Auftritt
Baden-Baden: Das Schweigen der Intellektuellen
Theater Baden-Baden: „Kinder der Sonne“ von Maxim Gorki. Regie und Bühne Otto Kukla, Kostüme Annie Lenk
von Elisabeth Maier
Erschienen in: Theater der Zeit: Götterdämmerung – Polen und der Kampf um die Theater (10/2017)
Assoziationen: Theater Baden-Baden
Jelena riskiert ihre eigene Gesundheit, als sie sich um Cholerakranke kümmert. Mit der selbstlosen Frau des Chemikers Protassow klammerte sich der russische Dramatiker Maxim Gorki im Stück „Kinder der Sonne“ krampfhaft an ein positives Menschenbild. Doch seine Wirklichkeit sah ganz anders aus. Den Text, der tragische und komische Elemente verknüpft, schrieb der Literat 1905 im Kerker der Peter-und-Pauls-Festung in Sankt Petersburg. Nach dem sogenannten Blutsonntag kam er, wie viele andere, in Haft. Damals schlugen Militärs eine friedliche Demonstration von Arbeitern auf dem Weg zum Winterpalast nieder. Die Soldaten des Zarenreichs erschossen bei dieser Kundgebung im vorrevolutionären Russland Hunderte Menschen. Und die Intellektuellen sahen tatenlos zu.
Gorkis Wut über das Versagen der Gelehrten ist in der Tragikomödie herauszulesen. Die Menschen, die einander fremd bleiben, verbindet das Schicksal einer schrecklichen Epidemie. Regisseur Otto Kukla reduziert das sperrige Stück am Theater Baden-Baden konsequent auf die Konflikte zwischen Intellektuellen. Seine Inszenierung basiert auf der arg gestrafften Fassung der Dramaturgin Sonja Anders, ins Deutsche übertragen von Ulrike Zemme. 2010 hatte Regisseur Stefan Kimmig diese Version am Deutschen Theater in Berlin in Szene gesetzt. Obwohl diese aktuelle Fassung die soziale Tiefenschärfe des Textes verwischt, gelingen Kukla mit dem Ensemble starke Charakterstudien. Annie Lenk hat moderne, zeitlose Kostüme kreiert, welche die gegenwartsnahe Lesart unterstreichen.
Ganz nah holt Crescentia Dünßer die Protagonistin Jelena in die Gegenwart. Sie lässt ihre von Gorki eher verkopft angelegte Figur ganz Frau und frustrierte Liebende sein. Zugleich demontiert sie die Aura der Menschenfreundin, die ihre Figur umgibt. Ihre Interpretation der Jelena zeigt, dass sie ihr vom Ehemann geprügeltes Ego streichelt, indem sie Kranken hilft. Der eigenen erotischen Ausstrahlung bewusst, steht sie vor dem Publikum und träumt von einer besseren Welt. Diese Illusion zertrümmert der Hausmeister Jegor, den Patrick Schadenberg als polternden Proletarier zeigt. Dessen Frau stirbt – und er prügelt noch auf sie ein. Doch zu wenig spürt der Schauspieler der menschlichen Seite von Jegor nach, des einzigen in dieser Fassung verbliebenen Mannes aus der Arbeiterschicht. Die Chance, die ihm entgegenschlagende intellektuelle Arroganz zu entlarven, nutzt Schadenberg nur bedingt.
Umso überzeugender reißt Kuklas Regie die falsche Fassade der geistigen Elite ein. Der Chemiker Protassow verheddert sich im Kokon seiner Forschung. Seine Arbeit könnte helfen, die Cholera zu besiegen, doch dazu ist er zu weltfremd. Rauschebart und entrückter Blick prägen Sebastian Mirows eitlen Forscher. Seine Frau nimmt ihm die Last des Alltags ab, doch er nimmt sie kaum wahr. Gerne lässt er sich von der liebeshungrigen Melanja bezirzen, die Catharina Kottmeier ironisch-distanziert zeigt. Mit dem Maler Wagin, ein arroganter Schnösel, dargestellt von Oliver Jacobs, zelebriert Protassow die Hilflosigkeit der Intellektuellen. Diese Kinder der Sonne finden nichts als den Tod. Denn vom wahren Leben haben sie nicht die leiseste Ahnung. Otto Kuklas Bühne ist von offenen Wohnzimmerschränken umgeben. Dahinter lauert ein hellgrüner Dschungel von Schlingpflanzen. Wie Möbelstücke behandelt auch der Chemiker seine Mitmenschen. Selbst seine kranke Schwester Lisa nimmt der Ignorant nicht wahr. Schön porträtiert Constanze Weinig diese fragile, gebrochene Kindfrau, die verzweifelt um ein erfülltes Leben ringt.
Obwohl die radikale Reduktion Kuklas auf Zimmerschlachten der Intellektuellen die Schauspieler zu großen Leistungen beflügelt, hängt die Inszenierung politisch im leeren Raum. Zwar rücken die Menschen, die der kluge Sozialist Gorki ersonnen hat, beklemmend nah an heutige Zeiterfahrung heran. Die halbseidenen historischen Anspielungen aber gehen oft daneben – etwa, wenn von den Cholera-Aufständen im Jahr 1892, die Gorki im Stück verarbeitet, nur die Angst vor einer „Grippe“ übrig bleibt. Schärferes Verorten im sozialen Kontext wäre Gorki eher gerecht geworden. //