Protagonisten
Tarantino fürs Theater
Mit Poesie und Politik in die Gegenwart – Kathrin Mädler ist die neue Intendantin am Landestheater Schwaben in Memmingen
Erschienen in: Theater der Zeit: Wie es euch gefällt – Christian Friedel vertont Shakespeare (12/2016)
Assoziationen: Akteure Kathrin Mädler Landestheater Schwaben
Ein Stern ist aufgegangen über Memmingen. Das neue Logo des Landestheaters Schwaben ist fünfzackig, wie der rote Stern, der den Menschen den Weg in eine bessere Welt weisen sollte. Nur ist er in diesem Fall nicht rot, sondern im Rautenmuster funkelnd, schwarzweiß zwar, aber an die bayerische Flagge muss man schon auch denken, wenn man ihn sieht.
„Der Stern“, erklärt Kathrin Mädler, die neue Intendantin in der 43 000-Einwohner-Kleinstadt im schwäbischen Teil Bayerns, „hat für mich eine doppelte Bedeutung. Er steht für die Magie, die Poesie und das Lebendige von Theater, das die Menschen nach wie vor auf eine Weise berühren kann wie keine andere Kunstform – davon bin ich überzeugt! Er steht aber auch für ein kämpferisches, politisches Theater, das wir hier natürlich auch machen wollen. Ein Theater, das sich mit der Welt auseinandersetzt, in der wir leben.“
Mädler sitzt in ihrem Büro, an den Wänden Inszenierungsfotos ihrer früheren Stationen als Dramaturgin und Regisseurin (v. a. Nürnberg und Münster), die darauf warten, bald von Memminger Theaterbildern ersetzt zu werden. An der Türe außerdem ein Filmposter: Quentin Tarantinos „Kill Bill“. Könnte auch das Theater etwas Tarantino vertragen? „Unbedingt!“, sagt Mädler lachend. Es ist ein Lachen voll ansteckender Zuversicht, und ihre Antwort ein Bekenntnis: „Ich liebe Tarantino. Ich liebe die Kraft, die in seinen Filmen steckt. Und auch die Härte, mit der man erzählen sollte.“
Mädler macht dabei nicht den Eindruck, als würde sie als One-Woman-Killer-Kommando durchs Haus fegen und Tabula rasa machen für den Neuanfang. Teile des angestammten Ensembles hat sie beispielsweise behalten, nur einen Schwung neuer Schauspieler dazu geholt. Wie das eben bei Intendanz-Wechseln gang und gäbe ist. Erneuernde Energie und etwas Zupackendes strahlt die 40-Jährige aber schon aus. Mit ihrem Veränderungswillen ist sie am rechten Ort. Unter Vorgänger Walter Weyers, der fast 20 Jahre amtierte, dämmerte das Landestheater Schwaben zuletzt in einer Art Dornröschenschlaf vor sich hin und bediente mit Projekten wie der Heavy-Metal-Oper „Kanaan – Die Geschichte des Abraham“ bestenfalls angestaubte Avantgarde-Klischees (siehe TdZ 12/2014). Höchste Zeit, dass jemand das Haus wachküsste.
Zur Eröffnung ihrer Intendanz inszenierte die neue Chefin selbst Henrik Ibsens „Peer Gynt“. Nicht unbedingt die originellste Stückwahl, aber erklärte Herzensangelegenheit von Mädler. Und durchaus der passende Text für ein Theater, das sich gerade eine neue Identität gibt, geht es doch auch in dem fast 150 Jahre alten „dramatischen Gedicht“ um eine Selbstfindung: die des Titelhelden. Mädler zeigt ihn als multiple Persönlichkeit und stellt gleich drei Peers auf die Bühne. Sandro Šutalo ist der naiv-ungestüme Pummel-Peer der jungen Jahre; der in Physiognomie und Körperlichkeit an Ben Becker erinnernde Jens Schnarre gibt sein viriles, draufgängerisches älteres Alter Ego, einen Parvenü mit Proll-Appeal; Aurel Bereuter schließlich spielt den nachdenklichen Heimkehrer-Peer, der ernüchtert auf seine Lebensreise zurückblickt. Allein dieses tolle Trio macht die Inszenierung sehenswert. Erfreulich auch, dass Mädler im Gegensatz zu vielen Regisseuren nicht der Versuchung erliegt, das Stück als bunten Bilderbogen auszumalen. Die betont nüchterne Bühne (Mareike Delaquis-Porschka) sieht aus, wie von der Vorgänger-Intendanz unaufgeräumt hinterlassen. Überall Müllsäcke. Dazu eine abgestürzte Sesselliftkabine und ein einsamer Seilbahnmast. Mädler erzählt von einem Peer aus armen Verhältnissen, dessen Aufstiegsträume sehr heutig anmuten – eine dezidiert zeitgenössische Figur. Sie erzählt aber auch davon, wie sich Sehnsucht zu Großmannssucht auswächst, die in Peers Satz gipfelt: „Gier wird unsere Scheißwelt retten!“ Mit dieser Gier schwingt sich Peer zum koksenden Kapitalisten auf und bringt es zu Geld und Geltung. Das Glück aber, dem er in aller Welt nachjagt, bekommt er nicht zu fassen. Es wartet daheim auf ihn in Gestalt des Mädchens Solveig. In Memmingen berührt „Peer Gynt“ einerseits als zeitlose Geschichte vertaner Lebenschancen. Und erzählt andererseits auch viel über die geplatzten Hoffnungen unserer Gegenwart, die sich nur mehr am Materiellen festmachen und daran scheitern. So ist Mädler zum Auftakt eine Sternstunde im Sinne ihres funkelnden Logos gelungen, Poetisches wie Politisches gleichermaßen.
