduktion der Wiener Festwochen mit dem Wiener Volkstheater 2016. Letzteres stellte SIGNA das alte Gründerzeithaus in der Faßziehergasse 5a im siebten Bezirk für die Produktionsdauer bereit. Vormals den Weberei-Betrieb Geyer-Wolle beherbergend, werden Räume des Gebäudes seit 1984 vom Volkstheater als Schauspielschule (bis 1996), als Maske, Büro, Archiv und Requisitenlager genutzt (vgl. Fiala, 2017, S. 10). Zahlreiche Zimmer mussten erst mal entrümpelt, Böden neu verlegt und Wände gestrichen werden, bevor die für die Aufführung relevanten Räume dann mit SIGNA-typischen Unmengen an alten Teppichen, Vorhängen, Stoffen und abgenutztem Mobiliar neuerlich bestückt werden konnten. Jeder Raum wird mit Teppichen, Gardinen, Möbeln, Stoffen und Requisiten entsprechend der Fiktion, den Rollen und möglichen Handlungsspektren detailverliebt ausgestattet. Dadurch entsteht auch für Wir Hunde eine komplexe Rauminstallationen, die bereits ohne die Bespielung von Performer*innen ihren eigenen ästhetischen Wert und ihre künstlerische wie narrative Kraft entfaltet.
In fast allen Arbeiten orientiert sich die Ausstattung an einer vom Kollektiv selbst entwickelten »Bleak«-Ästhetik, d. h. im Sinne der englischen Wortbedeutung, dass alles atmosphärisch eher düster, trostlos, öde und freudlos gehalten sein muss. Die Faustregel »[n]ichts, was nach 1984 hergestellt wurde, kommt in unsere Räume« (Köstler zitiert nach Burckhardt/Behrendt, 2008, S. 31)100 ist inzwischen – insbesondere bei Wir Hundeund Das halbe Leid – allerdings etwas gelockert worden. Wichtig ist und bleibt, dass alles, was in den Räumen zu finden ist, bereits gebraucht sein muss. Die meisten Einrichtungsgegenstände werden auf Flohmärkten erworben, aus Wohnungsauflösungen bezogen oder gar aus dem Müll der Überflussgesellschaft herausgesammelt und damit gleichsam recycelt und neu valorisiert. Die Materialität der Dinge spielt dabei eine entscheidende Rolle. Schließlich werden die Gebrauchsspuren, die die Dinge tragen, im Zuge der Inszenierung fiktionalisiert und narrativiert, damit sie für die Figuren während der Aufführung als Teil ihres Wohnraums und damit auch als Erinnerungsträger ihrer fiktiven Lebensgeschichten anspielbar werden. Mit der Ästhetik von »Bleak(ness)« ist immer auch ein bestimmtes Farbkonzept verbunden, das – wie auch bei Wir Hunde – gedeckte Braun-, Beige- und Creme-Farben sowie Pastelltöne bevorzugt.101 Sie umfasst zudem auch Dimensionen von Aussehen und Geschmack der gereichten Speisen und Getränke102 sowie die Ebene sprachlichen Ausdrucks, d. h., dass es vorab bestimmte Wortgruppen oder Sprachen gibt, deren Verwendung ausgeschlossen wird, wodurch – ähnlich wie in Das halbe Leid – auch ein bestimmtes, eher prekär lebendes, soziales Milieu miterzählt wird.
Zur Premiere ist das Gebäude – wiederum durch monatelanges Zusammenleben, Wohnen und Arbeiten aller Beteiligten – in das Vereinshaus des fiktiven Vereins »Canis Humanus« transformiert worden. Es beherbergt insgesamt sechs Familien auf drei Etagen, dazu gibt es einen Versammlungsraum im obersten Stock sowie einen Zwinger im Erdgeschoss. Der von Graf Sigbert Trenck von Moor gegründete Canis Humanus e.V. (dt. Verein für »Menschenhunde«)103 lädt von Mai bis Juni 2016 im Rahmen seines vierzigjährigen Jubiläums zu einer Reihe von Tagen der offenen Tür in das Vereinsgebäude.104 Die Gemeinschaft, die hier und z. T. auch in einem größeren Gutshaus in Warchau bei Wusterwitz in Brandenburg lebt, besteht aus insgesamt sieben Familien, in welchen Menschen mit sogenannten Hundschen zusammenleben. Hundsche sind eine Transspezies – es handelt sich dabei um Hunde, die im Menschenkörper geboren wurden.
