Theater der Zeit

... eigentlich könnte alles auch anders sein ...

von Sven Grunert

Erschienen in: Das große kleine Theaterwunder – 25 Jahre kleines theater Kammerspiele Landshut (10/2017)

Assoziationen: Bayern kleines theater - Kammerspiele Landshut

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… eigentlich könnte alles auch anders sein …

Eigentlich wollten wir nur ein Stück lang, ein Stück weit bleiben in Landshut, einen Sommer lang, um im Herbst weiterzuziehen. Der Thespiskarren machte 1992 Halt in einem Hinterhof in der Neustadt, Hausnummer 455. Wir spielten das Stück „Liebe Jelena Sergejewna“ von Ljudmila Rasumowskaja. Am Anfang standen das Licht unserer Bühne, unsere Fantasie und ein sich drehender Rundvorhang, den die Schauspieler mit den Händen bewegen konnten. So begannen wir unsere Kreise zu ziehen.

… eigentlich könnte alles auch anders sein …
Alles war ein offenes Experiment. Nach unseren ersten Erfahrungen an städtischen Bühnen gab es für uns junge Theatermacher in unserer Kunst nur ein Weiterkommen durch die Gründung eines eigenen Theaters. Ein Theater, das dadurch entsteht, indem man es macht. Anstatt Stadttheater, das wir als StattTheater empfanden, wollten wir freies Theater spielen. In einem StattTheater auf der Probebühne im zweiten Untergeschoss zu arbeiten, machte uns die Suche nach einem eigenen autonomen Theatererleben unmöglich. Theater ist eine Haltung, Theater ist Tun, Theater ist Handeln. Handeln kann sich nur dort realisieren, wo die Dinge auch anders sein könnten. Die Entscheidung für eine bestimmte Möglichkeit des Handelns setzt voraus, dass es einen Spielraum offener Möglichkeiten gibt. Theater ist Kunst. „Die Kunst, ein Mensch zu sein“ (Martin Kippenberger). So wurde unser kleines k geboren, das kleine theater, in dem sich unsere Ideen, die Poesie, das Wandelbare, die Vorstellung manifestierten, dass alles auch ganz anders sein könnte. Das war: der Beginn, der Aufbruch, die Genese, der Gründungsgedanke.