„Ich glaube daran, dass Theater Gegenwartskunst ist“, sagt Mädler. Dass sie die Gegenwart in klassischen Stoffen wie Ibsens „Peer Gynt“ aufspürt, stellt aber eher die Ausnahme dar. Auf dem Spielplan ihrer ersten Spielzeit wimmelt es vor zeitgenössischen Texten und Projekten. Ob das Memminger Publikum bei so viel unbekannten Namen mitziehen wird? Immerhin befinden wir uns hier ja in der sogenannten Provinz. Für Kathrin Mädler jedenfalls besteht kein Zweifel: „Man hat die Pflicht, mutig zu sein. Und man darf sein Publikum nicht unterschätzen. Vielleicht braucht es ein bisschen Geduld, um die Leute zu überzeugen, dass das, was wir machen, mit ihnen und ihrem Leben zu tun hat. Aber ich bin sicher, dass wir mit diesem Spielplan eine Chance haben.“ Im Gegensatz zu Peer Gynt scheint Mädler nicht gewillt, Chancen zu verkennen und sausen zu lassen.
Deshalb folgte einen Tag nach der Ibsen-Premiere im Großen Haus gleich Gegenwartsdramatik – die Uraufführung von Laura Naumanns „Zwischen den Dingen sind wir sicher“ im Studio. Und nur ein Wochenende später, auf der Hauptbühne, dann eine Adaption von „Alles, was wir geben mussten“, Kazuo Ishiguros Roman über Klonkinder, die im Reagenzglas gezeugt werden, um im Erwachsenenalter als Organspender buchstäblich ausgeschlachtet zu werden. Bis es soweit ist, wachsen sie in einer speziellen Schulanstalt auf, wo sie sich streiten, verlieben und pubertieren, wie andere Teenager auch. Das Buch aus dem Jahre 2005 liest sich ein wenig so, als hätte Aldous Huxley einen dystopischen Internatsroman geschrieben. Mehr noch als die ethische Problematik (die sich bei den Themen Reproduktionsmedizin und Organspende aufdrängt) verhandelt „Alles, was wir geben mussten“ allerdings die Frage, was ein erfülltes Leben ausmacht. Ähnlich wie „Peer Gynt“ also. Nur dass sich diese Frage bei Ishiguros todgeweihten Protagonisten unter verschärftem Lebenszeitdruck stellt.
Für das Landestheater Schwaben hat Regisseur Thomas Ladwig selbst die Bühnenfassung des 2012 verfilmten Romans erstellt. Sie wirkt wie eine Mischung aus Buch und Film. Immer wieder wenden sich Figuren in direkter Ansprache ans Publikum, als wäre es eine Lesung. In den Spielszenen zwischen diesen Erzählpassagen muss kino-konventionelle Musik für atmosphärisches Filmfeeling sorgen. Ausgerechnet was die Länge angeht, lässt Ladwigs Inszenierung jedoch die Treue zum 90-Minuten-Spielfilm-Standard vermissen. Zweieinhalb Stunden dauert der Abend – im Theater ja eigentlich nicht viel. Hier aber beschleicht einen am Ende das Gefühl, viel unerfüllte Lebenszeit abgesessen zu haben, angesichts des allzu ausführlich geschilderten Internatsalltags im von Milchglasscheiben umgrenzten Wartesaalambiente der Bühne von Ulrich Leitner. Ehe die Handlung endlich an dem Punkt angekommen ist, da sie interessieren könnte, ist man bereits ermattet wie nach sechs Stunden Frontalunterricht. Aber gut, das Theater kann nicht nur Wunder vollbringen – auch wenn die neue Intendantin des Landestheaters Schwaben das neue Sternenlogo noch durch das Motto „O Wunder!“ ergänzt hat. Im Spielzeitheft schreibt sie: „Wir dürfen nicht auf Wunder warten, wir selbst müssen sie geschehen machen, jetzt. Und was könnte ein besserer Ort dafür sein als das Theater? Hier geben wir uns nicht mit dem zufrieden, was ist; hier erfinden wir, was sein könnte. Eine Welt, die anders ist – strahlender, verrückter. Und vielleicht tragen wir dann etwas von dem, was wir auf der Bühne erträumen, in die Realität hinein …“
Man könnte diese Hoffnung als naiv abtun. Aber wieso dann überhaupt ins Theater gehen? Der neue Stern über Memmingen soll den Menschen nicht nur den Weg in eine bessere (Theater-)Welt weisen. Er ist auch Ansporn für das Landestheater Schwaben selbst, täglich das Unmögliche zu versuchen und die Sterne vom Himmel zu holen. „Drunter machen wir’s nicht!“, sagt Kathrin Mädler. Gut so. //