Gegenwärtig steckt der Verein in einer Krise. Abgesehen von dem äußerst schlechten Gesundheitszustand des Gründers infolge eines Schlaganfalls fehlt es dem Verein zunehmend an finanziellen Mitteln. Ganz zu schweigen von der gesellschaftlichen Ausgrenzung, welcher sich die Mitglieder Tag für Tag ausgesetzt sehen. Denn Hundsche werden von der Mehrheitsgesellschaft nicht anerkannt. Dies führt dazu, dass die Familien, die sich mit ihren Hundschen in die Öffentlichkeit wagen, mit schlimmsten Anfeindungen und Diskriminierungen konfrontiert werden, die z. T. so weit gehen, dass die Hundsche als Geisteskranke pathologisiert und ihren »Herrlis« und »Fraulis« weggenommen werden. Die Tage der offenen Tür haben also zum einen das Ziel, den Verein einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen und für die Anerkennung der Transspezies Hundsch zu werben, indem man sich von ihrem Leben ein eigenes Bild verschaffen kann. Zum anderen geht es auch darum, finanzielle Unterstützer*innen zu gewinnen, die sich für den Verein längerfristig einsetzen wollen. Für die Tage der offenen Tür sind fast alle Familien zusammengekommen, um sich ihren Gästen – und damit uns Zuschauer*innen – vorzustellen. Man erfährt, dass es auch Familien gibt, die es nicht nach Wien zum Tag der offenen Tür geschafft haben. Das Gleiche gilt für eine Reihe von Hundschen. Insgesamt umfasst der Verein knapp 30 Menschen und 35 Hundsche.
Jeder Hundsch weist hinsichtlich seines Verhaltens variierende Ausprägungen hündischer und menschlicher Anteile auf, wenngleich die Anatomie bei allen menschlich ist. Entscheidend ist, dass Hundsche und Menschen im Verein gleichwertig, aber nicht gleichberechtigt sind. Es ist vorgesehen, dass sich der Hundsch unterordnet. Weil junge Hundsche oder jene, die erst seit Kurzem erkannt haben, als Hundsch leben zu wollen, für das Zusammenleben bestimmte Regeln lernen müssen, gibt es im Gebäude den sogenannten Zwinger. Der Großherzigkeit des Grafen sei es zu verdanken, dass ausgerechnet zur Zeit der Tage der offenen Tür auch die beiden (Wolf-)Hundsche Nina und Pascoal in einer hinteren Nische im Zwinger unterkommen dürfen. Sie leben nicht offen als Hundsche und treten den Menschen äußerst aggressiv und hassbeladen entgegen. Um Ausschreitungen zu vermeiden, wurde deshalb beschlossen, dass man Nina und Pascoal als Gast nur mit einem Elektroschocker einen Besuch abstatten darf.
Ein jeder Tag der offenen Tür folgt einer Grundstruktur: Die Gäste werden kurz nach der Ankunft im Mezzanin begrüßt. Dann haben sie Zeit zu entscheiden, welche Familien sie näher kennenlernen wollen. Es gibt stets vier feste Veranstaltungsformate zu festgelegten Zeiten im Großen Saal, die für alle Gäste offen sind: 20:15 Uhr »Sind Sie Herrchen?«, 21:15 Uhr »Lieder aus dem Hundscheleben«, 22:15 Uhr »Sind Sie Hundsch?« und 23:15 Uhr »Musik zum Träumen und Trauern«. Darüber hinaus bekommt jeder Gast ein Zeitfenster zugewiesen, in dem er sich unter Aufsicht der Angestellten den Zwinger anschauen darf. Um die Nachtruhe zu wahren und etwas Zeit zu haben, sich für den kommenden Tag der offenen Tür zu akklimatisieren, werden die Gäste gebeten, das Vereinshaus um 24:00 Uhr zu verlassen. Dem geht allerdings noch die wichtige Option voraus, Freund*in des Vereins zu werden. Wer dies möchte, hinterlässt seine persönlichen Daten und wird mit einer jeweils in den verschiedenen Familien leicht variierenden, rituellen Begrüßungszeremonie in den Freundeskreis von Canis Humanus aufgenommen und dann verabschiedet. Jedem Freund/jeder Freundin steht danach frei, Kontakt mit den Vereinsmitgliedern aufzunehmen. So können z. B. individuelle Termine105 ausgemacht werden, um sich auch außerhalb des Vereinsgebäudes und der Tag-der-offenen-Tür-Struktur zu treffen, um gemeinsam etwas zu unternehmen (z. B. Eisessen, Kaffeetrinken, Spazierengehen) und sich dadurch noch besser kennenzulernen.