… eigentlich könnte alles auch anders sein …
Der Augenblick der Entscheidung „ist ein Wahnsinn“. Beat Fähs „Sommernachtstraum“-Adaption „Rose und Regen, Schwert und Wunde“ stand für mich in den 1980er Jahren für eine Ästhetik der Erneuerung. Radikal, minimalistisch, heutig: So begann ich das Theater zu sehen, das ich machen wollte. Ein Theater frei von Ideologie. Laut Peter Brook beginnt Theater, wenn ein Schau spieler über die Bühne geht und ihm jemand dabei zusieht. Theater pur, daran glaubten wir, die Argonauten der ersten Stunde: Odile Simon, Matthias Kupfer, Yvonne Frey, Léonie Thelen, Stefan Walz.
Als ich Anfang der 1990er Jahre mit einer Handvoll spielwütiger Schauspieler nach Landshut kam, waren wir alle erfüllt von diesem Atem und Hauch des Anar chischen. Wir wollten poetisches Theater machen. Theater sollte emotionalisieren, aber auch über die Gegenwart reflektieren und sich in seiner Zeit widerspiegeln. So gründeten wir in enger Zusammenarbeit mit der Stadt Landshut und einem eigens gegründeten Trägerverein das kleine theater Landshut. Wir dachten an das Wooster- Group-Ensemble und das Living Theatre in New York, aber auch Goldoni und Molière inspirierten uns in ihrem rebellischen Geist, in dem sie zu ihrer Zeit Gegenwartstheater gemacht haben. So stellten wir uns gegen vorgefasste Meinungen und rissen gewohnte Vorstellungen ein: Wir suchten alles in der reinen Form, in der klaren Form des Spiels. Wir dachten an das Piccolo Teatro in Mailand, an Kasimir Malewitsch und sein „Schwarzes Quadrat“, die Chaostheorie herrschte im Zeitgeist. Wir versuchten, das Chaos als höchste Ordnung zu begreifen. Wie lautet die größte und wie die kleinste Zahl?
Wir dachten an Dan Flavins neue Lichträume, James Turrells Lichtexperimente und Yves Kleins monochrome Reduktion. Das Spiel selber wurde Konzept unserer Theaterforschung. Das Spiel in seiner Vernetzung, in seiner Sichtbarmachung. Wir entdeckten Theater als Sprache und suchten neue Worte, neue Konnotationen. Räume des Möglichen im Spielraum offener Möglichkeiten unseres kleinen k. Und alles mit dem alten „Was wäre, wenn …“. Im Spiel sahen wir ein grundsätzliches Axiom unserer Kultur, unseres Menschseins. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Friedrich Schiller) Es waren Schillers Worte, die uns Pate standen. Unser Leitsatz war, das Theater als größte Erfindung menschlicher Kommunikation zu behaupten.
Wir sahen im Spiel tatsächlich einen Raum der Entwicklung, einen Raum der Freiheit, einen Raum der Evolution. Poetisch, politisch, provokant. Unsere gedanklichen Helden waren Johan Huizinga und sein Homo ludens, Giorgio Strehler und sein menschliches Theater, Peter Brook und sein leerer Raum, Max Reinhardt mit seinem kleinen Theater und Bruce Nauman mit seiner Performancekunst. Wir wollten uns in unserer Kunst und Kultur immer wieder neu überdenken, mit Lust und Spielfreude. Das k-Konzept: Wer nicht die Kleinheit großer Dinge in sich spürt, wird auch nicht die Größe des Kleinen im anderen sehen. „Il piccolo è un grande prigione ma com’è bello.“ (Giorgio Strehler). Das Kleine ist ein großes Gefängnis, aber wie schön. Die Leere im leeren Raum, die man füllt mit Prallem, Lebensfrohem, Fantasievollem, Emotionalem, Sinnlichem, Poetischem, Lautem, Leisem … Auch mit Geschehenem, Gewesenem, Kommendem, Seiendem. Unsere theatrale Suche galt dem Minimalismus, dem Rhythmus und der Reduktion.
Der Regisseur Giorgio Strehler, Gründer des Teatro Piccolo di Milano, der mich auf vielen inneren Reisen begleitet hat, sprach einmal von dem großen Glück, das wir als Künstler haben. Wenn eine gute Idee gelingt, bleibt etwas zurück für die Zukunft. So erfinden wir heute das Morgen. Ein schöner Gedanke, aber er erzählt auch von der Verantwortung, die wir haben für das, was bleibt, eine Verantwortung für die Welt von morgen. Eine Welt, in der wir leben können und wollen im Spielraum offener Möglichkeiten. Unser Experiment kleines k geht weiter.

… eigentlich könnte alles auch anders sein …
Solange der Vorhang aufgeht, verspricht die Welt, die sich dahinter befindet, eine andere zu werden. Der Vorhang gibt Raum frei, ist Symbol, Formel, Bedeutung, Utopie und Vorstellung. Der Vorhang ist ein Versprechen, eine Vorstellung von einer gemeinsamen Welt, die wir mit unserem Publikum teilen können im Angesicht der Gegenwart.
Ich glaube, dass etwas bleibt von dem, was wir auf der Bühne zeigen. Ich glaube an die Kraft des Theaters, ich glaube an die dionysische Kraft der Poesie, an den Zauber des Augenblicks, an die Verwandlung und an den Vorhang, der dies immer wieder verspricht. Denn eigentlich könnte alles auch anders sein.

Ohne unser Publikum, ohne das besondere Engagement der Stadt Landshut und die Unterstützung des Bayerischen Staatsministeriums für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst hätten wir das alles nicht erreicht. Mein ganz besonderer Dank gilt aber dem Ensemble und allen meinen Mitarbeitern, dem Trägerverein und seinem Vorstand, allen Freunden und Mitstreitern und Wegbegleitern und meiner Familie. Freuen wir uns auf weiteres lustvolles und experimentelles Theater. Lebendig und wirkungsvoll! 25 Jahre kleines theater Landshut! ZwischenZeit!

Landshut, September 2017

Peter Zimmermann: „eigentlich könnte alles auch anders sein“, 1998

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