Wichtige Inspirationsquellen für die eklektische Fiktionsentwicklung von Wir Hunde waren Filme von Ulrich Seidl – insbesondere Tierische Liebe (1994) – ebenso wie Der Hund, der »Herr Bozzi« hieß von Ladislao Vajda (1957), Der Wolfsjunge von François Truffaut (1970) sowie Dogtooth von Giorgos Lanthimos (2008). Für die Verkörperung der fiktiven Transspezies waren diejenigen Darsteller*innen mit zugeteilter Hundsch-Rolle angehalten, sich eingehender Wirklichkeitsergo Hundebeobachtung oder wahlweise auch der intensiven Sichtung ausgewählter YouTube-Videos zu Hundepsychologie zu unterziehen, um hündisches Verhalten mimisch wie gestisch so genau wie möglich nachahmen zu können.106
100 Signa Köstler hat über die Jahre eine Checkliste erstellt, die als verbindliche Richtschnur und »Manual« an neu dazu stoßende Ausstattungshospitant*innen oder Performer*innen, die die Räume ja z. T. selbst mitgestalten, ausgegeben wird.
101 Beim Heuvolk gibt es für SIGNA-Verhältnisse allerdings auch viele bunte, kräftigstrahlende Farben, was sie produktionsintern als »new bleak« bezeichnen.
102 Hierzu zählen z. B. der abgestandene Fruchtsekt sowie ungetoastetes Weißbrot mit Thunfisch und/oder Remoulade bei der Begrüßung oder die blassgrauen Schokowaffeln oder weißen Gummitiere, die in den Wohnungen für Gäste bereitstehen.
103 Sigbert Trenck von Moor hatte sich seinerzeit in die Menschenhündin Mimi verliebt und beschlossen, mit ihr gemeinsam zu leben. Dies brachte ihm neben seinem Sohn Patritz auch den Ruf eines »Sexgrafen« ein, weshalb sich die Familie fortan weitgehend in gesellschaftlicher Isolation bewegte. Als Mimi in einem Feuer ums Leben kam, das offenbar vorsätzlich gelegt wurde, siedelte Sigbert daraufhin nach Wien über, wo sich nach und nach immer mehr Hundsche bei ihm meldeten. Dies führte 1976 zur Gründung des Vereins.
104 Wie auch schon bei Das Heuvolk besteht ein Verhältnis der site-sympathy zwischen realem und fiktionalisiertem Gebäude, insofern Graf Trenck von Moor das Gebäude 1975 erworben haben soll, also in dem Jahr, in dem die dort zuvor real ansässige Weberei ausgezogen war, vgl. Fiala, 2017, S. 10. Freda Fiala bezeichnet dieses Verfahren auch als »Überantwortung der Lokalität an die Fiktion« (ebd.).
105 Das sind in der Welt der Performance-Macher*innen die »Special Hours«. Laut Information von Arthur und Signa Köstler fanden bei Wir Hunde im Zeitraum vom 21. Mai bis zum 18. Juni 2016 18 solcher Special Hours statt. Von den fünfzig an Wir Hunde beteiligten Performer*innen machten 23 ein bis zwei Special Hours mit. Marie S. Zwinzscher alias Viki Saborowski hat Zuschauer*innen fünf Mal außerhalb der Spielstätte getroffen und damit am meisten Special Hours absolviert. Einige wenige Special Hours – insbesondere für wiederkehrendes Publikum – gab es auch bei Das Heuvolk in Mannheim sowie im Rahmen von Das halbe Leid in Hamburg. Davon berichteten mir einige der interviewten Zuschauer*innen.
106 Diese Informationen stammen aus den Unterlagen von Signa Köstler.